Biblische Lehre dient der Orientierung

Die Landkarte ist nicht das Land. Es spielt keine Rolle, wie häufig, intensiv oder andauernd wir die Bibel lesen und studieren – es wird immer unerforschte Bereiche geben. Wir werden ständig dazulernen, und immer wieder neues verstehen lernen. Unser persönliches Erkennen ist und bleibt darin bruchstückhaft (1Kor 13,9). Wir haben jedoch eine Verheissung: Zusammen mit allen Heiligen werden wir «begreifen, was die Breite, die Länge, die Tiefe und die Höhe sei, und die Liebe des Christus zu erkennen, die doch alle Erkenntnis übersteigt, damit ihr erfüllt werdet bis zur ganzen Fülle Gottes» (Eph 3,18-19). Das ist die Verheissung, die wir nur gemeinsam haben. Ausserdem dürfen wir realisieren, dass Christus die einen als Apostel, die anderen als Propheten, wieder andere als Evangelisten oder als Hirten und Lehrer eingestellt hat, damit dieses gemeinsame Erkennen auch stattfinden kann. So dürfen wir von diesem Wirken Gottes unterstützt im Glauben erwachsen werden. Auch werden wir dann nicht mehr von «jedem Wind der Lehre» hin und her geworfen (Eph 4,14), sondern werden im Evangelium und dem Glauben gegründet und fest bleiben (Kol 1,23).

Gesunde Lehre ist wichtig, aber sie ist nicht das Ziel. Wir müssen keine Theologen werden, keine Gelehrte. Wir werden auch nicht besser, wenn wir mehr wissen. Die Lehre ist nicht mehr als eine Hilfe. Eine gesunde Lehre hilft uns, unser Glaubensleben zu ernähren, die Beziehung mit Jesus eine konkrete Richtung zu geben, ein Gott wohlgefälliges Leben zu gestalten, eine lebendige Erwartung zu pflegen, und daraus täglich Kraft zu schöpfen. Eine gesunde Lehre schenkt auch einen klaren Blick in die Zukunft, gründet unser Vertrauen in Gottes Kraft und Wirken, und verbindet in der Gemeinde. Das ist es, was Lehre bezweckt.

Wege ins Wort

All die kleinen Bausteine, die bislang in verschiedenen Artikeln festgehalten wurden, will ich zusammenfassend in einem grösseren Bild darstellen. Denn viele Themen wurden noch gar nicht angesprochen. Das Bild ist noch unvollständig. Die Artikel wollen lediglich dazu anregen sich selbst auf den Weg zu machen. Ich kann mich erinnern an einen über 80-jährigen englischen Bibellehrer. Ein Mann mit aussergewöhnlichem Bibelverständnis, der zweimal eine Woche an der Bibelschule referierte, die ich dazumal besuchte. In einer Kaffeepause bin ich auf ihn zugegangen mit einer Frage, die mich brennend interessierte. Wäre es nicht wunderbar, wenn er mir sofort eine Antwort geben könnte? Also fragte ich ihn. Was sei denn der Zusammenhang für diese und jene biblische Begriffe? Er schaute mich an und sagte: Nun, schlage das in der Bibel nach und finde es heraus! Das war die Antwort. Wie ich das machen konnte, und dass ich dabei immer auf die Grundtexte der Bibel zurückgreifen sollte, das war gerade das Thema dieser Seminare. Er hat mich also nicht hängen lassen, sondern mich dazu ermutigt die Bibel selbst in die Hand zu nehmen. Es war auch nicht wichtig, seine Meinung zu übernehmen, sondern es war viel wichtiger, Gott selbst «beim Wort zu nehmen».

Was denn sind Lehren? Lehren sind so etwas wie Wege ins Wort, über die wir gehen können. Es sind Landkarten, über die wir einiges über das Land erfahren. Eine Landkarte hilft bei der Orientierung. Nie aber ist die Landkarte mit dem Land selbst zu verwechseln. So machen wir folgenden Vergleich: Wenn die Lehre die Landkarte ist, dann ist die Bibel die Landschaft und unser Leben das Land. Mit diversen Landkarten gewappnet können wir uns in dem Land und unserem Leben auf den Weg machen und uns dabei in der Landschaft orientieren, uns daran erfreuen. Das können wir den Lebenswandel nennen.

Landkarten

In verschiedenen Artikel wurden Landkarten skizziert, und es wurde dabei hier und da einen vergleichenden Blick in die Landschaft geworfen – so, wie man das bei einer Wanderung in einem unbekannten Gebiet macht.

Es ist sinnvoll, Regeln für das Bibelstudium zu kennen, ebenso wie wir wissen sollten, wie wir eine Landkarte halten sollten. Im Austausch mit Anderen ist es ausserdem hilfreich, dass wir gemeinsam und von der gleichen Seite her die Karte betrachten. Das vereinfacht das Gespräch. Wir brauchen unbedingt einen solchen pragmatischen Ansatz.

Damit man sich auf einer Karte zurechtfindet, muss man auch die Legenden verstehen. Dadurch verstehen wir mehr von den Farben, Linien und Symbole, die auf der Karte verwendet werden. Beim Bibellesen ist es zum Beispiel sehr hilfreich, wenn wir eine Bildsprache als solche erkennen, oder die Farbe und Bedeutung eines Wortes kennen.

Die Karte dient der Orientierung. Beim ersten Blick auf eine neue Karte muss man ein paar Anhaltspunkte setzen, und während der Reise wird das Wirrwarr an abstrakten Linien allmählich mit Leben und vielen Eindrücken gefüllt werden. Wir wissen am Anfang vielleicht noch nicht, wohin die viele eingezeichneten Wege führen, noch haben wir uns einen Überblick verschafft. Die Hinweise zur Interpretation der Bibel sind jedoch mit einer Kartenlegende vergleichbar. Immer wieder mal einen Blick auf die Legende zu werfen hilft dabei die Linien und Symbole der Karte zu interpretieren.  Kartenlesen muss jeder lernen. Jetzt geht es darum, sich mit der Karte auf den Weg zu machen, die Karte zweckgemäss einzusetzen. Vielleicht muss man die Karte laufend ergänzen, weitere Details einzeichnen, oder sich eine detaillierte Karte für manche Teilstrecken zulegen. Wir sind frei für all das, denn die Karte ist nicht das Land. Es geht nicht um die Karte, es geht um das Land, und um das Ziel vor Augen. Dort wollen wir hingelangen.

Das Bild können wir sogar noch etwas erweitern. Stellen wir uns jede Lehre als eine eigene Landkarte desselben Landes vor. Jemand besitzt vielleicht eine antike Karte auf kostbarem Pergament, mit Federkiel eingezeichnet. Die Karte entspricht genau den Vorstellungen des sechzehnten Jahrhunderts und lehrt uns vieles darüber, wie man das Land dazumal verstanden hat. Andere haben neuere Karten, vielleicht sogar wasserfeste Varianten, Ausschnitt- und Detailkarten, Wanderkarten und Fahrradkarten, grobe Karten mit Autostrassen, Tankstellen und dergleichen und wieder andere erfreuen sich an spezielle Karten mit ÖV-Verbindungen, Edelsteinvorkommen oder andere Vermerke. Und es gibt gar einige, die diese Karten auf ihrem iPad oder Mobiltelefon installiert haben, gleich inklusive GPS. Eine wirklich praktische Sache! Bedenken wir, dass auf diese verschiedene Karten, obwohl sie von dem gleichen Land sind, unterschiedliche Dinge eingezeichnet wurden. Eine Karte ist immer eine vereinfachte Darstellung, ebenso wie eine Lehre immer eine vereinfachte Darstellung biblischer Zusammenhänge ist. Karten, wie Lehrmeinungen, versuchen komplexe Zusammenhänge vereinfachend wiederzugeben. Es gibt keine Karte, die alles zeigt.

Hilfsmittel richtig einschätzen

Ein gesunder Umgang mit Gottes Wort sieht in all diesen Karten nützliche Hilfsmittel, und der geübte Kartenleser sucht sich die beste und geeignetste Karte aus, die ihn auf den Weg zum Ziel weiterhilft. Natürlich ist nicht immer davon auszugehen, dass jede Karte 100% akkurat ist. Es braucht Aktualisierungen.

Ich selbst wohne an einer Sackgasse. Es ist erstaunlich, wie viele Automobilisten von ihrem GPS-System fehlgeleitet wurden und meinen, man könne hier weiterfahren. Da helfen auch Warnschilder am Anfang der Strasse nicht. Trotz klare Hinweise im Wort führen manche Lehren ebenso ins Abseits. Wenn man nicht weiter kommt, dann kann man ja umkehren. Umdenken (gr. metanoia) ist ein gutes biblisches Prinzip und ist bei Weitem nicht nur auf eine «Bekehrung» anzuwenden (Rö 12,1-2).

Es lohnt sich, die Bibel eingehend zu lesen und zu studieren. Dadurch erhalten wir eine bessere Orientierung.

Im Gespräch mit anderen Menschen erkenne ich manchmal die Karten, die sie verwenden. Dann denke ich: aha! Der hier hat so eine Landkarte. Und dieser Freund dort hat eine leicht andere. Der Vorteil dieser verschiedenen Karten ist, dass es im Gespräch nie langweilig wird und jeder dazulernen kann. Zusammen auf den Weg zum Ziel, können wir wandernd immer wieder mal Pause machen, uns die Karten anschauen, um die nächste Wegstrecke zu bestimmen. So stelle ich mir in etwa vor, dass wir «mit allen Heiligen» die Breite, Länge, Tiefe und Höhe der Liebe Christi erkennen dürfen. Vergessen wir nie, dass wir miteinander und mit Christus unterwegs sind, und nicht mit den Landkarten (auch wenn wir sie mitnehmen). Unverkrampft lebt es sich besser.

Terra Incognita

Sollten wir uns auch die Frage stellen, ob wir eine vollständige Karte haben? Calvin, einer der Reformatoren, hat beispielsweise zu allen Bibelbüchern ein Kommentar erfasst. Ausser zur Offenbarung an Johannes. Das war ihm nicht möglich, weil er mit dem Buch nichts anfangen konnte. Es widersprach so ganz seiner Landkarte der Bibel, dass es wie ein blinder Flecken blieb. Und ich kenne (auch aus eigener Erfahrung) so manche Lehre, die den Blick auf andere wesentliche Themen versperrt. Ein zweites Beispiel: Es gab einmal ein Hotel in der italienischen Schweiz, da hing im Eingangsbereich eine Weltkarte. Der Besitzer war nicht sonderlich auf die USA zu sprechen, und hat kurzerhand die Vereinigten Staaten aus der Weltkarte rausgeschnitten. In dieser Karte klafft nun ein grosses Loch. Diese Beispiele zeigen, dass vielleicht jeder ein «Terra Incognita» (lat. Unbekanntes Land) hat, einen blinden Flecken, aus welchen Gründen auch immer.

Oh, wie spannend, Du hast eine andere Karte als ich!

Weder mein eigenes Verständnis noch das meines Nächsten wird alles erfassen können. Wenn wir die Begrenztheit des eigenen Erkennens einsehen, können wir mit Interesse auch mal einen Blick in die Karte des Nachbarn werfen. Er nutzt diese Karte, weil er damit gute Erfahrungen gemacht hat. Stellen wir Fragen. Was hat er durch seine Karte von Christus Jesus gelernt, von unserem Gott und Vater? Was ist ihm wichtig geworden? Welcher Reichtum hat er entdeckt? Dann prüfen wir das, wie es die Beröer taten (Apg 17,10-12) und behalten das Gute (1Thess 5,21).

Vertiefung und Fragen zum Gespräch

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  • Ist es wichtig, sich mit verschiedenen Lehren auseinanderzusetzen?
  • Ist es wichtig, sich mit verschiedenen Lehren auseinanderzusetzen?
  • Wurdest und wirst Du in Deiner Gemeinde dazu angeregt, eine eigene Meinung zu bilden?
  • Wie pflegt man in Deiner Gemeinde den Austausch mit Andersdenkenden? Abgrenzend, einbeziehend, ausgleichend, vertiefend, richtungweisend?
  • Mit dem Bild von Landkarten kann man den Nutzen und Wert von Lehren relativieren und sogar gegenseitig sinnvoll machen. Wo liegen Grenzen im gegenseitigen Verständnis? Versuche die Antwort anhand des «Landkarten» Bildes zu formulieren. (Es soll nicht darum gehen, dieses oder jenes Beispiel als «falsch» abzustempeln, sondern mehr abstrakt zu klären, warum eine bestimmte Art Landkarten nicht akzeptabel sei. Umgekehrt könnte man auch positiv beschreiben, was eine Landkarte alles «können muss», damit sie für Dich sinnvoll zu nutzen ist.)
  • Warst Du schon mal über die eigene Landkarte frustriert? Was hast Du daraufhin gemacht?