Kennen Sie das Übergabegebet? Das ist ein Gebet, womit man sein Leben Jesus übergeben sollte. Es wird von manchen als Mittel propagiert, wie man vom «Ungläubigen» zum «Gläubigen» mutiert. Es ist so etwas wie eine «Methode zum Glauben», einen «Leitfaden wie man gerettet wird». Ist dies eine Glaubenshilfe oder eher eine fromme Manipulation und Selbsttäuschung? Das will hier kritisch untersucht werden.

Das populäre «Übergabegebet»

Ein sogenanntes Übergabegebet gibt es in vielen Varianten. Einige Beispiele aus dem Internet:

Spreche mir nach

Ein Übergabegebet wird als Mittel eingesetzt, Menschen den Schritt zum Glauben zu vereinfachen. Im Gespräch lädt man das Gegenüber ein, das Gebet nachzusprechen und so den Glaubensanfang zu markieren. Auch in Büchern, YouTube-Videos, in Predigten und Glaubenskursen kann das Übergabegebet als Ziel eines «Bekehrungsgespräches» erkannt werden. Die Idee dahinter ist fest in der Himmel- und Hölle-Lehre verankert, die ganz darauf abstützt, dass man einen bewussten «Entscheid für Jesus» macht, denn nur so werden Menschen der Hölle entkommen und gerettet werden.

Nicht selten stehen Menschen unter «Hölle-Stress» und der «Ausweg» wäre dann dieses Gebet, denn damit landet man an der «sicheren Seite». Das Übergabegebet ist so etwas wie eine Methode zum Glauben, worin das «Tun» (nämlich: das Aussprechen) ein Mittel zum Zweck wird. Wer das Gebet ausgesprochen hat, der gehört dazu und der ist von der Gefahr der Hölle befreit.

Verführung der Methodik

Was hier geschieht, ist eine Institutionalisierung des Glaubens. Solche und ähnliche Ideen reduzieren Gottvertrauen auf eine Formel. Während Paulus noch von einem «Geheimnis des Glaubens» spricht (1Tim 3,9), wird der Vorgang des Glaubens beim «Übergabegebet» zu einer rituellen Handlung.

Zweifellos kann das für diesen oder jenen einen Halt bieten und sogar Auslöser zu einem Schritt des Glaubens sein. Der Zweck heiligt aber nicht die Mittel. Was hier passiert, hat mit Glauben nichts zu tun, sondern eher mit Unglaube. Ein fehlendes Vertrauen auf Gott drängt Gläubige dazu, auf solche Handlungen zu vertrauen. Es ist eine fromme Selbsttäuschung im besten Fall und eine Manipulation anderer Menschen im schlimmsten Fall.

Glaube ist keine Methodik. Glaube ist kein Ritual. Das Geheimnis des Glaubens lässt sich nicht in eine Schublade stecken. Glaube ist Vertrauen und Beziehung. Sie wird aus der Bibel gelehrt und genährt und sie muss sich in aller Unvollkommenheit im Alltag bewähren. Es gibt keinen Knopf, worauf man drücken kann, um Glaube auszulösen, und es gibt keinen Trick, jemand «über die Linie zu ziehen».

Das Übergabegebet hat eher etwas mit einem Ablasshandel zu tun. Der Mensch «glaubt», und Gott «rettet» daraufhin. Glaube ist zu einem Werk verkommen – ein Problem, das bis heute noch ganz prominent in evangelikaler Theologie enthalten ist. Es ist ebenso ein Problem der Gemeindeentwicklung, worin «Glaubenskurse», «Übergabegebete» und ähnliche Ansätze als Bausteine für einen christlichen Glauben betrachtet werden. Es ist die Verführung der Methodik, und ein Irrweg für nachhaltige Gemeindeentwicklung.

Wie entsteht Glaube?

«Hast Du Dich schon für Jesus entschieden?» ist für manche die wichtigste Frage in jedem Gespräch. Glaube funktioniert in manchen Kreisen ausschliesslich auf Basis einer Entscheidung. Dafür wird gerne Apg 16,31 zitiert, wo es heisst: «Sie aber sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus». Unter Weglassung des Kontextes liest man hier einen kausalen Zusammenhang heraus: Glaube zuerst, erst dann wirst Du gerettet. Wer sich nicht entschieden hat, der kann also nicht gläubig sein.

Das ist natürlich unsinnig. Nirgendwo heisst dies so in der Bibel. Vor allem ist es auch nicht konsistent mit den biblischen Berichten. Konnte denn Abraham oder Mose sich für Jesus entscheiden? Und hat Jesus sich nicht zuerst für die Jünger entschieden? (Mt 4,18-22). Paulus schreibt den Gläubigen ausdrücklich, dass Gott in uns das Wirken wie auch das Wollen bewirkt (Phil 2,13). Erst das ist der Startpunkt für unser eigenes Tun und Lassen.

Glaube entsteht oft ganz anders…

Ich muss bekennen, dass ich kein Übergabegebet gesprochen habe. Vielmehr war es ein Prozess über viele Monate hinweg. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, mehr über diesen Gott zu lernen, der mir nie wirklich vertraut war. Ich hatte mich entschieden mehr wissen zu wollen,  mehr über die Bibel zu erfahren, die Sein Wort wäre. Ich wollte mich auf eine Begegnung mit dem Gott einlassen, den ich gar nicht kannte, so, als habe ich von einem interessanten Menschen gehört, seine Adresse erhalten und ich mache mich auf den Weg zu ihm, um ihn persönlich kennenzulernen.

Ich habe mich mit der Bibel und mit den Geschichten um Jesus auseinandergesetzt und über viele kleine Schritte hinweg zu dem Vertrauen gefunden, das man Glauben nennt. Und eines Tages bin ich aufgewacht und wusste, dass ich zu Ihm gehöre. Das war im März 1982. Paulus beschreibt das im Römerbrief so, dass es Sein Geist ist, der mit unserem Geist bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind (Röm 8,16).

Bei jedem Menschen ist dieser Prozess einmalig. Ein Jugendfreund beschrieb mir einmal seinen Glaubensweg. «Es geschah einfach», sagte er. In christlichem Hause aufgewachsen, hat er die frohe Botschaft zu Hause und auch in der Kirche gehört. Später, als Teenager, engagierte er sich im Jugendclub, wo er wichtige Impulse erhielt. All das ist aber noch kein Glaube. Wann er genau zum Glauben kam, konnte er gar nicht sagen. Eines Tages realisierte er, dass er gläubig war, sich im Leben und Glauben Gott anvertraute. Ein Datum fehlte ebenso wie ein bestimmtes Übergabegebet. Sein Glauben war jedoch real, nachvollziehbar, lebendig und voller Neugierde. Plötzlich war er einfach «mittendrin».

Jemand anders fand mich über Facebook und sagte: «Du hast mir vor über 30 Jahren einmal eine Bibel geschenkt. Ich habe angefangen zu lesen und ich wurde ein anderer Mensch. Nun stehe ich seit Langem dankbar im Glauben».

Reduzieren wir den Glaubensanfang auf ein «Übergabegebet», dann missachten wir die Schrift und die Persönlichkeiten der Menschen, womit wir es zu tun haben. Es gibt unterschiedliche Wege, nicht nur eine Formel.

Der Wert der Verkündigung

Oft wird Römer 10,16 zitiert, um den Werdegang beim Glauben zu beschreiben. Dort heisst es: «Also ist der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch das Wort Christi» (Rev. Elbf.). Glaube in biblischem Sinne ist kein schwammiges Erlebnis, sondern sie beruht auf konkrete Erfahrung. Glaube basiert auf Gottes Zusagen und der Erfahrung im eigenen Leben. Wie aber diese Zusagen Gottes erfahren werden oder wie lange es braucht, bis daraus Zuversicht erwächst, steht in keinem Handbuch.

Ein «Glaube nach Plan» oder ein «Rezept zur Rettung», das gibt es nicht. Neulich sagte mir jemand, dass sie ihr Glaube still für sich hat. Die Evangelikalen mit ihren Glaubenskonzepten waren nicht so ihr Ding. Sie war liberal aufgewachsen. Kann ich damit aber ihr Glaube fixieren? Nicht doch! Kann ich jemand nach seinem oder ihrem Glauben beurteilen oder gar verurteilen? Natürlich nicht.

Was Glaube ist und wie man das erlebt, ist gar nicht so eindeutig. Schaut man sich nur einmal die christlichen Gemeinschaften innerhalb der eigenen Stadt an, so wird man über die Unterschiede staunen. Erweitert man den Erfahrungskreis nach anderen Ländern und Sprachregionen, entstehen sofort neue Eindrücke. Glaube ist ebenso vielseitig wie die Beziehungen, die wir untereinander leben. Es gibt nicht eine «richtige» Art zu glauben.

Glaube ist jedoch immer Beziehung und Vertrauen. Als Christ habe ich verstanden, dass Christus in Gottes Handeln zentral steht. Worauf ich mein Vertrauen setze und wie ich die Beziehung lebe, das ergibt sich aus täglichen Entscheidungen, wie bei jeder anderen Beziehung auch.

Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, der HERR aber sieht das Herz an.
1Sam 16,7

Die Verkündigung bleibt selbstverständlich wichtig. Ich kann Gott nicht als Vater kennenlernen, es sei denn, ich erfahre das aus der Bibel. Eine frohe Botschaft erkenne ich nicht in der Natur, sondern nur in der Verkündigung der Gnade Gottes. Judentum und Christentum sind Offenbarungsreligionen, keine Naturreligionen. Gott macht sich bekannt. Er spricht. Das lässt sich nicht einfach aus dem hohlen Bauch heraus nachspüren. Die Bibel geht viel tiefer als eine allgemeine Spiritualität. Der lebendige Gott, der spricht in unsere Welt hinein. Wie es der Schreiber des Hebräerbriefes ausdrückt:

«Nachdem Gott vor alters vielfach und auf viele Weise zu den Vätern durch die Propheten gesprochen hat, spricht Er an dem letzten dieser Tage zu uns in dem Sohn, den Er um Losteilinhaber von allem gesetzt und durch den Er auch die Äonen gemacht hat. Er ist die Ausstrahlung Seiner Herrlichkeit und das Gepräge Seines Wesens und trägt das All durch Sein machtvolles Wort.»
Heb 1,1-3

Ablenkung vom Wesentlichen

Ein Übergabegebet als Methode hat noch andere problematische Seiten. Es ist nicht der Weg zu Gott, den Du selbst beschreitest, sondern eine Methode, der jemand anders Dir empfiehlt. Das ist seltsam. Möchte ich jemand kennenlernen, dann muss ich die Person doch direkt ansprechen? Ich muss doch nicht bei jemand anders die Worte für das Gespräch «abholen»? Wenn es einen Gott gibt, der diesen Namen verdient, dann kennt Er uns. Es braucht keine Formel dazu, Ihn zu nähern. Die frohe Botschaft lautet so:

«Mit Seinem Kommen verkündigt Er als Evangelium: Frieden euch, den Fernstehenden, und Frieden euch, den Nahestehenden, weil wir beide durch Ihn [Christus] in einem Geist Zutritt zum Vater haben»
Eph 2,17-18

Paulus spricht hier von den zwei Gruppen Gläubigen in der Gemeinde: Die Juden und die aus den Nationen. Es gibt keine Unterschiede mehr. Der Weg ist frei. Es gibt nicht mehr nur eine Route, nämlich via Israel, sondern jeder Mensch darf heute direkt Gott nähern. Das ist, was Christi Tod und Auferstehung bewirkt haben. Das gehört auch zum evangelistischen Dienst, worin durchklingen darf, das Gott mit Dir und mir versöhnt ist (2Kor 5,14-21).

Wer nun auf Übergabegebete und spezielle Formeln verweist, lenkt vom Wesentlichen ab. Ich befürchte, dass auf Websites wie von Joyce Meyer Menschen sich an ihren Weisungen halten, mehr als direkt an Gottes Wirken und Gottes Gegenwart. Religiosität funktioniert so und das von ihr verkündigte Wohlstandsevangelium schlägt in dieselbe Bresche. Mit lebendiger Beziehung hat das wenig zu tun. Stellen wir fest, dass Joyce Meyer durch diese Dinge zu grossem Reichtum gekommen ist. Religion ist Big Business.

Wagnis des Glaubens

Das Wesentliche liegt nicht in Formeln, in einem Erfolgsglauben und in einem Wohlstandsevangelium oder bei speziellen «Mittlern zwischen Gott und den Menschen». Das Wesentliche liegt in der Beziehung mit dem lebendigen Gott, von dem die Bibel Zeugnis ablegt. Einen anderen Mittler als Jesus Christus brauchen wir nicht. Von Ihm können wir lernen. Durch Ihn haben wir direkten Zugang zum Vater.

«Denn Gott ist Einer, ebenso ist einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der Sich Selbst für alle zum Ersatzlösegeld gibt, als Zeugnis für dessen eigene Fristen, für welches ich [Paulus] als Herold und Apostel eingesetzt wurde (ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht), zum Lehrer der Nationen in Erkenntnis und Wahrheit.»
1Tim 2,5-7

Das Wagnis des Glaubens ist dies: Sich auf diese Beziehung mit Gott, durch Christus Jesus einzulassen. Mit oder ohne Übergabegebet. So können wir das Geheimnis des Glaubens auf eine gesunde Grundlage stellen.