Kennst Du die Geschichte vom breiten und vom schmalen Weg? Jesus spricht davon in der Bergpredigt und nicht wenige Christen wachsen mit diesem Bild auf. Der breite Weg soll der Weg des Verderbens sein und der schmale Weg soll zur Rettung führen. Gegen den Hintergrund der Himmel- und Hölle-Lehre wird dieses Bild als Aufforderung verstanden. Wir müssten wählen, wo wir die Ewigkeit verbringen wollen. Was ist da dran? Was hat Jesus wirklich gesagt?

Dies ist eines von mehreren Bildern, die von beiden «Wegen» gemacht wurden. Das Bild lässt sich als Poster bestellen (hier). Auf derselben Website kann man auch nachlesen, wie diese Bibelstelle von vielen verstanden wird.

Frohbotschaft und Drohbotschaft

Das Bild vom breiten und vom schmalen Weg liest sich im Matthäus-Evangelium:

«Geht ein durch die enge Pforte; denn breit ist die Pforte und geräumig der Weg, der zum Untergang hinführt, und viele sind es, die durch sie hineingehen. Wie eng aber ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben hinführt! Doch wenige sind es, die ihn finden.»
Matthäus 7,13-14

Landauf und landab wird dieser Text dazu genutzt, um Menschen zu einer Glaubensentscheidung zu bewegen. Wähle links oder rechts, den breiten oder den schmalen Weg. Glaube oder glaube nicht. Und wer bereits gläubig ist, der interpretiert dieses Bild nicht selten so, dass das Leben mit Christus immer haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeht, dass wir ständig Verführungen ausgesetzt sind und das Leben in dieser «gottlosen Welt» ein wirklich schmaler Weg ist – fast so etwas wie eine Gratwanderung.

Gläubig sein wird als schwieriger Weg empfunden und nicht selten habe ich das als frommer Leidenswille gesehen. Man muss sich konstant von der Welt abgrenzen, von allem, was auf dem «breiten Weg» abläuft. Das nämlich sind die Ungläubigen, das ist die verirrte Gesellschaft, worin wir stehen. Schwarz und Weiss. Himmel oder Hölle. Schmaler Weg oder breiter Weg. So oder ähnlich habe ich das oft gehört und gelesen.

In der Regel interpretiert man den Text ohne Kontext. Das ist problematisch. Nicht der Text ist das Problem, sondern die Auslegung. Es wird nach dieser Lehre nämlich schwierig, gerettet zu werden. Man muss sich anstrengen, sich bemühen, man muss ausharren, erdulden, um durch die enge Pforte und auf diesem schmalen Weg zu gehen. Am Ende jedoch (so die Zeichnung), wartet das himmlische Jerusalem. Es ist ein durch und durch kitschiges Bild, das mit dem biblischen Zusammenhang gar nichts zu tun hat.

Bei diesem Bild geht es um eine Entscheidung. Der Bibeltext wird lediglich dazu genutzt, dich auf diese Entscheidung hinzubewegen. Welche Entscheidung das sein soll, wird willkürlich hineininterpretiert. Die Kurzfassung dieser Ansicht lautet: Entscheide dich für Jesus oder gehe für ewig verloren. Wem fällt schon auf, dass Jesus nichts davon gesagt für oder gegen Ihn zu entscheiden?

Auf der verlinkten Website wird erwähnt: «Gott führt jeden Menschen wenigstens einmal oder sogar mehrmals im Leben auf den Platz der Entscheidung». Das ist natürlich Quatsch. Eine solche Lehre der Entscheidung findet sich nirgendwo in der Bibel zurück. Diese Lehre sagt: Alles hängt von dir ab. Du musst dich entscheiden, ansonsten kann Gott dich nicht retten. Von all dem findet man im Text aber nichts!

Wo kommen solche Gedanken her, wenn nicht aus dem Text? Eine Aussage wie diese gedeiht ausschliesslich im Umfeld einer Verkündigung von Himmel und Hölle. Tatsächlich werden hier zwei Wege aufgezeigt. Dann aber verlässt man den Text der Bibel und projiziert eigene Gedanken hinein, dass nämlich ein Weg ins (ewige) Verderben führt und der andere Weg in eine (ewige) glückselige Zukunft mit Gott. Das ist nicht nur Frohbotschaft, sondern auch eine ausgeprägte Drohbotschaft. Es ist Zuckerbrot und Peitsche, Himmel und Hölle, ewige Rettung und ewige Verdammnis.

Der Mensch im Zentrum

Natürlich hat eine solche Sicht schwerwiegende Folgen. Wer gleichzeitig droht und lockt und auf deine Entscheidung drängt, der verkennt zuerst einmal die wirklich freimachende Gnade Gottes in Christus Jesus. Man vergisst, dass alles vollbracht ist und sagt geradeheraus, dass etwas noch fehlt: Dein Ja-Wort fehlt. Denn wählen muss der Mensch – wählen zwischen zwei Wegen. Der Mensch muss wählen, wo er die Ewigkeit verbringen will. Erst, wenn der Mensch wählt, kann Gott handeln. Beängstigend tief ist dieser Gedanke bei vielen Menschen verankert. In der Bibel steht davon nichts, aber manche Texte werden dazu missbraucht – wie dieser hier.

Die Lehre sagt: Zwischen dir und Gottes Rettung steht deine Entscheidung. Gott hätte zwar alles vollbracht, aber dein Entscheid erst macht dies wirksam. Ohne dein Mitwirken ist Gott machtlos, dich zu retten. Dabei ist es gerade umgekehrt: Was bei den Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott (Mt 19,25-26). Diese schmaler-oder-breiter-Weg-Idee ist eine zutiefst anthropozentrische Lehre, die am Evangelium vorbeischiesst. Der Mensch steht zentral, nicht mehr Gottes Gnade in Christus Jesus. Diese Lehre deutet die biblischen Begriffe um und verkehrt die frohe Botschaft in das Gegenteil. Glaube wird zu einer Leistung, zu einem Werk, zu einer Zahlung für die Rettung. (Siehe auch den Beitrag: «Ist Glaube eine Leistung, die ich erbringen muss?»)

Dass eine solche Darstellung trotzdem geglaubt wird, hat einerseits damit zu tun, dass an die Bibel verwiesen wird (der Kurzschluss lautet: «Es steht doch da!»), aber andererseits auch dadurch, dass menschliche Anstrengung den Anschein von Wirksamkeit hat. Es ist eine religiöse Verführung, der man auf den Leim geht. Drohbotschaften erscheinen wirksam. An die eigene Entscheidung zu appellieren, erscheint vernünftig. Gesetzlichkeit hat hier jedoch ihren Ursprung.

Gesetzlichkeit sagt: Du musst machen, du musst tun, du musst erreichen, du musst entscheiden. Das Evangelium der Gnade Gottes (nach Kreuz und Auferstehung!) sagt jedoch, dass Er (nicht ich!) alles gemacht hat. Glaube erkennt, dass Gott der Handelnde ist. «Denn in der Gnade seid ihr Gerettete, durch Glauben, und dies ist nicht aus euch, sondern Gottes Nahegabe, nicht aus Werken, damit sich niemand rühme. Denn wir sind Sein Tatwerk …» (Eph 2,8-10, vgl. Phil 2,13).

Die Lehre vom schmalen und breiten Weg ist eine perfide Verdrehung von Jesu Worte. Diese Sicht, dass der Mensch sich für eine fiktive Ewigkeit entscheiden muss, war im Judentum unbekannt, sie war den Zuhörern Jesu unbekannt und auch Jesus selbst hat das so nicht gesagt.

Natürlich haben Mose, die Propheten und auch Jesus und die Apostel auf Entscheidungen hingewiesen, aber sie bezogen sich auf dieses Leben, nicht auf eine endlose Ewigkeit. Möglich sind solche Entgleisungen nur, weil man den Text nicht im Kontext liest. Das vorher geschilderte Bild vom breiten und vom schmalen Weg ist eine verheerende Interpretation. Das fällt aber erst auf, wenn man den Text näher betrachtet.

Warum geht es nun im Zusammenhang?

Es geht um das Gesetz

Dies ist der erweiterte Kontext:

«Wenn ihr nun, die ihr doch böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater in den Himmeln denen Gutes geben, die Ihn bitten! Alles nun, was auch immer ihr wollte, dass euch die Menschen tun, das erweist auch ihr ihnen ebenso! Denn dies ist das Gesetz und die Propheten. Geht ein durch die enge Pforte; denn breit ist die Pforte und geräumig der Weg, der zum Untergang hinführt, und viele sind es, die durch sie hineingehen. Wie eng aber ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben hinführt! Doch wenige sind es, die ihn finden.»
Mt 7,11-14

Was ist nun die enge Pforte und was ist der schmale Weg? Es sind das Gesetz und die Propheten, es sind Thora und Neviim. Lesen wir den Zusammenhang noch etwas genauer, dann geht es um die Aussage: «Wie viel mehr wird euer Vater in den Himmeln denen Gutes geben, die Ihn bitten! Alles nun, was auch immer ihr wollte, dass euch die Menschen tun, das erweist auch ihr ihnen ebenso!» Das ist die Zusammenfassung von Gesetz und Propheten. Jesus spricht nicht vom Glauben, spricht nicht von einer Entscheidung für Jesus, dafür, dass man Ihn annehmen muss. Nein, man solle Gesetz und Propheten annehmen und danach handeln. Wenige sind es jedoch, die diesen Weg gehen. Das ist der unmittelbare Zusammenhang im Kontext.

Die enge Pforte und der schmale Weg sind das Gesetz und die Propheten.

Zurück zur Basis

Der grössere Zusammenhang ist die sogenannte Bergrede, worin Jesus den Vergleich der beiden Wege erwähnt. Die Rede läuft von Matthäus 5,1 bis zum Kapitel 7,29. Jesus spricht hier über das «Königreich der Himmel» und wie dies funktioniert. Unmittelbar vor der Bergpredigt lesen wir, dass Jesus Seinen Dienst mit folgenden Worten begann:

«Sinnet um! Denn das Königreich der Himmel hat sich genaht!»
Mt 4,17

In der Bergpredigt dann sagt Er:

«Meint nur nicht, dass Ich kam, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich kam nicht, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen!»
Mt 5,17

Gesetz und Propheten sind in der Verkündigung von Jesus grundlegend, denn Er führt Israel zu diesem alten Kern zurück – allerdings anders, als es die religiösen Führer des Volkes dachten. «Zurück zur Ausgangslage!» ist die Devise – zurück zu den Wurzeln! Zurück zum Gesetz und den Propheten. Diese nämlich werden sich erfüllen.

Mit der heutigen Gemeinde hat das nichts zu tun. Die entsteht erst viel später. Von einer Gemeinde aus allen Nationen ist noch nichts bekannt in den Evangelien. Jesus wurde als Jude geboren, und kam, um Sein Volk von ihren Sünden zu retten (Mt 1,21). In diesem Zusammenhang steht auch die Bergpredigt. Er selbst sagte später: «Ich wurde lediglich zu den verlorenen Schafen vom Haus Israels gesandt!» (Mt 15,24). Solche Aussagen müssen wir gelten lassen, wenn wir den Text im Kontext verstehen möchten.

Die Bergrede, worin Jesus zu den Juden spricht, ist eine durch und durch jüdische Angelegenheit. Jesus sollte die Verheissungen an die Väter (von Israel) bestätigen (Röm 15,8).

Der Weg des Lebens

Dass Jesus von zwei Wegen redet, hat ein Ziel. Er will, dass die Menschen den Weg finden, der zum Leben hinführt. Die Aussage erinnert direkt an die Worte von Mose, die dem Volk wohlbekannt waren:

«Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch auf: Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen, indem du den HERRN, deinen Gott liebst und seiner Stimme gehorchst und ihm anhängst! Denn das ist dein Leben und die Dauer deiner Tage, dass du in dem Land wohnst, das der HERR deinen Vätern, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen hat, ihnen zu geben.»
5Mo 30,19-20

«Und ich gab ihnen meine Ordnungen, und meine Rechtsbestimmungen liess ich sie wissen, durch die der Mensch, wenn er sie tut, lebt.»
Hes 20,11

Mose sagte: Denn das ist dein Leben und die Dauer deiner Tage, dass du in dem Land wohnst. Es geht um das aktuelle Leben, nicht um ein schwammiges Jenseits.

Und Jesus sagt:

«Und siehe, ein Gesetzeskundiger stand auf, um Ihn auf die Probe zu stellen, und fragte: “Lehrer, was muss ich tun, damit mir äonisches Leben zugelost werde?” Er aber sagte zu ihm: “Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du da? Da antwortete er: “Lieben sollst du den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Vermögen und mit deiner ganzen Denkart sowie deinen Nächsten wie dich selbst.” (3Mo 19,18) Darauf entgegnete Er ihm: “Du hast richtig geantwortet; tue dies, so wirst du leben”.»
Lk 10,25-28

Zu leben, ist das Ziel. Teilzuhaben am «äonischen» Leben, dem Leben des zukünftigen Zeitalters ist der Wunsch (Mk 10,30). Der Weg zum Leben ist nach Jesu Worten das Befolgen vom Gesetz – wenn richtig interpretiert. Paulus, der zum Gesetz noch sehr viel gesagt hat, bestätigt diese Sicht, die sowohl im Alten Testament als auch in den Evangelien allgegenwärtig ist: «Denn Mose beschreibt die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist: Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben.» (Röm 10,5). Wohlgemerkt: Das ist nicht das, wie es heute nach dem Evangelium der Gnade ist, aber es ist zweifellos so, wie es in der Tenach und in den Evangelien beschrieben ist.

Israel, nicht die Gemeinde, steht hier im Zentrum

Die Lehre von dem breiten und dem schmalen Weg steht in einem Kontext für Israel, dem das Gesetz galt. Davon spricht die Geschichte mit klaren Worten. Mit den Nationen (den nicht jüdischen Völkern) hat das nichts zu tun. Ihnen galt das Gesetz auch nicht (Apg 14,16). Die Nationengläubige waren noch lange kein Thema. Oder anders gesagt: Mit der Kirche und der Gemeinde heute hat das nichts zu tun.

Das Problem: Dieser Text wird aus dem Kontext herausgelöst und willkürlich interpretiert. Das hilft nicht. Bedrückend ist dabei nicht nur die falsche Auslegung, sondern eher das, was damit ausgelöst wird: Druck und Not im Leben der Gläubigen. Es ist ein falsches Evangelium, mit «etwas Gnade und etwas Gesetz», mit «etwas aus den Evangelien und etwas von Paulus», etwas von «vor dem Kreuz» und etwas von «nach dem Kreuz». Es ist eine Vermischung, ein Misch-Evangelium, wenn dieser Text ohne den Kontext recht willkürlich ausgelegt und ohne weiteres Überlegen auf kuriose Art angewendet wird.

Paulus nimmt da kein Blatt vor den Mund. Er hatte öfter mit solchen Fehleinschätzungen zu tun. Der Apostel stellt solche Mischbotschaften andernorts direkt unter das Gericht Gottes:

«Ich staune, dass ihr euch so schnell umstellt, hinweg von dem Evangelium, das euch in Christi Gnade berufen hat, zu einem andersartigen Evangelium, das aber nicht ein anderes echtes ist, wenn da nicht etliche wären, die euch beunruhigen und das Evangelium des Christus verkehren wollen. Aber wenn auch wir oder ein Bote aus dem Himmel euch etwas Andersartiges neben dem verkündigt, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: Er sei in den Bann getan! Wie wir schon zuvor betont hatten, so sage ich auch jetzt wieder: Wenn jemand euch etwas Andersartiges als Evangelium verkündigt, neben dem, was ihr von uns erhalten habt: Er sei in den Bann getan!»
Gal 1,6-9

Gilt das jetzt nicht uns?

Bis jetzt haben wir zwei Dinge angeschaut:

  1. Wie legt man diesen Text häufig aus?
  2. Was steht im Kontext?

Zwischen beiden besteht ein starker Kontrast. Das ist unbequem, wenn man das zum ersten Mal hört. Es rüttelt vielleicht an bekannten Bildern. Für andere bedeutet dies jedoch Befreiung, denn Gnade ist ganz anders, als es in diesen Versen beschrieben wird. Man hat diesen Text aus Matthäus 7,13-14 missbraucht. Diese Interpretation loszulassen, schafft jedoch wieder Platz für die Geschichte selbst.

Lesen wir den Text im Kontext, dann fällt im Vergleich mit dem späteren Evangelium der Gnade auf, dass eine Entwicklung stattfand. Nicht alles im Neuen Testament (oder: in der ganzen Bibel) spricht vom Gleichen, von der gleichen Zeit, von den gleichen Menschen. Nicht überall, wo «Jesus» draufsteht, ist «heutige Gemeinde» drin. Die Entwicklung ist allmählich. Israel hat einen Platz und eine Zukunft. Die Gemeinde aus allen Nationen, die heutige Kirche, kam fast wie überraschend (es handelte sich um «Geheimnisse») und deutlich später dazu.

Die Entwicklung lässt sich im Neuen Testament wie in der ganzen Bibel nachvollziehen. Jesus war nach eigenen Worten (und Angaben der Apostel) ausschliesslich für die verlorenen Schafe des Hauses Israels unterwegs. Das beschreibt die Situation in den Evangelien. Die heutige Gemeinde aus allen Nationen, die wird erst durch die Berufung von Paulus ermöglicht.

Heute müsste man eher sagen: Gnade, das ist der eigentliche breite Weg. Solches lesen wir aber nicht mehr in der Bergpredigt.