Anfangs des 17. Jahrhunderts erschien ein Roman, der eine bis heute bekannte Geschichte erzählt. Die Rede ist von «Don Quijote de la Mancha», geschrieben vom spanischen Autor Miguel de Cervantes Saavedra. In dieser Geschichte geht es um einen Landadliger, der seine Ritterromane liest und bald nicht mehr zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden kann. Er sieht sich selbst als Ritter und muss für Ruhm und Ehre und für die Befreiung anderer in den Kampf ziehen. Er nimmt den Namen Don Quijote an und stürzt sich in kuriose Abenteuer, worin er sich fiktiven Feinden stellt. So kommt es auch zu einem Kampf gegen Windmühlen.

Selbsternannte Ritter

Die Geschichte von Don Quijote ist interessant, weil sie erkennbar ist. Die Geschichte ist nicht nur irrwitzig, sondern spricht von Situationen, denen auch wir selbst erlegen können. Niemand ist davor gefeit, Dinge falsch einzuschätzen. Es passiert im Alltag, wir kreieren unsere eigene Weltsicht und werden von den Meinungen der Menschen um uns herum beeinflusst. Dazu kommen noch persönliche Ängste und Unsicherheiten, Erfahrungen und viele weitere Einflüsse. Was hat wohl Don Quijote dazu gebracht, in eine Parallelwelt abzugleiten und die Realität konsequent umzudeuten?

Was ist Wahrheit und was ist Dichtung? Das ist nicht immer leicht zu erkennen. Diese Welt ist komplex und jeder Mensch ist herausgefordert, diese Komplexität irgendwie einzuordnen. Wenn das nicht gelingt, können Parallelwelten eine Notwendigkeit werden. Sie können als Schutzmechanismus dienen.

Selbsternannte Ritter wie Don Quijote gibt es in übertragenem Sinne auch heute noch. Wenn wir uns eine Weltsicht zurechtlegen, die von Verschwörungen und vermeintlichen Feinden nur so wimmelt, machen wir dasselbe wie einst Don Quijote: Wir lesen die Ritterromane, bis wir fest daran glauben, dass alles so ist und plötzlich stehen wir in einem anderen Film. Die Hilfe von Freunden (im Roman: Der Dorfpfarrer und der Barbier) bringt Don Quijote in der Geschichte immer wieder zurück nach Hause. Erst am Ende seines Lebens jedoch erkennt er, wie abstrus seine vermeintlichen Feindbilder waren.

Der Kampf gegen Windmühlen

Ähnlich wie Don Quijote können auch wir nicht existente Feindbilder aufbauen und in eine Art Parallelwelt abdriften. Ich denke, dass dies bei so manchen Verschwörungstheorien geschieht, die zurzeit aussergewöhnlich populär sind. Dabei geht es nicht um berechtigte Kritik oder Verunsicherung, sondern um die Projektion der Ängste auf andere Personen, Institutionen oder Regierungen. Es ist unerheblich, ob die Theorien stimmen, ob sie widerlegt werden, denn sie entspringen tiefen persönlichen Themen. Eine berechtigte Kritik kann diskutiert werden, Verschwörungstheorien jedoch sind ganz anderer Art. Eine projizierte Angst ist in der Regel irrational. Wer etwas glauben will, der glaubt es, auch wenn alles dagegen spricht. Don Quijote lässt grüssen.

Don Quijote hat nicht nur etwas geglaubt, sondern er hat auch gemeint, dass er handeln müsse. Er hat sich seine Ritterausrüstung zurechtgelegt, sein alter Gaul gesattelt und ist losgeritten. Seine geänderte Weltsicht hat ihn zu einem neuen Verhalten angetrieben. Ebenso gibt es heute unzählige Menschen, die Verschwörungstheorien kritiklos auf Social Media teilen. Sie sind die neuen Evangelisten und sind immer wieder in wirklicher Not über die Uneinsichtigkeit der restlichen Welt. Sie befinden sich jedoch bei ausgeprägter Anhängerschaft in einer Art Parallelwelt, auch wenn sie das selbst nicht so sehen.

Sowenig wie es in diesem Beitrag um Don Quijote geht, soll es hier eine Widerlegung von Verschwörungstheorien geben. Zu beiden Themen gibt es weit bessere Quellen im Internet. Ahmad Mansour, muslimischer Psychologe in Deutschland, sagt in einem Gespräch mit Rabbiner Daniel Alter über Verschwörungstheorien, dass es sich hier um «einen Kampf um die Köpfe und die Seelen der Menschen» handelt. Ich erwähne die Verschwörungstheorien hier wegen der persönlichen Prozesse, die so sichtbar werden. Deutlich erkennt man, dass die Unsicherheiten der Menschen nach aussen projiziert werden. Das unterscheidet berechtigter Kritik von Verschwörungstheorien.

Don Quijote schaut nicht nach innen, sondern projiziert seine ganze Welt nach aussen. Ebenso projizieren Verschwörungstheorien alle Ängste auf einfach begreifbare äussere Dinge: die Feindbilder (Bill Gates, die Regierung, die Pharmaindustrien, die Juden…). Durch diese Feindbilder findet eine Vereinfachung der komplexen Realität statt. Verschwörungstheorien gedeihen heute besonders gut, denn es gibt viel Verunsicherung. Die «alternativen Fakten» der Verschwörungstheorien bieten eine Vereinfachung der Komplexität und entlasten dadurch das Gemüt. Dass dabei völlig irrationale Schlussfolgerungen gezogen werden, fällt nicht auf. Die Kräfte, womit wir unsere Welt zurechtbiegen, sind stark.

Verschwörungstheorien sind nicht nur schlecht. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass sie für die daran Glaubenden eine Funktion erfüllen. Das ist völlig wertfrei. Für die Anhänger gibt es handfeste Vorteile, daran zu glauben. Die Komplexität der Welt kann unerträglich werden und Verschwörungstheorien bieten einen Ausweg. Die Komplexität wird vereinfacht dargestellt. Es gibt «Schuldige» und «Täter» während man selbst zum «Opfer» wird. Damit lässt sich einfacher umgehen, wie es scheint. Vielleicht lässt sich Stress so besser kanalisieren. Kritisch bleibt natürlich die Ablehnung jeder Vernunft, oder die Ausblendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Für die Anhänger gibt es verborgene Vorteile, und die sind ernst zu nehmen.

Das Gespräch ist wichtig. Die Empathie ist wichtig, ebenso wie das kritische Hinterfragen. Es ist jedoch kein Gespräch, das man nur mit Fakten begegnen kann, sondern es geht ebenso um das Lebensgefühl und um die Überwindung der Unsicherheit. Hier hat die Bibel und haben christliche Gemeinschaften viel zu bieten. Unter dem Stichwort Solidarität können wir mit den Menschen sowohl kritische Gedanken teilen und aufnehmen, als auch mit lebendiger Gemeinschaft ein deutlich besseres Lebensgefühl kreieren. Keiner ist perfekt. Alle suchen wir einen Weg in diesem Leben.

Christliche Verschwörungstheorien

Die Merkmale einer Verschwörungstheorie, die diffuse Ängste und die Projektion auf äussere Bösewichten, gibt es im christlichen Umfeld schon lange. Einige betrachten die biblische Botschaft selbst als solche Projektion. Das wird den differenzierten und vielseitigen Aussagen der Bibel m.E. jedoch nicht gerecht.

Etwas häufiger ist erkennbar, dass sich manche Gemeinschaften oder Gruppen wie Sekten organisieren, die Welt oder bestimmte andere Kirchen oder Religionen als «die Bösen» oder als «von Satan» hinstellen. Die eigene Glaubenswelt ist wie ein Zufluchtsort vor der bösen Welt. Vielleicht kann man das nicht direkt als übliche Verschwörungstheorie hinstellen, jedoch gibt es vergleichbare Mechanismen. Innerhalb der Gemeinde sind die Guten, ausserhalb der Gemeinde sind die Bösen. Wir verstehen und die anderen verstehen nicht. Das ist eine Scheinwelt und das Böse wird nach aussen projiziert.

Hat Gott alles im Griff?

Wie wir die Welt verstehen, hat zutiefst mit unserem Selbstbild, aber auch mit unserem Gottesbild etwas zu tun. Hängen wir eine Theologie an, die sich der Rettung und Zurechtbringung der Welt verschliesst, dann ist das eine völlig andere Ausgangslage, als wenn wir einen Gott kennen, der durch Gnade und Gericht einst alles in allen sein wird (1Kor 15,28). Es ist nicht egal, was wir glauben, denn es beeinflusst unser Leben in dieser Welt. Es geht auch darum, ob wir Gott alles zutrauen oder eben nicht. Lassen wir uns dabei von der Bibel leiten, finden wir eine frohe Botschaft, worin Gottes Gnade in Christus Jesus so umfassend dargestellt wird, dass Er mit allen Menschen zum Ziel kommt (1Tim 4,9-11).

Das Evangelium lehrt nicht, dass wir uns vor der Realität verstecken müssen. Jesus Christus kam, um in der realen komplexen Welt zu wirken und das Leben ganz normaler Menschen von Gottes Gnade verwandeln zu lassen. Dafür braucht es keine alternativen Fakten, sondern die Verkündigung einer frohen Botschaft, worin ein allmächtiger Gott letztendlich alles zum Guten führt. Das ist das Ziel. Darauf kann man vertrauen.

Es besteht jedoch nach wie vor ein grosser Kontrast zwischen der komplexen Realität und diesem Ziel (Röm 8,22-24). Es wird nicht für jeden einfach sein oder einfach bleiben, sich von «alternativen Fakten» fernzuhalten. Wir stehen in einer «gebrochenen Welt». Wir selbst spüren das. Es gibt keine einfachen Lösungen. Die Komplexität dieser Welt verlangt, dass wir manchmal warten müssen, bis Lösungen gefunden werden. Für manche Dinge wird es in unserer Lebenszeit keine Lösung geben. Ob wir deshalb mit uns selbst, mit dieser Welt und mit Gott im Frieden sind, kann eine Herausforderung sein. Zuspruch und Weitblick für das eigene Verständnis darf es jedoch in Gottes Wort geben.

Nüchternheit verlangt, dass wir von unseren eigenen Ansichten auch mal auf Distanz gehen. Wir brauchen regelmässig eine Auszeit von Corona-Nachrichten, von Verschwörungstheorien, von Schwermütigkeit und belastenden Situationen. Nüchternheit zeigt sich manchmal einfach darin, dass man die Medien abschaltet, die Laufschuhe anzieht und in den Wald spazieren geht. Es ist oft erstaunlich, welche erholsame Wirkung davon ausgehen kann. Vielleicht kann man sich irgendwo in der Sonne hinsetzen und zur Entspannung die Geschichte von Don Quijote lesen.


Weiterführende Links

Der Anfang der Geschichte

«An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Windhund zum Jagen haben. Eine Schüssel Suppe mit etwas mehr Kuh- als Hammelfleisch darin, die meisten Abende Fleischkuchen aus den Überbleibseln vom Mittag, jämmerliche Knochenreste am Samstag, Linsen am Freitag, ein Täubchen als Zugabe am Sonntag – das verzehrte volle Dreiviertel seines Einkommens; der Rest ging drauf für ein Wams von Plüsch, Hosen von Samt für die Feiertage mit zugehörigen Pantoffeln vom selben Stoff, und die Wochentage schätzte er sich’s zur Ehre, sein einheimisches Bauerntuch zu tragen – aber vom Feinsten! Er hatte bei sich eine Haushälterin, die über die vierzig hinaus war, und eine Nichte, die noch nicht an die zwanzig reichte; auch einen Diener für Feld und Haus, der ebenso wohl den Gaul sattelte als die Gartenschere zur Hand nahm. Es streifte das Alter unsres Junkers an die fünfzig Jahre; er war von kräftiger Körperbeschaffenheit, hager am Leibe, dürr im Gesichte, ein eifriger Frühaufsteher und Freund der Jagd. Man behauptete, er habe den Zunamen Quijada oder Quesada geführt – denn hierin waltet einige Verschiedenheiten in den Autoren, die über diesen Kasus schreiben -, wiewohl aus wahrscheinlichen Vermutungen sich annehmen lässt, daß er Quijano hiess. Aber dies ist von geringer Bedeutung für unsre Geschichte; genug, daß in deren Erzählung nicht um einen Punkt von der Wahrheit abgewichen wird.»