Zorn Gottes? Ist das noch zeitgemäss? Was soll ich mir dabei vorstellen?

Nach der einleitenden Zusammenfassung über den Wandel der Menschheit (Römer 1,18-3,20) wenden wir uns jetzt dem Text noch einmal genauer zu. Der Abschnitt beginnt so:

«Denn es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen.»
Röm 1,18

Wie wir solche Aussagen lesen, hat viel mit unserem Verständnis vom Neuen Testament zu tun. Wenige erfahren und erkennen, dass unsere heutige Zeit von Gnade geprägt ist. Gnade Gottes ist der Gegensatz von Zorn Gottes. Wenn ich heute etwas falsch mache, kommt nicht sofort ein Blitz aus dem Himmel, um mich zu verzehren. In der heutigen Zeit geht es nicht um das, was ich tue, sondern um das, was Er getan hat. Gott hat sich selbst mit dieser Welt versöhnt und rechnet ihnen aktuellen Kränkungen nicht an (2Kor 5,18-21). Gnade prägt die heutige Zeit, nicht Zorn.

Naherwartung im Neuen Testament

Jesus, die Apostel und auch Paulus lebten in einer Naherwartung. Sie sahen sich nahe am messianischen Reich. Gemäss ihrer Erwartung wäre ihre Zeit vorübergehend und keiner hätte sich vermutlich vorstellen können, dass es mindestens noch 2000 Jahre weitergeht (wo wir jetzt leben). Diese Naherwartung spielt im Kontext vom Neuen Testament immer wieder eine Rolle. So spricht Paulus von einer kommenden Zeit von Gericht. Er sieht einen Wechsel kommen, der mit seiner aktuellen Zeit direkt nichts zu tun hat. Auch Jesus hatte von einem Wechsel von diesem Äon zum kommenden Äon gesprochen (Mk 10,30). Die Jünger von Jesus hatten nach dem Abschluss dieses Äons gefragt, und danach, was dann geschieht (Mt 24,3). Jesus gab auf ihre Frage eine ausführliche Antwort, die wir in Matthäus 24 und 25 nachlesen können.

Wenn wir uns selbst im Licht von 2000 Jahren Kirchengeschichte erkennen, dann erscheint eine Änderung unvorstellbar. Gottes Haltung zur Kirche, zu den Gläubigen, ist heute wohl doch genauso wie damals! Das ist richtig, aber niemand im Neuen Testament hätte wohl die Kirchengeschichte vorausgesehen, noch, dass das Gottesreich nach 2000 Jahren weiterhin nicht gekommen wäre, wie Jesus darüber gesprochen hat.

Auch wenn es für uns fremd erscheint, so ist die Naherwartung im Neuen Testament ganz real. Deswegen konnte Paulus auch ganz nüchtern vom kommenden Zorn sprechen, weil er eine Änderung der Geschichte als bevorstehend einschätzte.

Zorn ist auf der Erde

«Denn es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen»
Röm 1,18

Gottes Zorn ist «vom Himmel her», also auf der Erde. Was Paulus vor Augen steht, ist keine Hölle, noch ein Gericht irgendwo im Nirgendwo, sondern ein nüchternes Eingreifen Gottes hier auf Erden. Das nämlich war der Ausblick von Jesaja, der schrieb:

«Siehe, der Tag des HERRN kommt, grausam, mit Grimm und Zornglut, um die Erde zur Wüste zu machen; und ihre Sünder wird er von ihr austilgen.»
Jes 13,9, vgl. Jes 13,13

Es ist die Erde, die an diesem Tag zur Wüste gemacht wird und es werden dann und dort Sünder ausgetilgt. Also auch hier keine Spur von einem ewigen Gericht, sondern von einer Gerichtszeit an diesem «Tag des HERRN». Dieser Tag kommt «mit Grimm und Zornglut». Es ist sozusagen der Anfang, der Beginn vom Tag des Herrn.

Versuchen wir uns vorzustellen, worum es hier geht, so unbeholfen wie das mit wenigen Textverweisen möglich ist:

  • Es kommt einen Umbruch von dieser Zeit in die nächste, von diesem Zeitalter in das nächste.
  • Die nächste Zeit ist der zukommende Äon, von dem Jesus bereits gesprochen hat.
  • Das ist das messianische Reich, von dem die Propheten sprachen.
  • Dieser Umbruch verläuft nicht glatt, sondern mit «Grimm und Zornglut». Erst durch Gericht hindurch geht es offenbar weiter.
  • Es werden Menschen umkommen (die dann tot sind – schlimm genug, aber nicht schlimmer als das!).

Tag des Zorns bei Paulus

Im nächsten Kapitel vom Römerbrief schreibt Paulus ebenfalls über den Tag des Zorns:

«Gemäss deiner Härte und deinem unumsinnenden Herzen speicherst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Enthüllung des gerechten Gerichts Gottes, der jedem seinen Werken gemäss vergelten wird.»
Röm 2,5-6

Dies liest sich wie eine Zusammenfassung. Paulus beschreibt Zorn aus dem Verständnis heraus, dass es der Mensch ist, der durch seine eigene Haltung sich selbst Zorn anhäuft. Und zwar wird das sichtbar werden am «Tag des Zorns», nämlich bei der «Enthüllung des gerechten Gerichts Gottes». Zuerst sollte man hier klarstellen, dass nirgendwo von einem «ewigen Heil» gesprochen wird und es hier nicht um «Himmel oder Hölle» geht. Das wird mit keinem Wort erwähnt. Dieses Gericht wird nur klarstellen, was man selbst gelebt hat. Paulus schreibt:

«[Gott] … Der jedem seinen Werken gemäss vergelten wird.»
Röm 2,7

Es geht hier nicht um eine Werkgerechtigkeit (womit man sozusagen sein «ewiges Heil verdienen» könnte, sondern darum, dass beurteilt wird, wie man sein Leben gelebt hat. Das trifft für jedes in der Bibel genannte Gericht zu, dass man nach den eigenen Werken beurteilt wird. Zorn ist das, was man sich mit einem «unumsinnenden Herzen» einhandeln kann. Wer sich das einhandelt, muss es auch verantworten. Wenn das Gericht kommt, dann wird das der Fall sein. Das Gericht wird gerecht sein, und «Zorn und Grimm – Drangsal und Druck» kommen über jeden Menschen, der Übles treibt (Röm 2,8-10).

«Denn bei Gott ist kein Ansehen der Person. Denn alle, die ohne Gesetz sündigten, werden auch ohne Gesetz umkommen; und alle, die in dem Gesetz sündigten, werden durch das Gesetz gerichtet werden.»
Röm 2,11-12

Zorn Gottes vom Himmel her

Wenn Paulus im ersten Kapitel über «Zorn Gottes vom Himmel her» spricht, dann ist das kein neuer Gedanke. Vielmehr greift er bekanntes Gedankengut auf. Er verweist danach, was bei den Zuhörern (Gemeinde in Rom) bekannt ist.

Der Zorn Gottes ist der Kontrast zur Gerechtigkeit Gottes. Dazu wurde bereits im letzten Beitrag («Ungerechtigkeit der Menschen») mehr gesagt. Paulus kann an diese Dinge verweisen, weil solche Gedanken bekannt waren. Die Zuhörer waren damit vertraut, dass Gott einmal vom Himmel her ein Königreich aufrichten wird, das von Seiner Gerechtigkeit geprägt ist (vgl. Dan 2,44, Dan 7,27).

«Gross ist die Herrschaft, und der Friede wird kein Ende haben auf dem Thron Davids und über seinem Königreich, es zu festigen und zu stützen durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer des HERRN der Heerscharen wird dies tun.»
Jes 9,6

Der Zorn Gottes führt dorthin. Oder anders gesagt: Durch Gericht hindurch entsteht die neue messianische Zeit. Wenn wir der Zorn Gottes in diesem Zusammenhang erkennen, dann nimmt das viel von der Furcht, der vielen Menschen plagt.

Noch viel wichtiger ist es aber zu verstehen, dass Paulus nicht von uns spricht, sondern von anderen Menschen. Zorn ist nicht etwas, womit wir es zu tun haben. Auch wir werden beurteilt werden, auch als Mitglieder der Gemeinde, und auch wir werden danach beurteilt werden, was wir gemacht haben, aber es berührt nicht unsere Rettung und Befreiung durch Christus (1Kor 3,10-15). Wir selbst stehen in einer anderen Zeit.

Erleben wir den Tag des Zorns?

Der Tag des Zorns gilt nicht uns. Ich habe Menschen kennengelernt, die voller Angst über Gottes Zorn waren. Dieser Begriff wird in manchen Lehren mit ewigem Heil in Verbindung gebracht haben, und zwar so, dass man das ewige Heil auch verlieren könne und ein zorniger Gott nur auf uns wartet, dass wir vor Ihm erscheinen. Was für ein Schreckensbild! Angstzustände können die Folge sein. Wie gerade zuvor gezeigt, erscheinen diese Stellen in einem bestimmten Kontext. Dieser Kontext erzählt eine ganz andere Geschichte – oft sehr zur Befreiung von Kirchen geschädigten Menschen.

Es gibt noch eine weitere Angst. Manche befürchten, dass wir etwa durch die «Grosse Drangsal» gehen müssen (Mt 24,21). Eine solche Angst hört man eher bei Menschen mit freikirchlichem Hintergrund. Dort ist die Eschatologie, die Lehre über die Endzeit oft ausgeprägter. Dieser Begriff stammt aus der Endzeitrede von Jesus und es ist eine Antwort auf die Frage der Jünger «Welches ist as Zeichen Deiner Anwesenheit und des Abschlusses des Äons?» (Mt 24,3). Wenig erstaunlich ist es, dass sowohl die Rede vom Tag des Zorns als auch die einer grossen Drangsal beide von dieser Gerichtszeit sprechen, die den Übergang in die neue Zeit markiert. Beide Begriffe sind deshalb zeitlich begrenzt, beide beziehen sich auf eine Situation auf Erden und durch das Gericht hindurch werden manche gerettet und andere verurteilt. Im Detail liesse sich noch viel dazu sagen.

Der Zorn Gottes gilt nicht für die Gemeinde. Paulus schreibt den Thessalonichern, dass wir von Jesus «aus des Zorns Kommen» geborgen werden.

«Und auf Seinen Sohn aus den Himmeln zu harren, den Er aus den Toten auferweckt hat, Jesus, der uns aus des Zorns Kommen birgt.»
1Thess 1,10

Jesus wird uns nach dieser Aussage «aus des Zorns Kommen bergen». Das liegt nahe, dass wir den Zorn kommen sehen, aber bevor sie ganz eintrifft, wird Er uns daraus retten. Er rettet aus dem Kommen des Zorns. Das sagt Paulus auch im Römerbrief noch einmal, und zwar mit folgenden Worten:

«Gott aber hebt uns gegenüber Seine Liebe dadurch hervor, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren. Wieviel mehr folglich (!) werden wir, nun in Seinem Blut gerechtfertigt, durch Ihn vor dem Zorn gerettet werden!»
Röm 5,9

Wir erwarten die Rettung, nicht den Zorn:

«Denn Gott hat uns nicht zum Zorn gesetzt, sondern zur Aneignung der Rettung durch unseren Herrn Jesus Christus.»
1Thess 5,9

Voller Gnade und Güte

Unser Gott ist voller Gnade und Güte uns gegenüber. Er sieht uns in Christus an. Das begründet die Gnade, die 100% uns gilt. In der heutigen Zeit ist Gnade das Stichwort. Eine kommende Gerichtszeit war für Jesus, für die Apostel und für Paulus ganz normal. Einmal wird es anders werden und Gottes Reich wird mit Macht aufgerichtet. Dieser Umbruch wird mit einem Tag des Zorns beginnen. Darin wird gerade gerückt, was schräg und schief war. Denn es wird einen Tag geben, wenn Gott das Verborgene der Menschen richten wird, gemäss dem Evangelium von Paulus, durch Jesus Christus (Röm 2,16).

So kann eine neue Zeit anbrechen. Das ist das Ziel vom Zorn Gottes.