Das «Halten des Gesetzes» gehört zweifellos zu einer Religiosität, die sich an Regeln orientiert. Im einfachsten Schwarzweiss-Denken: Gut ist, wer die Regel einhält, schlecht ist, wer dagegen verstösst. Ob das Gesetz – insbesondere hier das mosaische Gesetz, also das Gesetz, welches Mose den Kindern Israel vermittelte – auch als moralische Grundlage für Christen gelten soll, will hier etwas untersucht werden.

Religiosität und Gesetzlichkeit

Manche können sich eine Religiosität ohne Regel kaum vorstellen. Das ist die Ursache gesetzlichen Denkens. Es ist geradezu Ausdruck von «Glauben», dass man den (angenommenen) Gesetzen zur Grundlage des Lebens bestimmt. Solche Regeln geben vermeintliche Sicherheit. Einerseits sieht man die Gesetze als eine Art Kompass in der Welt, andererseits liesse sich durch Einhalten der Forderungen konkrete Schritte unternehmen, sich «Gott-Konform» zu verhalten, vielleicht aber sogar sich selbst «zu verbessern» und sich Gott dadurch zu nähern.

Dabei kann es passieren, dass eine Denkkultur entsteht, die «gesetzlich» wird. Religiosität drückt sich in Ritual aus, und zwar solche Rituale, die man im Alltag verankert. Woran kann man denken? Man kann aus religiösen Gründen sich selbst Dinge auferlegen. Es geht um Kleidung, die Art der Sprache, die Wörter, die man verwendet. Es kann um bestimmte Gewohnheiten gehen, um (selbstauferlegte) Regeln und Verbote, die man einhaltet. Religiosität davon lebt, sich von anderen (und sich selbst) abzugrenzen. Bestimmt ist dies nicht die einzige Art «religiös» zu sein, aber es sei hier im Kontext der «Frage nach dem Gesetz» einmal erwähnt.

Die 10 Gebote als Grundlage?

In manchen Kirchen gehört es zum Selbstverständnis, dass man die 10 Gebote jeden Sonntag vorliest. Wo man das nicht tut, kann es trotzdem sein, dass ebendiese Gebote als eine Art «moralische Grundlage» gesehen werden (das Gesetz Mose in kondensierter Form). Wer das infrage stellt, dem unterstellt man nicht selten «Gesetzlosigkeit». Als wäre alles entweder schwarz oder weiss. Dahinter liegt oft die Angst, dass ohne Gesetz jeder einfach macht, was er will und dies per definitionem das Üble in der Welt hervorruft. Man soll sich einmal das Menschenbild vorstellen, was daraus spricht. Die Alternative zu diesem gedanklichen Kurzschluss wäre eine mehr differenzierte Betrachtung. Differenziert meint hier nicht «verwässert», sondern «in Detail geprüft, geklärt und abgewogen».

Ob die 10 Gebote gut oder nicht gut sind, ist im Rahmen dieses Textes nicht relevant. Zwar haben die Gesetze Relevanz, nämlich Bedeutung, aber die Frage hier wäre eine andere: Müssen wir als Christen (als Glaubende aus den nicht jüdischen Völkern) diese Gebote befolgen? Verlangt Gott das von uns? Gerade diese Sicht wird von einigen vehement vertreten. Die konkrete Frage hier ist: Sind die 10 Gebote uns, den Nachfolgern von Christus, von Gott gegeben und bindend? Damit zusammenhängend: Wenn wir jetzt diese 10 Gebote befolgen, können wir danach endlich das tun, was wir immer schon wollten?

Selbstverständlich kann man nicht einfach mal ein Teil aus dem Alten Testament herauslösen, um diesen Teil dann als absoluten Leitfaden für heute zu bestimmen. Damit wird man weder dem biblischen Text noch die Herausforderungen unserer Welt gerecht. Es wäre auch irreführend zu meinen, dass es nur diese 10 Gebote gäbe. Tatsächlich gibt es Hunderte Anweisungen und Gebote. Sie alle stehen in klar definierten Kontexten. Sie lassen sich also bestens prüfen.

Den Erwartungen genügen

Wer Gesetze hält, tut das nicht selten deshalb, weil man meint, dass Gott dies von einem erwartet. Zum Glück kann man eine solch konkrete Frage oder Idee auch prüfen. Stimmt das? In welche Zusammenhang steht das?

Nicht überall wird ein solches Hinterfragen jedoch toleriert. Wer in seinem Umfeld mit (ungeschriebenen) Gesetzen und Gesetzlichkeit konfrontiert wird oder in einem solchen Umfeld aufgewachsen ist, kann damit sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Ohne die Frage nach dem «richtig» oder «falsch» zu stellen, kann es auf Menschen unterschiedliche Effekte haben. Es kann positiv erfahren werden (als religiöse Befreiung: «ich kann mich dadurch Gott nähern»), oder ganz negativ empfunden werden (als religiöser Zwang: «ich muss das tun, ob ich will oder nicht»). Religiös geprägte Gemeinschaften können auf die Mitglieder einen riesigen Druck ausüben.

Es geht bei einer Religiosität mit Gesetzmässigkeiten auch um Heilsversprechen. Dadurch werden gesetzliche Lebensentwürfe von manchen als positiv empfunden. Einhalten des Gesetzes verspricht Heil oder gar Heilung (ein Abklatsch davon heisst dann «Ordnung»). Zweifellos ist eine nüchterne und positiv ausgerichtete Lebenshaltung einem chaotischen und destruktiven Lebensstil vorzuziehen. Aber heiligt der Zweck die Mittel? Und: Fordert Gott von mir das Halten der Vorschriften? Und was geschieht, wenn es mir nicht gelingt, diese Vorgaben zu erfüllen? Heilsversprechen können sehr tückisch sein. Oder soll mein Leben eher aus der Gnade heraus gestaltet werden?

Wer das Gesetz als Grundlage des täglichen Lebens sieht (was immer das auch heissen mag), darf sich fragen, was die Grundlage des eigenen Gottvertrauens und des Glaubens ist. Es geht hier um das Spannungsfeld zwischen Vertrauen einerseits («Glaube») und Gesetze befolgen («Werken») andererseits. In Konsequenz geht es auch um das Spannungsfeld zwischen Gnade und Gesetzlichkeit.

Wie steht es nun in der Bibel? Wenn man behauptet, wir Christen müssen das Gesetz befolgen, wo steht dies dann? Und wie ist das heute umzusetzen? Immer wieder werde ich mit Fragen zu diesem Themenbereich konfrontiert. Es sind oft aufrichtige Fragen, und nicht selten scheint es, als lassen Kirchen und Gemeinden die Gläubigen mit solchen Fragen im Regen stehen. Das ist nicht gut, denn das geistliche Vakuum will gerne aufgefüllt werden – und was käme dafür infrage? Sekten und sektiererische Pseudo-Religiosität treten gerne an der Stelle gesund-nüchterner Theologie. Religiosität und Glaube sind nicht dasselbe und fromme Lebensentwürfen sind noch kein Beweis des göttlichen Ursprungs aller Anweisungen und Ideen.

Die Bibel interpretieren

Wenn ich prüfen will, was Gott von mir will, dann kann ich sinnvollerweise die Bibel darauf nachschlagen. In der Bibel jedoch stehen ganz unterschiedliche Dinge, und auch die Zeiten haben sich laufend geändert. Wie ist es nun mit den Gesetzen? Jemand schrieb beispielsweise auf dem Forum von jesus.ch (livenet.ch):

Meine Frage: Was ist mit den Gesetzen und Geboten des Alten Testaments?
a) Sind sie alle ungültig?
b) Sind nur einige ungültig? Wenn ja, weshalb?
c) Sind alle noch gültig?

Das sind gute Fragen. Sie lassen sich benennen und konkret beantworten. Wer prüft das? Es geht hier um das Verständnis der Bibel. Es geht darum zu verstehen, was heute gültig ist und weshalb. Als ich diese Fragen in einer Gemeinschaft stellte, kam sofort der Kurzschluss. Der Kurzschluss läuft dann so ab:

In den 10 Geboten steht, dass man nicht morden soll. Gelten die Gebote nicht für uns, dann heisst das, dass wir indessen doch morden können?

Eine solche Forderung ist absurd und verkennt das Anliegen. Es geht nicht darum, ob wir morden dürfen oder nicht, sondern es geht darum, ob die Gebote, die ausdrücklich an Israel gegeben waren, auch uns gelten? Es geht um das Konstrukt, nicht um die einzelnen Fragen. Die einzelnen Fragen lassen sich nämlich auch ohne das Gesetz beantworten. Es ist nicht so, dass wir «nur durch das Gesetz» wüssten, dass man andere Menschen nicht ermordet. Wir können die 10 Gebote sogar gut finden und danach leben, ohne sie als «Bedingung für das Heil» zu formulieren, die wir zu erfüllen haben.

Etwas bleibt bei der Beantwortung dieser Fragen oft ausser acht: Wer hat Was zu Wem geschrieben? Es sind dies grundlegende Fragen, die wir jeden Bibeltext stellen sollten (ergänzt von: Warum? Wozu? Wann?). Ein induktives Bibelstudium hilft bei der Suche nach geeigneten Ansätzen.

Es gibt nur einen Gott, aber der handelt nicht immer gleich. Zwar ist Gott immer Derselbe, aber Zeiten ändern sich. Botschaften ändern sich. Nicht alles gilt heute (Arche bauen, Neue Himmel und Neue Erde). Nicht immer richtet sich ein Bibelwort an uns heute (als sind wir direkt und buchstäblich genannt). Zwar können wir aus jedem Bibelwort etwas lernen (2Tim 3,16-17), aber nicht überall richtet sich Gott in Seinem Wort an uns persönlich.

Manchmal spricht Gott nur zu Noah, oder nur zum Volk Israel, und manchmal auch nur zur heutigen Gemeinde aus allen Nationen. Wir können die Zielgruppen nicht einfach ausblenden, sowenig wie wir straflos einfach die Post des Nachbarn öffnen und auf uns selbst beziehen können (z.B. Lohn, Rechnungen, Strafzettel, Lottogewinn). Oder mit anderen Worten: Alles ist zwar in übertragenem Sinne für uns geschrieben worden – damit wir daraus etwas lernen, aber nicht alles spricht buchstäblich von uns.

Alles ist für uns, aber nicht alles spricht von uns.

Ob nun das Gesetz gültig oder ungültig ist, d.h. ob wir heute die 613 Gebote und Verbote aus der Thora befolgen sollten oder nicht, ist eine Frage nach dem Kontext. Zweifellos passen sie im Kontext, worin sie gegeben wurden. Die Frage ist, ob das auch unser Kontext ist? Hat sich seitdem etwas geändert? Hat sich vielleicht die Zielgruppe geändert – sind wir Teil der Zielgruppe oder nicht? Und: Glaube ich die Angaben der Bibel?

Das mosaische Gesetz

Das Gesetz, welches Gott via Moses dem Volk Israel gab, wurde nur diesem Volk gegeben. Dieses Gesetz gilt ausschliesslich Israel. «Das sind die Ordnungen und die Rechtsbestimmungen und die Gesetze, die der HERR zwischen sich und den Söhnen Israel auf dem Berg Sinai durch Mose gegeben hat» 3Mo 26,46.

Wie war es nun mit den übrigen Völkern? Diese hat Gott alle ihre eigenen Wege gehen lassen: «Er liess in den vergangenen Geschlechtern alle Nationen in ihren eigenen Wegen gehen» (Apg 14,16).

Wer darauf beharrt, dass wir, als Gläubige aus den Nationen, wie Israel ebenfalls dazu angehalten sind, das Gesetz von Mose zu befolgen, der hat das Wesen des Gesetzes und die einzigartige Zuordnung zum Volk Israel bislang nicht erfasst.

Die Botschaft von Jesus in den Evangelien

Es gibt eine unglaubliche Verwirrung darüber, was in der Bibel direkt zur heutigen Gemeinde spricht und was zu anderen Zielgruppen. Eine weitverbreitete Ansicht ist die, dass das Alte Testament den Juden betraf und das Neue Testament für die Kirche heute ist. Oder, salopp gesagt: Überall, wo Jesus draufsteht, steckt heutige Gemeinde drin. Das ist eine Fehleinschätzung.

Überall, wo Jesus draufsteht, steckt heutige Gemeinde drin?

Jesus selbst sagt etwa ganz eindeutig über seine Aufgabe in den Evangelien: «Er aber antwortete und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.» (Mt 15,24). Erst wenn wir eine solche Aussage glauben, können wir vieles in den Evangelien besser einordnen. Paulus hat dies übrigens später noch einmal bestätigt, als er den Römern schrieb: «Denn ich sage, dass Christus ein Diener der Beschneidung geworden ist, um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheissungen der Väter zu bestätigen» (Röm 15,8). Paulus hat also die Aussage von Jesus ernst genommen.

Paulus als Apostel für die Nationen

Weder Jesus in den Evangelien noch die 12 Apostel sind je zu den Nationen ausgegangen. Einzig Proselyten wie Cornelius wurden (mit Mühe!) an Israel «angedockt». Das ändert sich erst, wenn Paulus gerufen wird als «Apostel der Nationen» (Röm 1,5; 11,13; Gal 2,8; 1Tim 2,7). Wobei das Wort «Nation» die nicht jüdischen Völker bezeichnet). Paulus gehörte nicht zu den 12. Er war der 13. Apostel.

Weshalb hat es einen 13. Apostel benötigt? Das ist überaus seltsam, wenn man annimmt, dass etwa die 12 Apostel und Jesus bereits aktiv in aller Welt und zu allen Nationen unterwegs waren. Das waren sie geradezu nicht (Gal 2,8, Jk 1,1 u.a.). Oder mit anderen Worten: Jesus (in den Evangelien!) und die 12 Apostel haben sich ohne Ausnahme auf die Erfüllung der Verheissungen für Israel gerichtet (Apg 1,6; 2,36 u.a.).

Wenn man diese Unterscheidung einmal sieht, kann man nicht mehr aus dem Neuen Testament wegdenken. Es war für mich selbst unverständlich, dass ich das nicht früher erkannte. Trotzdem hat es einige Zeit gedauert, bis ich das schrittweise im ganzen Neuen Testament nachgespürt habe. Es war, wie wenn ein Schleier vom Text genommen wurde. Endlich konnte ich den Text für sich sprechen lassen und musste nichts mehr «vergeistlichen», oder umdeuten nach der verinnerlichten Lehre.

Verschiedene Zielgruppen, verschiedene Botschaften

Lesen und glauben wir diese Angaben in der Schrift (auch wenn sie unserer Tradition oder unserem aktuellen Verständnis zuwiderlaufen), dann haben wir eine Handhabe zur Beantwortung vieler Fragen. Sowohl bei Jesus (in den Evangelien) wie bei den 12 Apostel finden wir Hinweise auf das mosaische Gesetz. Das ist logisch, denn alle diese reden zu Israel oder sprechen von dem kommenden messianischen Reich.

Mit Paulus jedoch ändern sich die Dinge. Er offenbart bis dahin verborgene Geheimnisse (Röm 16,25; Eph 3,1-11). Als Apostel der Nationen spricht er zu einer anderen Zielgruppe.

Es geht nicht nur um Zielgruppen. Es geht auch um den Inhalt der Botschaft, und die ist anders als von den zwölf Aposteln. Die zwölf Apostel in Jerusalem und Paulus haben gegenseitig erkannt, dass Paulus mit dem Evangelium der Unbeschnittenheit betraut war, sowie die 12 mit dem Evangelium der Beschneidung (Gal 2,7-9). Zwischen beiden bestehen grosse Unterschiede, z.B. in Bezug auf das Gesetz.

Die Verwirrung entsteht m.E. dadurch, dass wir diese Unterscheidungen nicht beachten, welche die Apostel selbst klarstellten. Sie haben einander informiert und das Verbindende wie das Trennende gesehen. 2000 Jahre Kirchengeschichte hat vieles einfach vom Tisch gefegt, was Thema im Neuen Testament war. Deshalb sind wir geneigt, bestimmte Annahmen über die Bibel zu stülpen und denken, das sei die einzige und logische Sicht. Ich musste für mich selbst feststellen, dass ich nicht nur gläubig, sondern manchmal auch gutgläubig, sogar blauäugig den Text nach vorgefassten Meinungen gelesen habe.

Die Verwirrung entsteht m.E. dadurch, dass wir diese Unterscheidungen nicht beachten, welche die Apostel selbst klarstellten.

Wir haben alles durcheinander gebracht: Israel, Nationen, Leben und Glauben, Gesetz und Gnade. Wir haben so lange gehört, dass alles gleich ist, dass es nicht mehr auffällt, wie wir ständig die Schrift verdrehen, um alles passend zu machen. Das klärt sich jedoch, wenn wir die Zielgruppen beachten, die im Text klipp und klar genannt sind, um dann den Zusammenhang neu zu erfassen.

Paulus und Petrus

Besteht nun eine Diskrepanz zwischen den Aussagen von Jesus und den zwölf Aposteln einerseits und die von Paulus andererseits? Ja. Der gefühlte Widerspruch besteht tatsächlich. Wir müssen die Widersprüche jedoch nicht auf Biegen und Brechen zu harmonieren versuchen, sondern können gerade an den Unterschieden erkennen, dass Jesus und die 12 zu Israel sprachen, während Paulus zu den Nationen spricht. Dann gibt es zwei –in sich stimmige– Botschaften für zwei Zielgruppen.

Petrus hat bereits darauf hingewiesen, dass einiges von Paulus schwer zu verstehen ist (2Pet 3,15-16). Wenn aber Petrus eine andere Zielgruppe, eine andere Hoffnung als Paulus vor Augen hatte, lösen sich die vermeintlichen Widersprüche.

Es hat sich viel geändert – speziell im Hinblick auf die Nationen. Die 12 Apostel waren in froher Erwartung des messianischen Reiches für Israel.

  • Die Propheten sahen einen Segen für die Nationen, die durch Vermittlung von Israel zustande kommt (eine priesterliche Nation. 1Pet 2,9 Jes 2).
  • Bei Paulus jedoch kommt der Segen für die Nationen durch die Verwerfung von Israel (Röm 11,11-15, die auf eine Zeit begrenzt ist: Röm 11,25-29). Für Petrus muss das schwer verdaulich gewesen sein. Es war ganz anders, als Jesus oder die Propheten darüber gesprochen hatten.

Paulus und das Gesetz

Paulus hat eine ganz klare Einschätzung vom Gesetz: «Wir wissen aber, dass alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind» (Röm 3,19). Den Nationen jedoch war das Gesetz nie gegeben.

Die einzige Funktion des Gesetzes ist es zu zeigen, dass keiner es erfüllen kann: «damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. Darum: Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt; denn durchs Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.» (Röm 3,19-20). Das Gesetz bewirkt Zorn (und nicht etwa Gehorsam, oder Befreiung. Röm 4,15).

Was soll das Gesetz bezwecken? Das Gesetz wurde in dieser Welt für Israel zu einem anderen Zeitpunkt hinzugefügt, mit diesem Ziel: «Das Gesetz aber kam daneben hinzu, damit die Übertretung zunehme» (Röm 5,20). Das Gesetz ist gut, aber keiner kann die Forderung des Gesetzes erfüllen. In Konsequenz wurde das Gesetz gegeben, damit dies klargestellt wurde.

Wer heute versucht, das Gesetz zu halten, tut dabei nichts Verwerfliches, aber hat vermutlich nicht erkannt, für wen das Gesetz gegeben ist, noch zu welchem Zweck es gegeben wurde. Paulus klärt auf.

Nicht das Gesetz ist das Problem, sondern wir sind das Problem.

Paulus stellt klar, dass «das Gesetz heilig und das Gebot heilig, gerecht und gut» ist (Röm 7,12), aber, dass wir das nicht halten können (und nicht halten sollten!). Das Gesetz soll nur Übertretung aufzeigen (Röm 3,20). Nicht das Gesetz ist das Problem, aber wir sind das Problem: «Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft» (Röm 7,14). Wir können das Gesetz nicht halten, wir werden es nie halten können, auch wenn das Gesetz gut ist. Es ist etwas ganz anderes nötig.

Ein neuer Fokus für heute

Paulus beschreibt das Evangelium für heute wie folgt: «Nun aber hat sich, getrennt vom Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart (vom Gesetz und den Propheten bezeugt), eine Gerechtigkeit Gottes aber durch den Glauben Jesu Christi, die für alle ist und auf alle Glaubenden kommt. Denn da ist kein Unterschied; denn alle [sprich: Juden und Heiden] sündigten und ermangeln der Herrlichkeit Gottes» (Röm 3,21-23).

Es soll klargestellt werden, dass das Gesetz, wie gut auch, stets nur unsere Anstrengung im Mittelpunkt hätte. Paulus dagegen erklärt, dass im Evangelium Gottes Wirken zentral steht. Das Gesetz forderte vom Menschen Gerechtigkeit. Das Evangelium der Gnade spricht jedoch von Gottes Gerechtigkeit. Das sind verschiedene Dinge. Diese Gerechtigkeit, die Gott selbst am Kreuz erreicht hat, wird uns nun geschenkt. Es ist eine umwerfende Botschaft, die nicht von meinem Tun, sondern von Gottes Tun abhängig ist.

Wird das Gesetz aufgehoben?

Nein, das Gesetz wird nicht aufgehoben, aber die Gnade woran wir teilhaben, läuft nicht via das Gesetz. Das Evangelium, welches Paulus verkündigt, spricht davon, dass etwas «Getrennt vom Gesetz» geschieht. Es geht im Evangelium um Gottes Gerechtigkeit, nicht um unsere Gerechtigkeit (Röm 1,16-17). Gottes Gerechtigkeit wird nicht durch das Gesetz erfüllt (das nur menschliche Fehler aufdecken kann), sondern wird durch Jesus Christus, durch Kreuz und Auferstehung bestätigt (Röm 4,25).

Wer sich also heute auf das mosaische Gesetz ausrichtet, verkennt die Gnade, wodurch wir berufen sind. Den Galatern musste Paulus in aller Klarheit schreiben:

«O ihr unvernünftigen Galater, wer hat denn euch bezaubert, vor deren Augen Jesus Christus als Gekreuzigter gezeichnet wurde? Nur dies eine will ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist aus euren Gesetzeswerken erhalten oder beim Hören von Seinem Glauben? So unvernünftig seid ihr? Habt ihr im Geist den Anfang unternommen, um ihn nun im Fleisch zu vollenden?». Der Apostel nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er in seinem Brief immer wieder darauf eingeht: «Ihr seid des Segens enthoben und von Christus abgetrennt, die ihr durch das Gesetz gerechtfertigt werden wollt: ihr seid aus der Gnade gefallen!»
Gal 5,4

Gnade ist nämlich ganz anders. Aus der Gnade heraus kann Paulus schreiben: «Ihr wurdet doch zur Freiheit berufen, Brüder; nur lasst die Freiheit nicht zu einem Anlass für das Fleisch werden, sondern sklavet einander durch die Liebe! Denn das gesamte Gesetz wird in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» (Gal 5,13-14).

Der eigentliche Knacknuss

Der eigentliche Knacknuss im Verständnis sind nicht die Aussagen über das Gesetz, sondern es geht um das Verständnis dieser Aussagen im jeweiligen Kontext. Können wir sie im eigenen Kontext korrekt interpretieren? Da behindern so manche Traditionen den klaren Blick. Wollen wir dem Text gerecht werden, sollten wir den Anstand haben, zumindest nach dem damaligen Verständnis zu fragen. Wie die Bibelstellen hier oben aufzeigen, erklärt Paulus vieles im Römerbrief, speziell in den Kapitel 3–5. Den Römerbrief also eingehend zu studieren, wird viel Licht auf diese Fragen schenken. Aber erst, wenn wir aus der Schrift erkennen, dass Paulus zu anderen Menschen spricht als Jesus und die 12, kann ein Verständnis für die Texte im eigenen Licht gewonnen werden.

Die Herausforderung der Frage «Gilt das Gesetz auch heute noch?» liegt im Verständnis, das wir für biblische Zusammenhänge haben. Es ist die theologische Brille, die wir tragen, die unser Verständnis prägt. Meinen wir, dass «alles in etwa dasselbe» ist, müssen wir viele Angaben «vergeistlichen». Wir müssen dann alles auf ethische oder moralische Werte reduzieren, und anderslautende Aussagen ausser Acht lassen. Es wird der Schrift m.E. nicht gerecht, wenn wir alles «vergeistlichen». Auch wenn es wertvolle Einblicke und nützliche Verallgemeinerungen gibt, wurde jeder Bibeltext zuerst einmal im eigenen Zusammenhang geschrieben, gehört und verstanden.

Vertiefung

Thesen zur Diskussion

  • Das Gesetz, welches Mose dem Volk Israel hinterliess, wurde nie als Leitfaden für die heutige Gemeinde gegeben
  • Die Bibel ist nicht gesetzlich, sondern nur unsere Interpretation kann es sein
  • Regelverliebtheit (Gesetzlichkeit) tritt leicht anstelle eines nüchternen Glaubens
  • Verwirrung in Bezug auf das «Halten des Gesetzes» kommt aus der Nichtbeachtung biblischer Zusammenhänge.