Was «Glaube» ist oder sein soll, ist für viele nicht klar. Nicht wenige fühlen sich unsicher. Das Problem ist häufig die Frage «Wie glaube ich richtig?». Das ist verständlich. Wer unsicher ist, will gerne etwas richtig tun. Solche Not zeigt aber auch, was in Gemeinden und Gemeinschaften gelehrt wird. Leider. Gott selbst wird häufig als derjenige geschildert, der dieses und jenes von uns verlangt. Damit sind wir plötzlich von einem schlichten «Glauben» (wörtlich: Vertrauen) zu einem gesetzlichen Denken abgerutscht – als müssten wir etwas erfüllen, etwas tun, bevor Gott uns begegnen kann. Aber ist das so? Oder spricht das Evangelium der Gnade gerade von etwas anderem?

Mancher Glaubensweg fangt wunderbar an, getragen von Gottes Gnade, aber dann kommt die christliche Subkultur, die ein Raster für «Richtig» und «Falsch» vorgibt. Damit sind die Probleme vorprogrammiert. Paulus erkannte dies ähnlich, als er die Gemeinde in Galatien schrieb:

«O ihr unvernünftigen Galater, wer hat denn euch bezaubert, vor deren Augen Jesus Christus als Gekreuzigter gezeichnet wurde? Nur dies eine will ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist aus euren Gesetzeswerken erhalten oder beim Hören von seinem Glauben? So unvernünftig seid ihr? Habt ihr im Geist den Anfang unternommen, um ihn nun im Fleisch zu vollenden?»
Galater 3,1-3

Man kann gut anfangen, aber falsch enden, etwa, wenn man von Gnade in Gesetzlichkeit abrutscht. Man kann von Kraft zu Krampf absteigen. Dabei sollte aber gerade der Gegensatz stattfinden. Paulus schreibt Timotheus, seinem «Kind im Glauben» (1Tim 1,2; 2Tim 1,2):

«Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit, sondern der Kraft und der Liebe und der gesunden Vernunft gegeben.»
2Tim 1,7

Mit diesen Worten ermutigt Paulus seinem Mitarbeiter. Keine Verzagtheit, sondern Kraft, Liebe und gesunde Vernunft! Es ist, als rüttelt Paulus Timotheus wach. Das sind klare Worte. Offenbar hat Timotheus gerade dies gebraucht. Wie gut, dass nun auch wir von diesen Worten lernen können. Es ist auch ein Gegensatz, nämlich «nicht dies», «sondern das». Hier liest man, wie gesunder Glaube auf den Punkt gebracht wird. Kraft, Liebe und gesunde Vernunft sind das, was aus einem gesunden Glauben hervorgehen sollte. Das sollte die Frucht des Evangeliums kennzeichnen. So sollten wir im Leben stehen.

Schauen wir diese Ermutigung etwas näher an.

Kraft

Kraft ist die Fähigkeit zum Vollbringen (Mt 25,15). Das Wort vom Kreuz, schreibt der Apostel, ist zwar denen, die umkommen, eine Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft (1Kor 2,18). Das Kreuz ist der Ausdruck von Gottes Fähigkeit zum Vollbringen. Paulus hat nie auf seine eigene Kraft gebaut, sondern ging stets davon aus, dass er und die anderen Glaubenden von Gottes Kraft getragen sind.

«Und mein Wort und meine Heroldsbotschaft bestand nicht in überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht in der Weisheit der Menschen, sondern in der Kraft Gottes gegründet sei.»
1Kor 2,4-5

Liebe

Die selbstlose Liebe (gr. agape) ist das Wesen Gottes (1Joh 4,8). Sie ist ausgegossen in unseren Herzen:

«Die Erwartung aber lässt nicht zuschanden werden, weil die Liebe Gottes in unseren Herzen ausgegossen ist durch den uns gegebenen heiligen Geist.»
Röm 5,5

Heiliger Geist ist uns gegeben und ebenso ist dadurch die Liebe Gottes in unseren Herzen ausgegossen worden. Es sind zwei positive Bestätigungen der Realität. Wer glaubt, hat die Liebe Gottes erfahren. Sie ist unverrückbarer Teil seiner Gnade. Wir haben die Liebe Gottes nicht nur gesehen und erfahren (in Christus), sondern diese selbe Liebe auch durch seinen Geist erhalten. Wenn wir im Glauben stehen und im Vertrauen leben, wird dieser Glaube durch Liebe nach aussen wirksam werden. Wir dürfen mit seiner Liebe rechnen und sollten keinen Vergleich mit unserer eigenen (fehlenden) Liebe machen. Glaube ist Vertrauen darauf, dass Gott mittels seines Geistes in Dir und mir wirkt, ebenso wie Er an der Welt wirkt. Glaube ist immer auf das Resultat orientiert. Liebe ist davon der Ausdrucksform.

«Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit etwas, sondern nur der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist.»
Gal 5,6

Liebe ist zentral im Glauben. Liebe ist weit wichtiger als jede Theologie, als jedes Verständnis. Allerdings ist es angebracht, immer wieder darauf hinzuweisen. Wir sollten einen guten Kurs beibehalten. Wir stehen darin nie allein.

«Im Übrigen, Brüder, freuet euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch zusprechen, seid gleich gesinnt, haltet Frieden, und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.»
2Kor 13,11

Gesunde Vernunft

Der dritte Begriff, der Paulus in seinem Brief an Timotheus erwähnt, ist «gesunde Vernunft» (gr. sophronismos). Es geht um einen «Geist der […] gesunden Vernunft». Als Sprachfigur des Zusammenhangs geht es um geistliche Vernunft, um eine geistliche Haltung. Es ist kein «Ingredienz» (als müssten wir diesen Geist irgendwo abholen), sondern es betrifft die Ausrichtung unseres Geistes.

Im Markus-Evangelium lesen wir, wie Jesus einen dämonisch Besessenen heilte, der danach bekleidet und ganz «vernünftig» (gr. sophroneo) war (Mk 5,15).

Gesunde Vernunft prägt einen gesunden Glauben. Es braucht keine Schwärmerei, aber auch keine falsche Unterwürfigkeit unter religiöse Regeln. Wenn der gesunde Lebensdrang unterbunden wird, soll man gesunde Vernunft walten lassen und klärend sprechen. Es gibt bereits zu viele Religionsgeschädigten.

Keinen Geist der Verzagtheit

Paulus war fortgeschrittenen Alters, als er Timotheus schrieb. Timotheus dagegen war ein junger Mann, betreut mit anspruchsvollen Aufgaben. Nun konnte Paulus den Timotheus aus seiner Lebens- und Glaubenserfahrung ermutigen. Er soll die «Gnadengabe Gottes, die durch Auflegen meiner Hände in dir ist, wieder anfachen» (2Tim 1,6). Offenbar stand Timotheus in der Gefahr, entmutigt zu werden, als würden die Aufgaben ihn über den Kopf wachsen.

«Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit, sondern der Kraft und der Liebe und der gesunden Vernunft gegeben.»
2Tim 1,7

Paulus erinnert ihn daran, was Gott uns gegeben hat. Timotheus soll an Gottes Zusagen festhalten. Verzagtheit entspringt der eigenen Wahrnehmung. Timotheus soll eine andere Position einnehmen. Was hat Gott uns gegeben? Keinen Geist der Verzagtheit, sondern einen Geist der Kraft und der Liebe und der gesunden Vernunft. Diese drei Dinge gehören zusammen. Wir könnten es vielleicht auch als «kraftvolle, vernünftige Liebe» oder als «liebevolle Vernunft zum Vollbringen» oder ähnlich benennen. Gemeint ist eine Geisteshaltung. Diese drei Dinge ergänzen sich. Sie werden in einem Atemzug genannt und es ist einen Geist «der Kraft und der Liebe und der gesunden Vernunft».

Keine Verzagtheit, aber auch keine falsche Frömmigkeit. Kein Fokus auf die eigene Schwäche, sondern auf Gottes Kraft und Liebe. Daraus wächst Zuversicht und ein durch Glauben gestärktes Menschsein. Als Christ sollten wir nüchtern sein, gesunde Vernunft zeigen, und uns darüber Gedanken machen, was wesentlich ist (Phil 1,9-10). An anderer Stelle schreibt Paulus, dass wir uns sollen «umgestalten lassen durch die Erneuerung eures Denksinns, damit ihr zu prüfen vermöget, was der Wille Gottes sei – der gute, wohlgefällige und vollkommene» (Röm 12,1-2). Dies läuft wie ein roter Faden quer durch seine Briefe hindurch. Gesunde Vernunft zeigen, in Liebe, ist Ausdruck eines kraftvollen Glaubens. Paulus ist nüchtern, aber voller Liebe und Kraft, denn das entspricht dem Evangelium.

Wer so sein Glauben gestaltet, der wird mündig und unabhängig. Überall dort, wo andere über unseren Glauben bestimmen wollen, wo die Gnade Gottes in Christus Jesus durch dogmatische Vorgaben, Traditionen, von vermeintlich geistlichen Spezialeffekten, von ideologischen Vorgaben oder von einer Personenabhängigkeit bedroht sind, sollten wir auf eine gesunde Distanz gehen. Gesunde Vernunft ist eben gerade das, was uns in dieser Welt dabei hilft, einen gesunden Glauben zu entwickeln.