Der Begriff «Gottesdienst» ist verwirrend. Nach heutigem Verständnis ist Gottesdienst das, was am Sonntagmorgen stattfindet. Der Kirchengang, der Feier am Morgen, das wird gemeinhin als Gottesdienst erkannt. Trotzdem ist dieses Wort verwirrend. Denn wenn wir den Wortlaut überlegen, dann tauchen ganz logische Fragen nach derer Bedeutung auf. Etwa dies: Ist der Kirchengang die Art, wie wir Gott dienen? Oder: Ist der Gottesdienst das, was Gott dient?

Zwiespältige Definitionen

Bei manchen ruft das Wort «Gottesdienst» zwiespältige Gefühle hervor. Es werden negative Gefühle damit verknüpft – Gefühle, die sich nicht selten auf Gott, auf die Kirche und auf Glauben allgemein übertragen werden.

Das Wort ist nicht immer positiv besetzt. So erzählte mir letzthin jemand, dass er in eine katholische Schule gegangen war, und mehrfach in der Woche war dort der Kirchenbesuch Pflicht. Während allen Schuljahren hat er jedes Mal die Hostie verweigert. Dieser Zwang, und die vielleicht ganz gesunde ablehnende Haltung, der kann jemand ein Leben lang verfolgen.

Es gäbe noch weitere Beispiele. Sie erinnern mich immer wieder an die Menschen, die als Kind jedes Wochenende gezwungen waren in die Berge zu gehen und zu wandern. Manch einer hat danach über Jahrzehnte hinweg eine Abscheu gegenüber dem Wandern beibehalten. Solche Erfahrungen können tief gehen. Erst wenn man irgendwann zu einer ganz eigenen Einschätzung kommen kann, wird die Kraft gefunden, sich von den alten negativen Eindrücken zu lösen. Dasselbe dürfte auch für den Kirchengang, für Glauben und dergleichen mehr gelten.

Gottesdienst. Es ist selten klar, was eigentlich damit gemeint ist. Wir gehen in die Kirche oder in die Gemeinde am Sonntag, um dort «Gottesdienst» zu feiern. Der Gottesdienst findet in der Kirche statt. Gottesdienst in diesem Sinne ist Zusammenkunft, Lobpreis, Gebet, eine Predigt und dergleichen mehr. Es ist eine Liturgie, ein Ablauf an gemeinsamen Aktivitäten und religiösen Handlungen. Ist das aber ein Dienst, der Gott von uns sehen will? Ist das ein rechter Gottesdienst? Oder mit anderen Worten:

Müssen wir in die Kirche, damit wir Gott einen Dienst erweisen?
Oder:
Kann man Gott nur in der Kirche dienen?

Die Frage mag ungewohnt sein, aber sie hat Relevanz. Was will Gott von uns? Müssen wir uns anstrengen, müssen wir uns jeden Sonntag in die Kirche bewegen, damit wir Ihm wohlgefällig sind? Und wie ist es, wenn auch in Freikirchen von Gemeindemitgliedern erwartet wird, dass Sie sich am Gottesdienst beteiligen? Ist das nun religiöser Zwang, oder etwas, das Gott verlangt? Oder gilt vielleicht beides nicht? Das Neue Testament ist vielseitiger in der Betrachtung. In diesem Beitrag möchten wir dem etwas nachgehen. Gottesdienst kann sehr viel sein. Es kann unter anderem eine kultische Handlung bedeuten. Es wird aber noch mehr damit verbunden. So viel sei aber schon vorweggenommen: Ein Sonntags-Gottesdienst, wie wir sie heute kennen, finden wir in der Bibel nicht.

Gottesdienst in Israel

Lesen wir den Begriff «Gottesdienst» (gr. latreia) im Neuen Testament nach, dann wird tatsächlich auf kultischen Handlungen verwiesen:

«Es hatte nun zwar auch der erste Bund gottesdienstliche Rechtssatzungen und das weltliche Heiligtum; denn es wurde das erste Zelt errichtet, in dem der Leuchter wie auch der Tisch und die Schaubrote waren, welches das Heilige genannt wird»
Heb 9,1 vgl. 2Mo 40,22-24

«Seit dies so errichtet worden ist, gehen zwar die Priester allezeit in das erste Zelt zum Vollbringen der Gottesdienste hinein, in das zweite aber geht einmal im Jahr der Hohepriester allein, nicht ohne Blut, das er für sich selbst und für die Versehen des Volkes darbringt»
Heb 9,6-7

«…meine Stammverwandten dem Fleische nach, die Israeliten sind, denen der Sohnesstand und die Herrlichkeit gehören, die Bündnisse und die Gesetzgebung, der Gottesdienst und die Verheissungen…»
Röm 9,4-5

Der Gottesdienst, so lesen wir hier, betraf die Satzungen und den Tempeldienst, wie Gott sie an Israel gegeben hat. Der Gottesdienst selbst wurde nicht von allen Menschen, sondern nur von ganz wenigen aus Israel, nämlich nur von den Priestern vollzogen. Sie waren die Mittler zwischen Gott und den Menschen und sie haben in diesem Sinne den Dienst an Gott gelebt.

Gottesdienst ausüben

Es gibt das Wort auch als Verb «Gottesdienst darbringen» (gr. latreuo). Es ist der Dienst, den Menschen ganz allgemein Gott gegenüber erweisen. Das wäre so etwas wie «Gottesdienst ausüben». Damit geht es um eine Haltung Gott gegenüber, die sich im Tun offenbart. Von der Prophetin Hanna lesen wir beispielsweise:

«Auch die Prophetin Hanna war da, eine Tochter Phanuels aus dem Stamm Asser. Diese, an Tagen weit vorgeschritten, hatte seit ihrer Jungfrauschaft nur sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt. Sie war jetzt eine Witwe von etwa vierundachtzig Jahren, die sich nicht von der Weihestätte entfernt, Nacht und Tag unter Fasten und Flehen Gottesdienst darbringend.»
Lk 2,36-37

Was sie als «Gottesdienst» gemacht hat, lesen wir in den Worten «Nacht und Tag unter Fasten und Flehen …». Dies also war kein priesterlicher Dienst, wie es die Leviten taten (mit Opfern, Waschungen und dergleichen), sondern sie tat ihren Gottesdienst mit Gebet und Fasten. Sie konnte keinen priesterlichen Dienst ausüben, weil sie erstens eine Frau war und weil sie zweitens in einem anderen Stamm als die Leviten geboren war. Nur Leviten konnten Priester sein. Trotzdem hat sie persönlich «Gottesdienst dargebracht», nämlich durch Gebet und Fasten. Mit ihren etwa 84 Jahren war sie eine «Prophetin», nämlich eine, die an Gottes Stelle spricht – wie es gleich anschliessend heisst: «Zur selben Stunde trat auch sie herzu, huldigte Gott und sprach von Ihm [Jesus] zu allen, die in Jerusalem nach der Erlösung ausschauten.» (Lk 2,38). Der Gottesdienst bei ihr war in Gebet und Fasten. Dieser fand zwischen ihr und Gott allein statt. Es war ihr persönlicher Weg des Glaubens und der Anbetung. Der Prophetendienst jedoch war jedoch als Dienst anderen Menschen gegenüber geprägt.

Paulus schreibt später:

«Das bekenne ich dir jedoch, dass ich dem Wege Gottes gemäss, den sie als Sekte bezeichnen, dem väterlichen Gott so Gottesdienst darbringe, dass ich an alles glaube, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben ist, und zu Gott die gleiche Erwartung habe, nach der auch jene ausschauen, nämlich dass es künftig eine Auferstehung der Gerechten wie auch der Ungerechten geben wird. In alldem bemühe auch ich mich, allezeit ein gutes Gewissen zu haben, unanstössig bei Gott und den Menschen.»
Apg 24,14-16

Der Gottesdienst, den Paulus hier beschreibt, sieht er als sein Glauben und Vertrauen auf Gottes Wort. «Gott zu ehren» tun wir, wenn wir Ihm glauben, wenn wir Sein Wort und Ihm selbst vertrauen. Das sind keine kultische Handlungen, sondern hier geht es um den Kern, hier geht es um einen persönlichen Gott, mit dem Paulus in einer persönlichen Beziehung steht. So wie es auch in der Tenach (das Alte Testament) bei allen Gottesmännern der Fall war. Sie alle haben Gott vertraut, sie haben Sein Wort geglaubt (Heb 11). Ebenso tut es der Apostel, der dadurch auch eine Erwartung erhält. Oder mit anderen Worten: Das Vertrauen auf Gott wirkt sich in seinem Denken und in seinem Leben so aus, dass er – durch Gottes Wort – Ausblick und Zuversicht gewinnt.

Gottesdienst als Bildsprache

Ein buchstäblicher Gottesdienst nach dem Vorbild von Israel und dem Tempeldienst, das gibt es heute nicht. Erstens sollte man die Begrenzung auf das Volk Israel ernst nehmen, und zweitens steht der Tempel nicht mehr. Diese Art von Gottesdienst ist heute nicht möglich. Es ist auch sehr die Frage, ob eine Gemeinde aus allen Nationen (der «Körper Christi», die heutige Gemeinde) je aufgefordert wäre, diesen Gottesdienst zu erbringen. War das nicht Vorrecht und Aufgabe von Israel (Röm 9,4 Apg 26,7)?

Paulus nun, als Apostel der Nationen (Röm 11,13), sieht seinen eigenen Gottesdienst ganz anders:

«Denn mein Zeuge ist Gott (dem ich in meinem Geist am Evangelium Seines Sohnes Gottesdienst darbringe), wie unablässig ich euer gedenke.»
Röm 1,9, vgl. Apg 27,23

Der Gottesdienst, den Paulus erbringt, ist geistlich. Gottesdienst ist hier eine Bildsprache. Das ist recht aussergewöhnlich, da zurzeit als er dies schrieb, der Tempel in Jerusalem von den Juden noch genutzt wurde. Es gab also sehr wohl noch einen Gottesdienst nach mosaischem Muster. Seit den Tagen von Paulus hat sich jedoch einiges getan: Die Realität hat sich geändert, der Tempel ist weg, es wurde eine Frohbotschaft der Gnade für alle Nationen offenbart, und der Dienst an Gott hat sich angepasst. Keine äusserlichen Rituale, sondern im Geist wird Gottesdienst dargebracht. An anderer Stelle schreibt der Apostel:

«… Hütet euch vor der Zerschneidung; denn wir sind die [wahre] Beschneidung, die wir in Gottes Geist Gottesdienst darbringen und uns in Christus Jesus rühmen und nicht auf Fleisch vertrauen…»
Phil 3,3

Die Realität Gottes

Gottesdienst ist also nicht nur Ritual, sondern es ist primär die persönliche Haltung des Glaubens Gott gegenüber, die das Leben prägt. In diesem persönlichen Gottesdienst wird von der Realität Gottes ausgegangen. Paulus beschreibt von seinem eigenen Werdegang im Glauben: «Dankbarkeit habe ich gegenüber Gott, dem ich von meinen Vorfahren her mit reinem Gewissen Gottesdienst darbringe …» (2Tim 1,3). Von seinen Vorfahren her! Hier scheint er auch seine jüdischen Wurzeln und den dort gelernten Glauben an Gottes Verheissungen einzubeziehen.

Glaube ist bei Weitem nicht nur christlich. Abraham war weder Jude noch Christ – aber er ist der Vater aller Glaubenden (Röm 4,11). Gottesdienst ist ebenso nicht begrenzt auf eine bestimmte Denomination, oder auf das Christentum. Gottesdienst ist der Dienst an Gott, von dem ausgehend, was man über Ihn weiss. Wissen ist begrenzt, aber die Realität Gottes wird von vielen anerkannt. Denke dabei beispielsweise auch an Apollos, der einmal über den Weg des Herrn näheres lernen durfte (Apg 18,24-26). Wer die Realität Gottes erlebt und erkennt, wird danach handeln und wird auch bereit sein dazu zu lernen. Gottesdienst findet täglich statt.

Der logische Gottesdienst

Bereits haben wir einige Punkte angesehen, die heute anders sind als noch im alten Israel. Die Welt hat sich ein paar Mal gedreht, und es wurden neue Realitäten sichtbar, von denen Paulus – als Apostel der Nationen – bekanntester Verkündiger ist. Christus steht zentral, als Mittler zwischen Gott und Menschen. Es gilt eine Frohbotschaft: Gott hat sich mit der Welt und so mit Dir versöhnt. Nun lasse Dich mit Gott versöhnen! (2Kor 5,14-21). Wer auf diese Botschaft eingeht, wer darauf vertraut, der steht auf neuem Boden. Jetzt versöhnt, sieht man die Welt aus anderer Perspektive. Das hat Konsequenzen, wie sie Paulus beschreibt:

«Ich spreche euch nun zu, Brüder (im Hinblick auf die Mitleidserweisungen Gottes), eure Körper als ein lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer bereitzustellen (als euren folgerichtigen Gottesdienst) und euch nicht auf diesen Äon einzustellen, sondern euch umgestalten zu lassen, durch die Erneuerung eures Denksinns, damit ihr zu prüfen vermöget, was der Wille Gottes sei – der gute, wohlgefällige und vollkommene.»
Röm 12,1-2

Hier ist der folgerichtige (gr. logikon) Gottesdienst, als Zusammenfassung der oben genannten Verse:

  1. Zuerst gab es die Mitleidserweisungen Gottes (das Evangelium der Gnade und Versöhnung im Römerbrief)
  2. Das wurde von den «Brüdern» geglaubt, weshalb Paulus sie darauf ansprechen kann
  3. Der Gottesdienst (Bildsprache) besteht nun darin, dass wir uns selbst für Gott bereitstellen, als lebendige Opfer (Bildsprache)
  4. Das geschieht nun darin, dass wir uns umgestalten lassen durch die Erneuerung unseres Denkens
  5. Die Erneuerung des Denkens äussert sich in einem verbesserten Prüfsinn für den Willen Gottes
  6. Es gibt in diesem Prozess ein fortschreitendes Erkennen von Gottes Willen (gut, wohlgefällig, vollkommen).

Der Gottesdienst im Geist ist sowohl «logisch» (gr. logikon) als auch «wortgemäss», nach dem Wort (gr. logos, vom gleichen Wortstamm). Dieser Gottesdienst will im Körper, d.h. im Alltag gelebt werden. Oder mit anderen Worten: Für den Glaubenden ist alles heilig, was in dieser Welt gelebt werden kann. Uns selbst für Ihn bereitzustellen, geschieht mit unserem ganzen Menschsein. Es ist kein abgehobener Glaube, sondern ein realistischer Ansatz, sich in diese Welt einzubringen. Der Glaubende vertraut darauf, dass Gott gute Werke für uns vorbereitet, damit wir in diesen wandeln (Eph 2,8-10).

Wie ist das nun mit unseren Gottesdiensten?

Zu jeder Zeit kamen Glaubende zusammen. Sie haben ihr Vertrauen auf Gott geteilt, sie haben einander geholfen, sich auch aus der Bibel zusprechen lassen. Das ist der Kern der jüdischen und christlichen Zusammenkünfte. Was wir heute Gottesdienst nennen, ist aber kein Gottesdienst in biblischem Sinne. Der Gottesdienst, wie wir vorhin darüber aus der Bibel gelesen haben, fängt erst an, wenn wir die Kirche verlassen haben. Der biblische Gottesdienst ist nicht drinnen in der Kirche, sondern draussen im Alltag.

Was in der Kirche abläuft, ist also Zusammenkunft. Im besten Fall ist es ein gegenseitiger (!) Zuspruch. Auch könnte das Bild eines Workshops zutreffen, in dem man einiges für den wirklichen Gottesdienst draussen lernt. Es kann gemeinsame Danksagung sein und geteilter Lobpreis. All das aber ist kein Dienst an Gott, sondern primär ein Dienst aneinander.

Es gibt Bewegungen, die sämtliche Merkmale heutiger Gottesdienste als heidnischer Brauchtum entlarven (z.B. Frank Viola/George Barna in «Pagan Christianity? – Exploring the roots of our church practices»). Zur Relativierung eingerosteter Traditionen ist das nicht einmal so schlecht. Dass jedoch Christen zusammenkommen, sollte damit nicht infrage gestellt werden. Was Viola mit der Dekonstruktion christlicher Traditionen bezweckte, war eine nüchterne Betrachtung von dem, was sich auch heute noch in vielen Kirchen abspielt. Die zweifelhaften Hintergründe mancher liebgewonnenen Traditionen werden hinterfragt, damit man dadurch erst aufgerüttelt wird, über den wahren Kern des Glaubens und des Gottesdienstes nachzudenken. Warum geht es wirklich?

Die Vorstellung, dass Christentum nur innerhalb der Kirche, nur mit Gottesdiensten und nur mit eingerosteten Traditionen gelebt werden kann, ist längstens überholt.

Die Vorstellung, dass Christentum nur innerhalb der Kirche, nur mit Gottesdiensten und nur mit eingerosteten Traditionen gelebt werden kann, ist längstens überholt. Gott ruft und beruft. Wer darauf mit Glauben und Vertrauen antwortet, der steht in lebendiger Gemeinschaft und hat – mit allen anderen Glaubenden – in einem Geist freien Zugang zum Vater (Eph 2,18). Freier Zugang!

Wer Kirche und Gemeinschaft mit diesem Verständnis neu überdenken will, tut dies, weil man lebendig ist, und einen lebendigen aktuellen Glauben prägen will. Jeder ist eingeladen, die Texte aus dem Neuen Testament neu zu reflektieren und für die heutige Zeit verständlich zu machen. Auch dazu gibt es immer mehr Literatur, etwa das bekannte «Der Schrei der Wildgänse. Aufbrechen zu einem freien Leben in Christus jenseits von Religion und Tradition» von Wayne Jacobsen und Dave Colman. Bücher wie dieses erfahren selbstverständlich auch Kritik und Widerrede. Die Kraft solcher Bücher liegt darin, dass sie andere Möglichkeiten der Gemeinschaft skizzieren, losgelöst von Traditionen. Es sind Wegweiser für viele suchende Menschen und helfen dabei, dass man sich auseinandersetzt.

Paulus lädt uns ein, getragen von den Zusagen und der Rettung Gottes, uns selbst für Ihn bereitzustellen. Das wäre unser persönlicher und logischer Gottesdienst.

Ist das ein guter Anfang?