Glaubst Du? Und wenn ja, was hat das bei Dir bewirkt? Bist Du ein Liebender geworden? Bestimmt kennst Du viele Menschen, die mit solchen Fragen nichts anfangen können. Manche glauben und vertrauen Gott, andere tun dies nicht. Manche fühlen sich geliebt und wurden zu Liebenden, während andere mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott hadern. Auch wenn wir wissen, dass Gott einst «alles in allen» sein wird (1Kor 15,28), so ist es deutlich, dass wir von dieser erfüllten Einheit noch weit entfernt sind. Der Soll-Zustand ist unvergleichlich anders als der Ist-Zustand.

Die gnadenlose Realität

Unsere Erfahrung in dieser Welt kann tatsächlich in krassem Unterschied zur Glaubenserfahrung stehen. Ich meine hier keine real lebensgefährlichen Situationen, sondern das persönliche Erleben in dieser Welt, sogar in «gesicherten» Umständen. Es kann eine gnadenlose Realität sein, die schwerer drückt, als Du oder ich ertragen können. Wie gehen wir damit um? Wir haben die Wahl, unseren Schmerz und den der Welt auszublenden oder ihnen im Glauben und in der Liebe Gottes zu begegnen und so zu verwandeln.

Das Ausblenden der Realität, des Empfindens in diesem Leben, kann zu einer Flucht führen. Das Betäuben der Gefühle auf beliebige Art gehört dazu. Für einige kann es eine religiöse Flucht werden, nämlich die Flucht in eine eigene Glaubenswelt, der eigenen Überzeugung, die vermeintlich sicherer oder gar näher bei Gott ist. Das Letzte ist natürlich Unfug, denn alles ist aus Ihm, durch Ihn und zu Ihm hin (Röm 11,36). Wir können gar nicht «näher zu Gott» kommen oder etwa «weit von ihm entfernt» sein. Umstände, welcher Art auch immer, können höchstens unser eigenes Gefühl auf eine falsche Fährte setzen (Apg 17,27-29). (Notiz an uns selbst: Eigenes Gefühl prüfen.)

Das Dramadreieck

Eine Flucht vor der eigenen Angst, den eigenen Erfahrungen, der eigenen Unfreiheit, der eigenen Beklemmung, kann auch andere Formen annehmen: Man zieht sich zurück und errichtet hohe Mauern zum Schutz seiner Selbst und ist nicht mehr offen für Begegnung und Berührung jeglicher Art. Oder man gibt anderen die Schuld der eigenen Misere: Der Ex-Partner, die Firma, die Regierung, die Eltern, die Kirche, die «falsch glauben», die Anderen.

Die Abschottung kann auch in Sonderlehren, Rechtgläubigkeit oder in Verschwörungstheorien stattfinden. Oder Mann/Frau flüchtet in immer neue Beziehungen, als Schmerzbekämpfung, wenn man nicht allein sein kann. Vielleicht hindert ein Suchtverhalten in einem Bereich Dich daran, ein freies und erfülltes Leben zu führen. Ich selbst bin bei diesen Fragen keinesfalls ausgenommen. Logischerweise drängt sich eine andere Frage auf: Was sind die Gründe zu diesem Verhalten und wie kann man anders und lebensbejahender leben?

Es geht immer um dasselbe Spiel. Man steht in einem Dramadreieck von Opfer (ich selbst), Täter (die Anderen) und einem Retter (der neue Partner, Gott, Jesus, die neue Diät oder eine Ideologie), wobei die Rollen in allen Beziehungen auch mal gewechselt werden können. Frei ist in solchen Beziehungen keiner. Alle Beteiligten einigen sich auf das Spiel. Die Flucht vor der eigenen Realität, vor dem eigenen Schmerz, das ist das eigentliche Thema. Die Illusionen darüber, wie man diesem Schmerz auszuweichen vermag, sind sekundär.

Dieses Dramadreieck lässt sich deshalb nicht verwandeln. Aus diesen Verstrickungen kann man nur aussteigen. Danach kann man sich verantwortungsvoll, liebevoll und gnädig mit sich selbst auseinanderzusetzen. Erst dann beginnen Verwandlung und eine neue Erfahrung des Lebens.

Haderst Du noch oder liebst Du schon?

Natürlich gibt es Ansichten, die jede Religion nur im Rahmen vom Dramadreieck deuten, und Gott immer als «Retter» im Sinne vom Dramadreieck betrachten. Das kann tatsächlich geschehen, jedoch nur als Entgleisung. Ich denke nämlich nicht, dass das richtig ist. Der Gott, wie ihn die Bibel skizziert, steht nie in einer Abhängigkeit, wie es das Dramadreieck vorsieht. Auch führt die Bibel nicht in eine Abhängigkeit, sondern sie will uns in ein erwachsenes Selbst hinüberführen, worin Menschen eigenständig die Freiheit von Christus leben und erleben (Gal 5,1). Gott rettet nicht einfach von meinem Schmerz. Gott ist kein Trostpflaster für mein unerlöstes Selbst. Er möchte auch nicht, dass ich in meinem Schmerz hängen bleibe. Die Bibel spricht vielmehr so: «Wenn Gott für uns ist, wer wird gegen uns sein?» (Röm 8,31). Das ist die ultimative Ermutigung, endlich etwas zu ändern. Dazu befähigt das Evangelium.

Es geht um eine komplett neue Ausgangslage. Gerade das ist die frohe Botschaft. Ein Dramadreieck hat das nicht vorgesehen. Die Realität wird geändert, aber es wird mir überlassen, mich darauf einzulassen, damit zu «rechnen», wie es Paulus im Römerbrief häufig erwähnt. Dabei geht es nicht um eine andere Form vom Dramadreieck, als wäre es bloss eine Variante, sondern es geht um eine Beziehung in Freiheit. Gott lädt ein, dass wir aus unserem Dramadreieck aussteigen, uns selbst auf den Weg machen und als Geliebte uns verwandeln lassen, damit wir endlich auch zu Liebenden werden.

Erwachsenwerden

Nicht jede Flucht muss übrigens eine religiöse Flucht sein, und ein lebendiger Glaube hat mit einer Flucht gar nichts zu tun. Es ist nur so, dass sie häufig verwechselt werden. So entsteht Krampf statt Kraft und Frust statt Lust. Ein befreites Menschsein und ein befreites Christsein gehören zusammen. Das eine ohne das andere hat keine Zukunft. Darum heisst es, dass wir im Glauben erwachsen werden sollen (Eph 4,11-16, vgl. 1Kor 13,10).

In diesem Zusammenhang fällt auf: Immer dann, wenn in der Bibel von diesem «Erwachsenwerden» die Rede ist, geht es um die Liebe. Dazu mehr im zweiten Teil dieses Beitrages.