In diesem dritten und letzten Teil geht es um die Bibelinterpretation, die im Dramadreieck stecken bleibt. Wenn die Bibel im Sinne des Dramadreieckes ausgelegt wird, ermöglicht das eine religiöse Flucht in ein Gedankengebäude, das mit der Bibel und mit einem gesunden Christsein nichts mehr zu tun hat. Dem gilt es vorzubeugen oder zu heilen.

Ist euer Herz auch weit geworden?

Das Dramadreieck wird in frommen Glaubensvorstellungen direkt aus der Bibel heraufbeschworen. Hier findet man Texte, die nahelegen, dass es Verfolger, Opfer und Retter gibt . Es geht um Kontraste, die man liest und die nun entsprechend der eigenen Beklemmung ausgelegt werden. Vereinfacht gesagt: Es geht um die Guten und die Bösen, um uns selbst und die Anderen. Zwischen beiden gibt es einen Unterschied, was einer Abschottungs- und Angstvermeidungsstrategie entgegenkommt. Die Bibel wird als restriktiv und abgrenzend ausgelegt. Natürlich muss das nicht sein, aber es ist eine Art der Bibelbetrachtung, die leider recht verbreitet ist. Auch wenn in einer Gemeinschaft solche Gedanken nicht vorherrschend sind, schwingen in den Gedanken der Menschen, der Mitglieder, der Gläubigen, oft Unsicherheiten mit. Unsicherheiten führen zur Angst und zu einengenden Lebenseinstellungen.

Auch Paulus hatte es damit zu tun, als er den Korinthern schrieb:

«Ist euer Herz auch weit geworden? Nicht eingeengt seid ihr in uns, eingeengt aber seid ihr in eurem Innersten! Als Gegenlohn dafür (wie zu Kindern spreche ich) werdet auch ihr weit!»
2Kor 6,11-13

«Werdet weit!» ist die gesunde Aufforderung zur Änderung und das gesunde Bild, welches uns die Bibel vorhält. Nicht die Bibel ist einengend, sondern wir selbst können eingeengt sein. Der Zuspruch der Schrift läuft in die entgegengesetzte Richtung als eigene Angstvermeidungsstrategien.

Das Dramadreieck aus der Bibel herauslesen

Das Dramadreieck lebt von diesem Spiel mit Verfolgern und Opfern. Übersetzt auf ein Glaubensverständnis geht es um «falsch» und «richtig», um «wir» und «die Anderen». Wo kann man das herauslesen? Selbstverständlich aus diesen Stellen, die tatsächlich von einem Unterschied sprechen.

Jesus hat seinen Jüngern einmal diesen Kontrast vor Augen geführt:

«Ich habe ihnen Dein Wort gegeben und die Welt hasst sie, weil sie nicht von der Welt sind, so wie auch Ich nicht von der Welt bin. Ich ersuche Dich nicht, dass Du sie aus der Welt nimmst, sondern dass Du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, so wie auch Ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in Deiner Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit.»
Joh 17,14-17

Das sind klare Worte. Versuchen wir hier, jetzt die Interpretation aus dem Blickwinkel vom Dramadreieck nachzuvollziehen.

Die Gegenüberstellung betrifft hier Jesus und die Jünger einerseits und die Welt andererseits. Die «Welt» hasst die Jünger, weil sie nicht «von der Welt» sind. Ich lese hier so etwas wie eine Xenophobie der Welt den Jüngern gegenüber heraus, also eine Angst vor den unbekannten Jesus-Nachfolgern. Das Problem liegt offenbar bei dieser Welt.

In frommen Glaubensvorstellungen kehrt sich das Bild jedoch. Das Bild wird umgedeutet, und es ist kein Problem mehr von der Welt, sondern die Welt selbst wird ein Problem, nämlich für die Gläubigen. Zwischen den Gläubigen und der «bösen» Welt gibt es einen Konflikt. Die Gläubigen gehören nicht zur Welt, sondern sollten sich von der Welt fernhalten, denn die Welt ist «böse» oder «sündig». Gerade eine solche Schlussfolgerung wird von der Bibelstelle jedoch nicht unterstützt. Hier wird eine Interpretation aus dem Blickwinkel vom Dramadreieck vollzogen.

Gift für das Denken

Schlussfolgerungen wie hier oben kurz skizziert sind Gift für das Denken. Es ist niemals eine gute Idee, wenn wir eigene Gedanken auf die Bibel projizieren. Das Gegenmittel zu einer solchen Fehlinterpretation wäre gegeben: Wir sollten nicht über das hinaus denken und überlegen, was geschrieben steht (1Kor 4,6).

Gleichzeitig zeigt uns diese Aufforderung von Paulus eine heilende Richtung. Die Folgerung ist problematisch, nicht die Bibel selbst. Es ist, als hätte man eine richtige Medizin falsch eingesetzt, so dass daraus Gift wurde. Die Bibel ist nicht eingeengt, aber wir können sie so auslegen. Dann wird die Medizin falsch angewendet. Man könnte sagen, dass wir zurück zur Packungsbeilage gehen sollten und eine korrekte Anwendung lernen müssen.

Was steht im Bibeltext?

Jesus spricht von diesem Unterschied im Text, weil die Jünger tatsächlich etwas haben, was die Anderen ringsherum nicht kennen. Die Jünger haben die Worte Jesu aufgenommen. Diese Erfahrung hat ihrem Leben eine neue Richtung gegeben. Vom Ausblick auf das «Königreich der Himmel» beflügelt, stehen die Jünger mit einer anderen Erwartung in der Welt. Es ist verständlich, dass dieser Unterschied eine Resonanz auslöst. Das ist ganz normal. Wir ticken ohnehin alle etwas anders, und wenn wir von neuen Ideen beflügelt werden, die unserem Leben eine positive Ausrichtung geben, kann das bei Anderen Ängsten und Bestürzung oder Abwehr auslösen. Das ist eine Feststellung.

Entscheidend ist hier, wie Jesus im Gebet damit umgeht. Er anerkennt die Unterschiede, aber sagt nun: «Ich ersuche Dich [Gott] nicht, dass Du sie aus der Welt nimmst, sondern dass Du sie vor dem Bösen bewahrest». Interessant: Keine Weltflucht steht Jesus vor Augen, sondern eine Bewährung in der Welt. Wer sein Vertrauen auf Gott stellt, der wird bestimmt nicht von jedem verstanden. Deswegen müssen wir aber noch lange nicht aus der Welt flüchten. Jesu Rede zeigt in die andere Richtung:

«Wie Du Mich in die Welt ausgesandt hast, so sende auch Ich sie in die Welt aus.»
Joh 17,18

Erstaunlich: Jesus führt nicht in eine Weltflucht. Weltflucht hat nichts mit Glauben zu tun. Wer sich mit seinem Glauben und vermeintlicher Erkenntnis im stillen Kämmerlein einschliesst, der lebt dadurch nicht besser, nur einsamer. Jesus hat seine Jünger in die Welt hinausgeschickt. «Welt», das heisst im direkten Kontext dieser Bibelstelle: das jüdische Volk, die Juden in Israel. «Welt» ist also nicht «der Globus», und es ist hier kein Missionsgedanke vorhanden. Der Gegensatz bleibt im Kontext ganz simpel: Es sind etliche da, die «das Wort» von Jesus gehört und angenommen haben. Die Welt, das sind die Anderen, die das nicht so sehen.

Ausstieg aus dem Dramadreieck

Wenn die Bibel im Sinne vom Dramadreieck ausgelegt wird, dann gibt es nur eine Lösung zur Befreiung: Aussteigen. Nicht aus dem Glauben aussteigen, nicht aus der Gottesbeziehung aussteigen, sondern aus dieser fehlerhaften, einengenden Interpretation aussteigen.

Wenn das die einzige Interpretation ist, die man bis dahin kennt, fühlt sich das vielleicht an, als verliert man den Boden unter den Füssen. Da möchte ich Mut zusprechen, die einengenden, nicht lebensfähigen Interpretationen hinter sich zu lassen und sich erneut mit der Schrift auseinanderzusetzen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass diese Interpretationen mit der Bibel gar nichts zu tun haben. Es sind ideologische Ansätze, die die befreiende Botschaft des Evangeliums zutiefst verhöhnen. Das muss man aber zuerst entdecken.

Was stand Jesus vor Augen?

Dieses Gebet in Johannes 17 spricht Jesus, bevor Er den Weg ans Kreuz geht. Es stehen bewegende Zeiten bevor. Worüber spricht Jesus nun im Kontext? Welches Ziel hat Er vor Augen? Wie geht Er vor? Es gibt diesen Unterschied zwischen der «Welt» und den «Jüngern».

«Für sie heilige ich Mich, damit auch sie in Wahrheit Geheiligte seien. Aber nicht für diese allein ersuche Ich Dich, sondern auch für die, die durch deren Wort an Mich glauben, damit sie alle eins seien; wie Du, Vater, in Mir bist und Ich in Dir bin, so mögen auch sie in Uns sein, damit die Welt glaube, dass Du Mich ausgesandt hast.»
Joh 17,19-21

Jesus sieht diese Welt, aber sein Blick sieht auch darüber hinaus. Er hat ein Ziel vor Augen und sieht wie Sein Leben eine Auswirkung auf das Leben der Jünger hat. Er hat Gottes Ziel vor Augen und ist gleichzeitig ganz bei Sich Selbst. Das ist, was Glauben bewirkt: Vertrauen auf ein Ziel hin, Vertrauen auf eine grössere Realität, jedoch ohne Aktualitätsverlust. Diese Welt steht für Ihn in einem grösseren Zusammenhang. Jesus steht in Beziehung zu Gott, Seinem Vater. Aus dieser Beziehung heraus spricht Er hier. Er schickt seine Jünger hinaus in die Welt, aber nicht ohne Unterstützung. «Für sie heilige ich Mich, damit auch sie in Wahrheit Geheiligte seien.»

Heilig ist, wer in Beziehung zu Gott steht. Gläubige werden Heilige genannt (z.B. Mt 27,52, Apg 9,13, Röm 1,7). Es gibt keine funktionierende Heilig-Erklärung von einer Kirche, aber es gibt Menschen, die in Beziehung zu Gott treten. Heilig ist nicht, wer fehlerfrei ist, sondern wer in dieser Beziehung und Verbindung steht. Jesus sagt «Für sie heilige ich mich». Er lebt aus, was er in den Jüngern sehen wollte. «Damit auch sie in Wahrheit Geheiligte seien.» Aus diesem Zusammenhang kann erkannt werden, wie Jesus bei mit Selbst und ebenso mit seinem Gott und Vater verbunden war. Das ist das Gegenteil von Abschottung. Jesus stand in Beziehung. Gerade dadurch konnte Er auch ganz bei seinen Jüngern und ihrer Aufgabe sein. Aus Beziehung entsteht Beziehung. Aus Heiligung folgt Heiligung. Wer Wahrheit lebt, befähigt auch andere dazu. Glauben führt zu Glauben (vgl. Röm 1,17).

Geliebt sein

Im gleichen Gebet schliesst Jesus mit den Worten:

«Gerechter Vater, die Welt erkannt Dich nicht, Ich aber kannte Dich; und diese haben erkannt, dass Du Mich ausgesandt hast. Ich habe ihnen Deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der Du Mich liebst, in ihnen sei und Ich in ihnen.»
Joh 17,25-26

Jesus hat die Welt nicht einfach als «feindlich» abgestempelt. Das steht hier gar nicht zur Diskussion. Er sieht aber die Notwendigkeit zu lieben. Jesus ist vom Vater geliebt. Er ist ein Geliebter (Mt 3,17, Mt 17,5, 2Pet 1,17 u.a.). Gerade das sollte auch die Erfahrung der Jünger sein, wenn sie in die Welt hinausgehen. «Damit die Liebe, mit der Du Mich liebst, in ihnen sei und Ich in ihnen.» Damit! Das ist das erklärte Ziel und zeigt den Zusammenhang.

Liebender werden

Nun kann man meinen, dass alle Liebe immer von aussen kommt, wir also «am Tropf der Liebe Gottes hängen». Nicht wenige Gläubige sehen das so. Es ist ein furchtbarer Zustand, der am ehesten so beschrieben werden kann: «Ich liebe mich zwar nicht selbst, aber wenigstens liebt mich Gott». Man hat ein Selbstbild, welches durch Ablehnung und Abhängigkeit geprägt ist. Als Opfer der Welt und der eigenen Unfähigkeit, als vermeintlich unwürdiger, ungeliebter, sich selbst nicht akzeptierender Mensch, streckt man sich nach Gott als Erlöser aus, verharrt aber gleichzeitig in der Selbstablehnung. Wer immer Opfer bleibt, kann nicht frei werden. Das ist abartig.

Eine solche Opferhaltung kann aus dem persönlichen Umfeld heraus entstanden sein, aus der Familie und dem eigenen Erleben. Wie in diesem Beitrag beschrieben, kann es jedoch auch aus dem theologischen Umfeld entstammen. Die Auflösung solcher Verstrickungen gelingt nur, wenn wir hinschauen, aus diesen Spielen aussteigen und restlos lieben lernen, was wir sehen. Lieben heisst hier: Integrieren, verwandeln, neu ausrichten, gnädig mit sich selbst sein. Liebender werden heisst dann, dass wir anderen zu genau diesen Verwandlungen beistehen, dass wir Gnade erweisen und in Liebe alles zum Wachsen bringen, hinein in Ihn, der das Haupt ist (Eph 4,15). Es gibt viele Menschen, die den Aufbruch gewagt haben, die zu Reisenden geworden sind, die neue Horizonte entdeckt haben.

Es gibt viele Menschen, die den Aufbruch gewagt haben, die zu Reisenden geworden sind, die neue Horizonte entdeckt haben.