Verrückt. Irgendwann ist es passiert. Wann genau, das kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann jedoch landete ich in rigiden Glaubensvorstellungen. Es hat Jahre gebraucht, bis ich da wieder herausfand.

Entwicklung ist das Normale

Der Apostel Paulus wies immer wieder auf seinen eigenen Glaubensweg hin, und darauf, dass es eine Entwicklung gab. Er begann seinen Weg als Schüler von Gamaliel, einem berühmten jüdischen Lehrer in Jerusalem. Von einem Eiferer für die Tradition wurde er ein Verfolger der Gemeinde (Phil 3,4-7). Dann, auf dem Weg nach Damaskus, begegnete ihm Jesus in einer Vision (Apg 9,3-6). Diese Begegnung hat sein Leben radikal verändert. Von einem Verfolger der Gemeinde wurde er zu einem glühenden Anhänger von Jesus und zum wichtigsten Theologen der ersten Jahrzehnte.

Paulus hat eine Entwicklung durchgemacht. Das ist nicht bloss ein «Bekehrungserlebnis», sondern er hat in den nachfolgenden Jahren eine weitere Entwicklung durchgemacht. Er hat von Jesus selbst dazu gelernt (Gal 1,11-12).

Paulus ist hier nur ein Beispiel. Es könnten weitere Beispiele aus dem Alten und Neuen Testament genannt werden, woraus eine deutliche persönliche Entwicklung des Menschen hervorgeht. Entwicklung ist das Normale und Gesunde.

Rigide Glaubensvorstellungen

Ich weiss gar nicht, wie es passiert ist, aber irgendwann habe ich festgestellt, dass ich in einer Glaubensumgebung gelandet war, die von rigiden Glaubensvorstellungen nur so strotzte. Wie kam es dazu?

Als ich zum Glauben kam, war das unspektakulär. Es war das Resultat einer längeren Auseinandersetzung. Ebenso wie bei Paulus hat diese Erfahrung meinem Leben eine völlig neue Richtung gegeben. Ich trat in eine Beziehung ein und vertraute Gott. Ich glaubte. Dieser Prozess war recht einfach. Ich hatte über viele Monate hinweg die Bibel gelesen und gebetet. Dann war es, wie wenn die Sonne aufging. Ich erfuhr, dass Sein Geist mit unserem Geist bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind (Röm 8,15-16). Unspektakulär, aber nachhaltig, lebendig, voller Zuversicht und Neugierde.

Was ich danach wollte, war ebenso einfach: Ich möchte Gott kennenlernen und Jesus Christus, meinen Herrn. So hatte ich das gelesen und so hatte ich es erlebt. Das Lesen und das Erfahren war kongruent. Also wollte ich mehr davon.

Zu dieser Zeit war ich in der Evangelisch-reformierten Kirche daheim. Die war sehr offen, aber von der Bibel habe ich kaum etwas erfahren. In der Volkskirche war Glaube nicht unbedingt ein Thema oder ein völlig abstrahierter ferner Gedanke. Für mich war das aber nicht genug. Ich wollte mich konkret mit der Bibel auseinandersetzen und dazulernen. Ich wollte verstehen lernen, was es heisst «Christ» zu sein. Deswegen suchte ich auch Kontakt mit anderen Menschen, die ebenso unterwegs waren.

Das dürfte vielen so gehen: Durch Mangel an Bezug zur Bibel wandern Menschen zu Freikirchen ab. Hier wurde tatsächlich die Bibel geöffnet. Es wurde aus der Bibel gepredigt. Es wurde lebendig dargestellt. Dazu gab es Hauskreise, Bibelkreise und dergleichen mehr. So konnte ich vom Austausch und von vielen neuen Gedanken profitieren. Es ging vorwärts!

Es geschah jedoch auch etwas anderes. Das fiel mir zuerst gar nicht auf. Ich hatte meinen Glaubensweg gerade angefangen. Ich lernte dazu, sammelte aber auch Eindrücke, die ich bislang nicht einordnen konnte. Zweifellos habe ich viel Gutes erlebt. Ruckzuck war ich auch in einer theologischen Ausbildung, denn mein Hunger nach der Bibel war gross. Dort geschah dasselbe: Vieles war grossartig, einiges war unklar. Was noch unklar war, was ich nicht auf Anhieb verstand, das habe ich einmal beiseitegelegt. Das war nicht so wichtig und würde sich schon klären.

Und da geschah es, allmählich, dass bestimmte Glaubensvorstellungen Einzug hielten, rigide Glaubensvorstellungen, beispielsweise über die Frage, wer Christ ist, wann Glauben anfängt, wie man sich zu verhalten hat, was gut ist und was schlecht. Rigide Ansichten über Sexualität, Beziehungen und vielen Sachen mehr. Schleichend haben diese Vorstellungen auch mich beeinflusst.

Ein Thema, wobei immer wieder Widersprüche auftauchten, waren die Ideen über Himmel und Hölle. Bei diesem Punkt habe ich als Erstes angesetzt und zu prüfen angefangen. Es gab jedoch auch persönliche Themen, die eine ungünstige Entwicklung beeinflusst haben.

Programme im Kopf

Wie kommt man zu den eigenen Glaubensvorstellungen? Das ist nicht immer so klar. Zwar zögern viele nicht zu sagen, dass ihr Verständnis sich «ganz auf die Bibel abstützt», aber ich habe es selten so erlebt, dass dies tatsächlich der Fall war. Weshalb jemand Christ wird oder in dieser oder jener Kirche landet, ist oft gar nicht so klar, sondern bloss eine Aneinanderreihung von Zufällen. Ferner sind wir gar nicht so frei, wie man uns gerne glauben lässt.

Jeder hat Programme im Kopf. Es sind Vorstellungen und Reaktionen, die man gelernt hat. Es sind Glaubenssätze über das Leben, über Beziehungen, darüber wie Mann und Frau funktionieren, über Glauben und was das bedeutet und dieser Dinge mehr. Man hat sie gelernt, weil sie das Überleben in bestimmten Situationen gesichert haben. Man hat etwas gemacht, um dazuzugehören, um etwas zu erreichen. Es sind Spielarten des Lebens, Verhaltensweisen, Denkmuster, die oft unbewusst auf Jahrzehnte hinaus unser Leben und Denken beeinflussen. Die eigenen Glaubenssätze oder die der Gemeinde gehören ebenso dazu.

Bestimmt haben sich solche Programme im Kopf einst bewährt, aber das heisst noch lange nicht, dass sie für die Ewigkeit gemacht wurden. Leben ist Veränderung. Das gilt für alle Lebensbereiche. Das gilt für das persönliche Leben ebenso wie für eine Glaubensgemeinschaft. Wer immer die gleichen Programme im Kopf abspult, verharrt in der Vergangenheit, statt dass man das Leben zur Fülle bringt. Ein Verharren in «unverrückbaren Erkenntnissen» ist da wenig hilfreich. Fast makaber erscheint die Wahrnehmung, dass man unverrückbar an bestimmten religiösen Annahmen festhält, dabei aber Gottes Gnade und Sein Wirken (für sich selbst oder für andere) ganz aus dem Auge verliert.

Ähnliches gilt auch für die Ausprägung unseres Glaubens. Dieses ist immer persönlich, begrenzt, und auch in der Zeit verankert. Es ist nicht fix, und wer die Ausprägung seines Glaubens an der Realität des Lebens anpasst, tut dies nicht, weil er etwa Gott oder Jesus den Glauben aufkündigt, sondern gerade weil die Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit bewahrt werden sollen. Wenn das Leben mit dem Glauben nicht mehr kongruent ist, gibt es einen Handlungsbedarf. Programme im Kopf werden bei einer gesunden Entwicklung durch bessere Dinge ersetzt. Das ist das Normale. Logischerweise werden unpassende, veraltete, nicht lebensfähige Ideen abgelegt, damit etwas Neues entstehen kann.

Glaubensvorstellungen können und müssen immer wieder neu überdacht werden. Wir wachsen, wir entwickeln uns, und kein Bereich sollte da ausgeschlossen bleiben.

Neuorientierung wagen

Mehrfach habe ich mich in meinem Leben und in meinem Glauben neu orientieren müssen. Es ist nicht nur das Normale, sondern es ist auch von Gott gewollt. Die Analogie vom Erwachsen-werden wird auch in der Bibel zitiert. Von Kind wird man Teenager und vom Teenager wächst man in das Erwachsenenalter hinein. Ebenso sollten wir im Glauben erwachsen werden:

«Bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum gereiften Mann, zum Mass des Vollwuchses, der Vervollständigung des Christus, damit wir nicht mehr Unmündige seien.»
Eph 4,13-14

Hier steht nicht, dass wir alle dasselbe glauben sollten, sondern dass eine «Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes» realisiert wird. Keine Gleichschaltung, sondern ein Erwachsen-werden. Dieser Prozess hat mit der Vervollständigung des Christus zu tun, mit der Fülle, die aus Ihm kommt. Wer immer in der Vergangenheit lebt, im eigenen alten Schmerz, in der Tradition, in der Unfreiheit, der kann nicht zu dieser Fülle gelangen. Paulus dagegen weist darauf hin, dass wir «nicht mehr Unmündige sein sollen».

Fühle Dich nicht gebunden durch die Unfreiheit der Anderen.

Mündigkeit setzt voraus, dass wir Verantwortung für uns selbst übernehmen. Nur wer Verantwortung für sich selbst übernimmt, kann lebensbejahend werden. Keiner kann dich dazu verdonnern, im alten Schmerz hängenzubleiben, in Unfreiheit sein Dasein zu fristen, in Angst seine Tage zu erfüllen und in nichts zur Freiheit des Christus zu kommen. Das liest sich nirgendwo in der Bibel und das ist nicht Gottes Wille für Dich. Gott ist nicht so. Wenn Deine Glaubensgemeinschaft Dein Leben missachtet, aber nichts von deren Angaben in der Bibel zurückzufinden ist, dann fühle Dich nicht gebunden durch die Unfreiheit der Anderen.

Beispiel

Ein Beispiel aus eigener Erfahrung:

Ich habe in meiner Jugend die Scheidung meiner Eltern erlebt. Das passierte einfach. Ich konnte nichts dafür, aber die Erfahrung wurde Teil meines Lebens. Für mich selbst habe ich dann bestimmt, dass ich keine Scheidung wollte. Ich landete in Kreisen, worin die Scheidung von Christen verpönt war und das war mir recht. Hat Gott nicht gesagt, dass Er Scheidung hasst? (Mal 2,16) Mir fiel nicht auf, dass diese Auslegung ganz und gar nicht mit der Schrift übereinstimmte. Texte wie diese wurden und werden aus dem Zusammenhang gerissen und sollten etwas aussagen, das häufig gar nicht da steht. Diese Erkenntnis kam erst viel später, als ich selbst plötzlich auf der Strasse stand, in eine Scheidung geriet und mein geistlicher Horizont wie weggefegt war.

Meine Ausprägung des Glaubens hatte keine Option für Schiffbruch beinhaltet. Die Kreise, worin ich mich bewegte, sagten einhellig: Einmal ein Schiffbruch erlitten, nie wieder Kapitän! Manche sagten, dass man zwar beim Standesamt eine Scheidung einreichen konnte, aber «vor Gott» bleibt man «trotzdem verheiratet». Oder mit anderen Worten: Mein Leben war vorbei. Ich war in eine Patt-Situation geraten und sollte darin nun fromm verharren. Man hätte versagt und ist ab sofort christlicher Abfall.

Hier sieht man die Folgen ungesunder Lehre. In manchen Gemeinden wird man schnell zum Christ zweiter Rangordnung herabgesetzt. Ich habe das nicht nur selbst erlebt, sondern unzählige Male auch bei anderen gesehen. Man wird herabgesetzt, sprich: Man darf nicht mehr auf der Bühne stehen, wird aus öffentlichen Diensten gewehrt. Zwar darf man in die Gemeinde kommen, aber aktiv teilnehmen oder Verantwortung übernehmen ist gar nicht erlaubt. Es ist eine Zweiklassen-Gesellschaft und eine zutiefst traurige und verstörende Glaubensvorstellung.

Als ich mich einige Jahre später um eine Pastoren-Stelle in einer Freikirche bewarb, hat man sich nicht einmal die Mühe genommen, mir zu antworten. Ich musste beharrlich nachfragen, bis man mit der Antwort herausrückte: Man wollte keinen geschiedenen Pastor. Mir blieb die Spucke weg. Vor Augen stand ein «politisch korrektes» Bild einer Pastorenfamilie, mit Mann und Frau und allem, was dazu gehört. Anderes war keine Option. Ich denke, ich hätte einiges an Input für ein gesünderes Gemeindeleben geben können, gerade weil (!) ich in meinem Leben auf Gottes Gnade angewiesen war. Mir fiel auf: Paulus hätte als unverheirateter Apostel bei einer solchen Gemeinde schlechte Karten gehabt. Ich fühlte mich deswegen in bester Gesellschaft – mit Paulus.

Neuorientierung war nötig.

Wendepunkt

Diese und ähnliche Erfahrungen wurden ein Wendepunkt für mich. Die verschiedenen existenziellen Erfahrungen hatten meine eigene Glaubensvorstellung erschüttert, jedoch nicht mein Vertrauen auf Gott infrage gestellt. Ich kam zur Erkenntnis, dass mein Verstehen der Bibel wohl etwas mangelhaft war. Ich habe mich daran gesetzt, mein ganzes biblisches Verständnis von Ehe, Scheidung, Wiederheirat und ähnliches neu zu überdenken – und zwar anhand der Bibel selbst. Jede relevante Bibelstelle habe ich auseinandergenommen, Kommentare und Auslegungen gesucht und erstmals habe ich dazu wirkliche Fragen gestellt. Hatte ich bis dahin einfach blind geglaubt, ohne etwas nachzuprüfen, musste ich jetzt dringend wissen, ob meine bisherigen Annahmen stimmten oder schlichtweg falsch war.

Sie waren falsch.

Ich habe durch das Lesen und Studieren der Bibel zu einem neuen und lebensbejahenden Glauben zurückgefunden. Es fand ein Prozess der Differenzierung statt. Ich hatte falsch gelesen. Mir wurde falsch gelehrt. Ich selbst habe aber Verantwortung für mein Leben und Glauben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Gott, den ich als gnädig und liebevoll kennenlernen durfte, nun rigide und lebensfeindlich irgendwelche Vorstellungen über mich stülpen würde. Es war dringend an der Zeit, dass ich den Weg hinaus aus der Enge und zurück in die Gnade finden würde. Es reicht eben nicht über Gnade zu reden – man sollte sie auch leben, sogar dann, wenn die Meinungen anderer Menschen dem zuwiderlaufen. Wer Christ wird, fällt nicht aus der Welt heraus. Der Anspruch der Fehlerfreiheit missachtet die Erlösungsbedürftigkeit, die uns allen anhaftet. Wer für andere definiert, was richtig und falsch ist, gerade dort, wo die Bibel nichts Konkretes aussagt, steht auf dünnem Eis.

Lebensbejahend glauben

Ich musste mir eingestehen, dass mein Wunsch mehr über die Bibel zu erfahren, mich in Kreise geführt hat, die zwar über die Bibel reden, aber nicht viel darüber nachdenken. Es hat lange gedauert, bis ich das erkannte. Es hat auch existenziell bedrohliche Situationen wie unter anderem eine Scheidung gebraucht, damit ich mir darüber mal ernsthaft Gedanken machte. Der Weg hinaus aus der Enge war mühsam, aber wichtig. Heute stehe ich an einem anderen Ort. Ich freue mich darüber, viele Menschen zu kennen, denen es ähnlich ergeht und die sich ebenfalls auf den Weg in die Freiheit von Christus gemacht haben. Meine Geschichte ist weder aussergewöhnlich noch bedeutend. Ich erwähne sie aber, damit vielleicht auch andere den Mut finden, rigide Glaubensvorstellungen abzulehnen und zu neuen Horizonten aufzubrechen.

Rigide Glaubensvorstellungen sind tödlich. Sie verhindern Wachstum und stehen einer Lebensbejahung im Weg. Sie engen ein, statt in die Freiheit hinauszuführen. Zwar spricht man von Gnade, aber man lebt es nicht. Auch lassen sie nicht zu, dass andere daraus leben. Rigide Glaubensvorstellungen sind meist geprägt von Selbstgerechtigkeit. Fast identisch hat Jesus mit den religiösen Führern seiner Zeit zu tun gehabt (vgl. Mt 23,13).

Eine christliche Kultur, worin Menschen «fehlerfrei» sein müssen, worin es Christen ersten Ranges und zweiten Ranges gibt, widerspricht dem Geist Christi. Wenn Lehren und Dogmen Menschen von der Bibel entfernen, von einem befreiten Christsein fernhalten, wenn Lebensfrust statt Lebenslust gefrönt wird, kann man nur eines tun: Aussteigen und Neustarten.

Man kann lebensbejahend glauben. Erstaunlicherweise muss man dabei nicht einmal einen lebendigen Glauben über Bord werfen.

Gott sei Dank.