Wie lernen wir?

Wachstum und Entwicklung zu fördern, gehört zu den Kernaufgaben der Gemeinde (Eph 4,11-16). Es gibt Gemeinden oder Gruppen, wo vorwiegend eine Lehrkultur gepflegt wird. Bei einer Lehrkultur wird «gelehrt» – der Fokus ist auf die Lehre und den Lehrer. In seltenen Fällen kann dies ins andere Extrem kippen und zu einer Abwesenheit von Lehre führen. Das geschieht dann, wenn die Direktiven von oben kommen – beispielsweise aus der Gemeindeleitung –, dass es gar keine biblische Lehre benötige.

Im Unterschied dazu steht eine Lernkultur. Bei einer Lernkultur wird «gelernt» – der Fokus ist auf Christus und die Schrift spricht von Ihm. Man lernt gemeinsam und sieht die Bibel nicht nur als Lehrgebäude, sondern auch als Werkzeug für eine differenzierte Auseinandersetzung (Heb 4,12). Hier wird das Untersuchen der Schrift gefördert, ebenso wie der vielseitige Austausch über das, was man lernt. Wachstum und Mündigkeit entspringen dann der positiven Auseinandersetzung.

Zwar scheinen das «lehren» und «lernen» nicht ohneeinander auszukommen, jedoch äussert sich der Unterschied im Umgang mit «Wahrheit». Wenn eine Lehrkultur vorherrscht, wird die Erkenntnis schnell «erklärt», wenn nicht sogar «diktiert». Bei einer Lernkultur wird die Erkenntnis gesucht und Menschen werden dazu ermutigt, sich auf Gott und Sein Wort einzulassen. Im gemeinsamen Erkennen ist dann eine Offenheit zu spüren, die auf Christus gerichtet ist, und die sich weder in Wortklaubereien verheddert noch in starrer Lehrmeinungen sich ergötzt. Dies will im Miteinander erlernt werden.

In diesem Sinne wurde ich letzthin darauf aufmerksam gemacht, wie die VBG (Vereinigte Bibelgruppen) in der Schweiz dies formulieren. Sie streben ein reflektiertes Christsein an:

Reflektiertes Christsein

Vier Schwerpunkte ziehen sich durch alle Bereiche hindurch:

  1. begründet glauben: Fragen nachgehen, Kritik ernst nehmen, eigene Positionen formulieren
  2. Begegnungsort Bibel: ergebnisoffenes, gemeinsames Lesen und Entdecken der Heiligen Schrift
  3. Glauben gestalten: die eigene Spiritualität reflektieren und aktiv weiterentwickeln
  4. Glaube und Alltag: Gesellschafts- und Fachfragen mit dem Glauben in Verbindung bringen

Ursprünglich von der Website der VBG

Ein reflektiertes Christsein ist die Kurzfassung einer aktiven, kritischen und auch selbstkritischen Umgang mit dem geschenkten Glauben, der Bibel und den Meinungen über diese Dinge. In dieser Aufstellung geht es nicht darum, an etwas Bestimmtes zu glauben, sondern darum, eine gesunde Kultur zu pflegen. Diese Kultur ist offen, vielseitig und differenziert in der Auseinandersetzung. Es ist eine Lernkultur.

Wie die VBG sich eingehend Gedanken darüber gemacht hat, wie man eine gute Glaubensgemeinschaft aufbaut, und was es dafür benötigt, so gibt es bestimmt weitere Ansätze. Kennst Du weitere solcher Ansätze? Dann höre ich gerne davon.

Ergebnisoffen

Gegen meinen eigenen Hintergrund reflektiert, fällt mir beim «Begegnungsort Bibel» der Ausdruck «ergebnisoffen» auf. Dies fällt mir auf, weil ich mir das in den verschiedenen Gemeinden, wo ich aktiv war, oft am sehnlichsten gewünscht hätte. Es fehlte aber eine solche Lernkultur. Ich habe erfahren, wie dogmatisch stur und unfrei über die Bibel nachgedacht wird, als müsste man die Gläubigen vor Gottes eigenen Aussagen schützen. Was würde passieren, wenn man eine andere Kultur implementiert, wenn man einander ermutigt, Gottes Wort ernst zu nehmen und kritisch über eigene Annahmen und Alternativen nachzudenken?

Orte, wo dogmatisch stur und unfrei über die Bibel nachgedacht wird, als müsste man die Gläubigen vor Gottes eigenen Aussagen schützen.

Ergebnisoffen heisst nicht, dass ich will, dass Du glaubst, was ich denke, sondern wir denken gemeinsam nach. Dabei möchten wir nicht von vornherein auf ein bestimmtes Ergebnis fokussiert sein. Man will sich jedoch zusammen auf den Weg machen. Das gemeinsame Überlegen möchte tatsächlich verschiedene Standpunkte abwägen. Man versucht die Fragen offen zu formulieren, die Argumente eingehend zu prüfen, verschiedene Sichtweisen anzuhören und nach Möglichkeit zu integrieren und so zu einem besseren Verständnis zu kommen. Und weiss man einmal etwas nicht, dann darf die Frage unbeantwortet bleiben. Man kann ja später noch etwas dazu lernen.

Visionär denken

Die Kultur, worin wir stehen, müssen wir nicht als gegeben betrachten. Sie ist uns vertraut und vielleicht kennen wir keine andere Kultur. Das heisst aber nicht, dass es keine Alternative gäbe. Wir sind es selbst, die unsere Kultur mitprägen. Kultur kann geformt, gestaltet und darf auch hinterfragt werden. Gibt es in der eigenen Gemeinschaft, Kirche oder Gemeinde visionäre Denker, die sich eine vielseitigere Kultur vorstellen und fördern können? Könnten wir einmal frei unsere Idee einer Kultur bilden, was würden wir uns für eine Kultur ausmalen? Was wären die Merkmale? Welche Aufgaben sollte eine solche Kultur haben?

  • Bilden wir eine Kultur, dann geht es um einen Kern und Ursprung, beispielsweise um die gemeinsame Berufung in Christus und das Evangelium der Gnade.
  • Prägen wir eine Kultur, dann geht es darum, den Ursprung in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Prägung geht über viele kleine und praktische Schritte.
  • Erfüllen wir eine Kultur, dann wird Wachstum, Mündigkeit und Lebendigkeit gefördert, womit wieder neue Menschen eingeladen, motiviert und bewegt werden. Dies kann man bei den Propheten erkennen, bei Jesus und später auch bei den Zwölf Aposteln, und sehr klar auch bei Paulus. Sie hatten Ziele vor Augen, sahen den aktuellen Status und wiesen auf etwas Grösseres hin. Menschen werden eingeladen, in Gemeinschaft zu leben und zu lernen.

Eine Lernkultur schafft die Voraussetzung dazu, dass Menschen mündig werden. Es ist die Voraussetzung für eine gesunde Gemeinschaftskultur und die Vorbedingung für geistliches Wachstum. Mündigkeit und Reife sind keine Nebenprodukte geistlichen Lebens, sondern Zielvorgaben (1Kor 3,1-2; Heb 5,12-14; Heb 6,1; Eph 4,11-16).

Ein Gradmesser für Erfolg?

Geistliches Wachstum ist kein Programm, welches man absolvieren muss, noch einen Kurs, den man an sechs Abenden durchspielt. Es ist kein Thema, welches man in 40 Tagen «verankert», noch ist es ein Jahresziel für eine Gemeinde. Solche Dinge können nicht funktionieren, auch wenn sie den Anschein von Erfolg und Messbarkeit haben. Sie funktionieren nicht (oder nur schlecht), weil die Bildung einer Kultur Zeit benötigt.

Marketing-technisch ist es sehr verlockend, einfach ein 5-Punkte-Plan absolvieren zu wollen. Was könnte der Grund sein, dass man mit solchen Rezepten spielt?

Manche Programme, die ich in Kirchen und Gemeinden miterlebt habe, sind eine Art «Durchlauferhitzer». Sie versuchen, die Menschen durch eine Aktivität zu motivieren. Nicht eine Kultur, eine Haltung, sondern eine Aktivität steht hier zentral. Zwar hat man die Hoffnung, dass sich dadurch etwas bewegt, aber wie das mit einem Durchlauferhitzer so geht: Das Wasser ist kurz warm, und kühlt dann wieder ab.

Eine Kultur lässt sich nur durch persönlichen Entscheid und Nachahmung erreichen. Paulus macht das vor, wenn er den Philippern schreibt:

«Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, es ergriffen zu haben. Eins aber tue ich: ich vergesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. So jage ich dem Ziele zu, nach dem Kampfpreis der Berufung Gottes in Christus Jesus. Alle von uns nun, die gereift sind, mögen darauf bedacht sein; und wenn ihr in etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dieses enthüllen. Indessen, worin wir andere überholen, sollte man gleich gesinnt sein, um nach derselben Richtschnur die Grundregeln zu befolgen. Werdet meine Mitnachahmer, Brüder, und achtet auf die, die so wandeln, wie ihr uns zum Vorbild habt.»
Phil 3,13-17

Und ein Kapitel weiter schreibt er:

«Im Übrigen, Brüder, alles, was wahr ist, alles, was ehrbar, alles was gerecht, alles was lauter, alles was freundlich, alles, was wohllautend ist, wenn es einen Lobpreis gibt, so zieht diese in Betracht. Was ihr auch von mir gelernt und erhalten, gehört und an mir gewahrt habt, das setzt in die Tat um; dann wird der Gott des Friedens mit euch sein.»
Phil 4,8-9

Eine Lernkultur basiert also nicht auf Events, sondern auf Nachahmung, worin die Lebenshaltung und die Lernbereitschaft gegenseitig gefördert werden. Eine Lernkultur zu fördern, ist vielleicht die wichtigste Voraussetzung für eine nachhaltige Gemeindeentwicklung.