Paulus spricht in Römer 4 von Abraham und stellt ihn als Vater aller Glaubenden vor, nämlich sowohl der Juden als auch der Nichtjuden (der Nationen). Er benennt dabei bestimmte Aspekte. Auch Jakobus zitiert später im Neuen Testament aus dem Leben von Abraham. Jakobus aber zieht daraus ganz andere Schlüsse als Paulus. Paulus und Jakobus, so scheint es, haben zwei entgegengesetzte Sichtweisen. Diese wollen wir nun etwas nachgehen. Daraus lässt sich einiges lernen, was für ein Verständnis vom Neuen Testament von Bedeutung ist.

Der Bund Gottes

Paulus verwies nach dem Leben von Abraham und den Verheissungen, und fragte dabei:

«Ist diese Glückseligkeit nun für die Beschneidung allein oder auch für die Unbeschnittenheit? Denn wir sagen: Dem Abraham wurde der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet. – Wie wurde er ihm nun angerechnet, in der Beschneidung oder in der Unbeschnittenheit? Nicht in der Beschneidung, sondern in Unbeschnittenheit! Und das Zeichen der Beschneidung erhielt er als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, die er in der Zeit der Unbeschnittenheit hatte.»
Röm 4,9–11

Hier geht es um die Frage, ob die Juden aus ihrer Beschneidung eine Art «Exklusivität» ableiten können. Dem begegnet Paulus mit einer Referenz an das Leben von Abraham. Paulus unterscheidet das Leben von Abraham nach dem Kriterium der Beschneidung. Ein Teil des Lebens (die ersten 99 Jahre) lebte er als Unbeschnittener («die Zeit der Unbeschnittenheit» 4,11-12). Dann, mit 99 Jahren, hat er sich selbst und alle Männer in seiner Reisegruppe beschnitten. Was nachher alles geschieht, das geschieht sozusagen «in der Beschneidung». Überall in der Bibel, wo von der Beschneidung die Rede ist, geht das auf Abraham zurück und den nachfolgenden Wegen Gottes mit Seinem Volk Israel.

Der Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat, brachte eine Verpflichtung mit sich, die männlichen Nachkommen zu beschneiden (1Mo 17,9-10). «Dies soll das Zeichen dafür sein, dass ich meinen Bund mit euch geschlossen habe.» (1Mo 17,11). Abraham, den die Juden zurecht als «Urvater» sehen, hatte bereits einen Bund mit Gott, bevor er beschnitten wurde. Die Beschneidung kam erst später dazu. Deshalb gibt es keine Exklusivität auf Basis der Beschneidung.

Nach der Geschichte hat Abraham epische Dinge erlebt und getan. Als er 75 Jahre alt war, ist er so richtig auf Wanderschaft gegangen. In diesem fortgeschrittenen Alter hat er sich aus seiner Heimatstadt auf den Weg gemacht, der Verheissung Gottes nachfolgend (1Mo 12,4). Fast 25 Jahre später ist er immer noch auf Wanderschaft, wenn Gott mit ihm einen Bund schliesst. Damals hiess er noch Abram.

«Und Abram war 99 Jahre alt, da erschien der HERR dem Abram und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige. Lebe vor meinem Angesicht, und sei untadelig! 2 Und ich will meinen Bund zwischen mir und dir setzen und will dich sehr, sehr mehren.»
1Mo 17,1.2

Bei dieser Gelegenheit ist es Gott, der Abram (hb. Erhabener oder Hoher Vater) den Namen Abraham (Vater der Menge) gibt. Er soll ein Vater vieler Nationen werden.

«Da fiel Abram auf sein Angesicht, und Gott redete mit ihm und sprach: Ich, siehe, das ist mein Bund mit dir: Du wirst zum Vater einer Menge von Nationen werden. Und nicht mehr soll dein Name Abram heissen, sondern Abraham soll dein Name sein! Denn zum Vater einer Menge von Nationen habe ich dich gemacht.

Und ich werde dich sehr, sehr fruchtbar machen, und ich werde dich zu Nationen machen, und Könige werden aus dir hervorgehen. Und ich werde meinen Bund aufrichten zwischen mir und dir und deinen Nachkommen nach dir durch alle ihre Generationen zu einem ewigen Bund, um dir Gott zu sein und deinen Nachkommen nach dir.

Und ich werde dir und deinen Nachkommen nach dir das Land deiner Fremdlingschaft geben, das ganze Land Kanaan, zum ewigen Besitz, und ich werde ihnen Gott sein. Und Gott sprach zu Abraham: Und du, du sollst meinen Bund halten, du und deine Nachkommen nach dir, durch ihre Generationen! Dies ist mein Bund, den ihr halten sollt, zwischen mir und euch und deinen Nachkommen nach dir: Alles, was männlich ist, soll bei euch beschnitten werden; und zwar sollt ihr am Fleisch eurer Vorhaut beschnitten werden! Das wird das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und euch. Im Alter von acht Tagen soll alles, was männlich ist, bei euch beschnitten werden, durch eure Generationen, der im Haus geborene und der von irgendeinem Fremden für Geld gekaufte Sklave, der nicht von deiner Nachkommenschaft ist; beschnitten werden muss, der in deinem Haus geborene und der für dein Geld gekaufte Sklave! Und mein Bund an eurem Fleisch soll ein ewiger Bund sein.»
1Mo 17,3-13

«Siehe, mein Bund ist mit dir!» (1Mo 17,4). Diese Worte und dieser Bund hallen überall in der Bibel nach. Es gehört zu den wichtigen Kapiteln der Bibel. Seitdem gibt es die zwei Gruppen «Beschnittenen» und «Unbeschnittenen», bzw. die «Abkommen von Abraham» und «die übrigen Nationen». In engerem Sinne wird in der Bibel von den Beschnittenen als von Israel gesprochen, nämlich vom Volk, das aus den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob (dessen Name zu Israel wandelte) hervorkam.

Das Zeichen der Beschneidung

Paulus spricht in Römer 4 vom «Zeichen der Beschneidung». Für ihn war das ein «Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens – die er in der Zeit der Unbeschnittenheit hatte» (Röm 4,11). Paulus betrachtet die Beschneidung als eine Bestätigung des Glaubens, den Abram bereits vorher zur Schau stellte. Ohne den vorherigen Glauben von Abram wäre Gott mit ihm vielleicht nicht so weit gekommen. Die Beschneidung lässt sich nicht losgelöst von der vorherigen Geschichte betrachten.

Diese Sichtweise ist natürlich dort hilfreich, wo im religiösen Denken eine Überheblichkeit aufgrund der Beschneidung entstanden war. Der Apostel Paulus entwirrt diesen Knoten und setzt die Beschneidung wieder im ursprünglichen Zusammenhang des Glaubens. Dadurch zeigt er, dass Abram bei seiner Berufung «auch nur ein Heide» war, der jedoch Gott glaubt und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet. Dies ist der Schüssel dazu, eine Gleichberechtigung der Nationen zu begründen.

Jakobus beruft sich ebenfalls auf Abraham, geht aber anders vor. Während Paulus in Römer 4 den Fokus auf die Zeit vor der Beschneidung von Abraham legt, spricht Jakobus über Dinge, die erst nach der Beschneidung von Abraham erfolgten. Beide reden vom Glauben von Abraham, aber Paulus sieht dies als Grundlage der Gerechtigkeit, während bei Jakobus der Glaube ein Anfang ist, diesen auch in Gerechtigkeit auszuleben. Das ist eine jüdische Sicht, basierend auf der Tenach, jedoch im Licht von Jesu Wirken betrachtet. Lernen wir dort zu unterscheiden.

Dies ist ein guter Startpunkt für ein besseres Verständnis. Warum ist das wichtig? Nun, Paulus und Jakobus werden häufig gegeneinander ausgespielt. Tatsächlich machen sie konträre Aussagen. Diese Aussagen sind real. Verständlich werden sie aber erst, wenn man die Aussagen im jeweils eigenen Kontext liest. Jakobus spricht zu Juden mit einer jüdischen Erwartung, während Paulus zu Nationen-gläubigen sprach, die von dieser jüdischen Erwartung keine Ahnung hatten und daran auch kein Anteil haben werden.

Damit eine solche Differenzierung möglich ist, muss man sich zwei Dinge vor Augen führen:

  1. Paulus und Jakobus machen konträre Aussagen
  2. Eine Differenzierung bedingt, dass ich sie im eigenen Kontext verstehen will und sie nicht partout miteinander versöhnen muss.

Der zweite Punkt ist deshalb wichtig, weil viele dazu übergehen «etwas von Paulus» und «etwas von Jakobus» zu einem eigenen Mischevangelium zusammenzustellen. Die Ausgangslage ist: Das ganze Neue Testament berichtet von einer einzigen Botschaft und deshalb muss man alles miteinander ausgleichen. So die Meinung – stimmt das aber? Dieser Ausgangspunkt ist leider mangelhaft, weil es nachweislich nicht nur verschiedene Zielgruppen im Neuen Testament gibt, sondern auch eigene und angepasste Botschaften für jede Zielgruppe. Es geht nicht um eine Botschaft mit verschiedenen Adressen, sondern um zwei Botschaften desselben Herrn, angepasst an zwei Ziele. Das erkennt man jedoch nur, wenn man nicht auf vorderhand versucht, einen Einheitsbrei zu kreieren, sondern aufmerksam die Geschichte im Neuen Testament verfolgt.

Welche sind die Unterschiede?

Paulus öffnete mit der Geschichte von Abraham die Tür der Gleichberechtigung für die Glaubenden aus den Nationen. Er war «Apostel der Nationen» (Röm 11,13). Es entstand etwas völlig Neues. Paulus offenbart Geheimnisse, die bis dahin unbekannt waren (Röm 16,25; Eph 3,1-3). Deswegen sollte es uns nicht wundern, dass bei Paulus Unterschiede zu den anderen 12 Aposteln und zu Jakobus auftraten. Sogar Petrus stellte klar, dass nicht alles bei Paulus einfach zu verstehen sei, und die Bedeutung seiner Briefe gerne verdreht wird (2Pet 3,15-16). Paulus spricht also nicht zu oder von Israel, sondern er richtet sich an alle Nationen und ruft mit seinem Evangelium einzelne Menschen zum Glauben.

Jakobus dagegen hatte eine andere Aufgabe als Paulus. Er schrieb an die 12 Stämme aus Israel, die in der Diaspora waren (Jak 1,1). Auch er zitiert Abraham, aber aus einer anderen Perspektive heraus. Jakobus spricht nur von Israel, speziell von den Juden in der Zerstreuung (die also ausserhalb vom Land Israel wohnen). Jakobus führt nicht den Missionsbefehl aus, sondern bleibt im eigenen Haus (Israel).

Diese Unterschiede sind bedeutsam und helfen dabei, die jeweils eigene Botschaft besser zu verstehen.

Glauben und Werke

Es gibt klare Unterschiede zwischen den Aussagen von Paulus und Jakobus. Als Luther endlich die befreiende Botschaft von der rettenden Gnade Gottes aus Glauben allein erkannte (er las den Römerbrief), konnte er mit dem Jakobusbrief nichts mehr anfangen (Luther nannte den Jakobusbrief in seinem Vorwort zum Hebräerbrief eine «stroherne Epistel»). Dies sind die Unterschiede:

Unterschiedliche Aussagen

Paulus

Jakobus

Wir rechnen damit, dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke.
Röm 3,28, vgl. Röm 4,4-5, Röm 4,13-14.

Wer aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineingespäht hat und dabei bleibt und kein vergesslicher Lauschender ist, sondern ein Täter des Werkes, dieser wird in seinem Tun glückselig sein.
Jak 1,25

Wenn aber in Gnaden, dann nicht mehr aus Werken; sonst wäre die Gnade nicht mehr Gnade. Wenn aber aus Werken, dann ist es nicht mehr Gnade; sonst ist das Werk nicht mehr Werk.
Röm 11,6

Doch es wird jemand erwidern: «Du hast Glauben, und ich habe Werke!» Zeige mir deinen Glauben ohne Werke und ich werde dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen!
Jak 2,18

Denn in der Gnade seid ihr Gerettete, durch Glauben, und dies ist nicht aus euch, sondern Gottes Nahegabe, nicht aus Werken, damit sich niemand rühme. Denn wir sind Sein Tatwerk, erschaffen in Christus Jesus …
Eph 2,8-10

Worin besteht der Nutzen, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, Werke aber hat er nicht? Dieser Glaube kann ihn nicht retten!
Jak 2,14

Was wollen wir nun vorbringen, das unser Vorvater Abraham dem Fleische nach gefunden habe? Denn wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt wurde, hat er Ruhm erlangt, jedoch nicht vor Gott. Was sagt denn die Schrift? Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet.
Röm 4,1-3

Willst du wohl erkennen, o leerer Mensch, dass der Glaube, getrennt von Werken, tot ist? Wurde nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt, da er seinen Sohn Isaak auf dem Altar darbrachte? Daran siehst du, dass der Glaube mit seinen Werken zusammenwirkte und der Glaube erst aus den Werken vollkommen gemacht wurde. So wurde die Schrift erfüllt, die sagt: Und Abraham glaubte Gott; und es wird ihm zur Gerechtigkeit angerechnet und er wurde Freund Gottes genannt. Daraus seht ihr, dass der Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht aus Glauben allein.
Jak 2,20-24

Interessant ist, dass sowohl Paulus als auch Jakobus auf den Glauben von Abraham zu sprechen kommen. Sie gehen jedoch anders damit um. Paulus betont die Gerechtigkeit aus Glauben, während Jakobus diesen als Anlass sieht, die Werke als Beweis und Erfüllung davon zu erbringen.

Das sind nicht einfach zwei Seiten derselben Medaille, sondern es sind Aussagen gegen verschiedene Hintergründen.

Foto: Valeriia Miller, Felsformation «Die 12 Apostel», Victoria, Australien. Erstaunlich ist, dass weder Paulus noch Jakobus dabei wäre. Paulus ist der 13. Apostel. Jakobus ist gar kein Apostel, sondern ein Bruder von Jesus.

Unterschiede sind relevant

Wie lässt sich dies nun deuten? Oft versucht man nur die Unterschiede unter den Teppich zu kehren. «Irgendwie sagen die beiden doch das Gleiche aus, oder etwa nicht? Sie meinen es doch beide gut?». Ein anderer sagt vielleicht «Die beiden ergänzen sich! Etwas vom Gesetz und etwas von der Gnade sollte es geben!» Was hätten wohl Paulus und Jakobus gedacht, wenn sie uns so reden hörten? Wohl keiner hätte sich verstanden gefühlt. Vielleicht wären sie sogar richtig empört, dass man ihnen nicht richtig zuhört. Paulus wäre vermutlich radikal – er hat ein Mischevangelium aus Gesetz und Gnade kurzerhand unter den Bann gestellt (Gal 1,6-10).

Das Problem mit einer Nivellierung der Aussagen ist die Abstumpfung der Wahrheit. Paulus macht eine klare Aussage, aber die kann man nicht einfach unter den Teppich kehren, wenn Jakobus etwas anderes sagt. Jakobus dagegen spricht deutlich von etwas anderem als Paulus. Auch seine Aussage will zuerst im eigenen Kontext richtig verstanden werden. Für Paulus war es wichtig, die Gerechtigkeit aus Glauben, ganz ohne Werke zu betonen. Wir sind aus Gnaden gerettet, ohne Werke. Jakobus dagegen spricht von einem Glauben, der ohne Werke tot ist und nicht einmal zu retten vermag. Das ist ein Kontrast, wie er stärker nicht sein könnte.

Dieser Kontrast stellt nur dann ein Problem dar, wenn wir davon ausgehen, dass beide Texte zur gleichen Zuhörerschaft spricht, und beide sozusagen zur selben Gemeinde sprechen. Das ist der Grund, dass man versucht, diese Aussagen beide abzuschwächen und einander abzugleichen. Es ist auch der Grund, dass Luther schrieb, der Jakobusbrief ist eine «stroherne Epistel», also einen wertlosen Brief, verglichen mit dem Römerbrief und der dort gezeigten Gnade.

Müssen wir aber die beiden gegeneinander ausspielen? Müssen wir beide auf Biegen und Brechen einander angleichen? Oder gibt es andere Sichtweisen? Das ist jetzt hier die Frage. Hier scheiden sich die Geister, aber hier kommt auch tiefer Einblick in die Heilsgeschichte. Vergleichen wir noch einmal Paulus und Jakobus:

Die unterschiedlichen Eckdaten

Paulus

Jakobus

Zuhörerschaft Römerbrief
Röm 1,5

Zuhörerschaft Jakobusbrief
Jak 1,1

Aufgabengebiet von Paulus
Röm 11,13 Eph 3,1

Aufgabengebiet von Jakobus
Gal 2,9 (lese Gal 2,1-10)

Evangelium des Paulus
«Evangelium der Unbeschnittenheit»
«mein Evangelium»
Gal 2,7 Röm 16,27

Evangelium der 12 Apostel
«Evangelium der Beschneidung»
mittels Petrus, Johannes, Jakobus
Gal 2,7

Die Anpassung der Botschaft

Nach den Angaben im Text gibt es deutliche Unterschiede, sowohl in der Zielgruppe der beiden, als auch in der frohen Botschaft, welches sie verkündigen. Zwar haben beide Evangelien Jesus Christus im Mittelpunkt, aber mit einer anderen Zielgruppe. Ihre Botschaft ist an die Zielgruppen und deren Erwartung angepasst. Weshalb? Es sind zwei unterschiedliche Situationen, mit zwei unterschiedlichen Gruppen.

Die heutige Gemeinde ist nicht die Fortsetzung von Israel, oder der Ersatz von Israel, sondern kam nebenbei herzu. Deshalb gibt es eine Auswahl aus Israel (die 12 Apostel und die Gemeinde in Jerusalem) und eine Auswahl aus den Nationen (von Paulus berufen). Israel wurde nicht aus dem Plan Gottes gestrichen. Die heutige Gemeinde ist ein Wunder der Gnade Gottes, zusätzlich zu Israel.

Paulus ist der einzige Apostel, der als Apostel der Nationen bekannt ist. Nur er spricht vom «Körper Christi» (Leib Christi). Nur er spricht von Gnade ohne Werken. Dagegen sprechen Petrus, Jakobus und Johannes von der Erfüllung der alttestamentlichen Verheissungen für Israel. Bei Ihnen gehört das Gesetz dazu, nicht im Hinblick auf eine endlose Ewigkeit, sondern als Aufgabe in dieser Welt. Die Gemeinde aus den Juden in Jerusalem erwartete nämlich immer noch die Erfüllung des Königreichs der Himmel, des Königreichs für Israel (Apg 1,6). Sie warteten auf den Messias für Israel (Apg 2,36). Der Fokus ist ein anderer. Für die 12 Apostel wurde das Gesetz nie aufgehoben. Für Paulus aber wurde die Botschaft gewaltig erweitert. Beide Botschaften zu vermischen, ist dadurch automatisch die Vermischung von Gesetz und Gnade.

Problematisch bei dieser Vermischung ist primär, dass viele heute oft davon ausgehen, dass alles in der Bibel von «ewigen» Dingen spricht. Das ist jedoch nicht der Fall. Vieles in der Bibel beschreibt die kommende messianische Zeit und sagt gar nichts über die Zeit danach aus.

Die frohe Botschaft des bevorstehenden messianischen Reiches war in den Evangelien die richtige Botschaft. Jakobus baut auf diese Botschaft auf. Er spricht zu den Glaubenden aus Israel, die immer noch das messianische Reich erwarten. Was Paulus später zu predigen beginnt, wäre undenkbar in den Evangelien. Dort ging es nur um die verlorenen Schafe des Hauses Israel (Mt 15,24) und die Verheissungen an Israel (Röm 15,8). Wir müssen lernen, die Bibelworte im eigenen Kontext zu würdigen.

Was Jakobus sagt, macht 100% Sinn im jüdischen Kontext. Der Ausblick ist keine «unbegrenzte Ewigkeit, Harfe spielend, während man auf einer Wolke im Himmel sitzt», sondern ein Königreich der Himmel, welches aus dem Himmel auf die Erde herabkommt. Das ist die Erfüllung der Verheissungen an Israel. In dieser kommenden Zeit sollen die Nationen via Israel gesegnet werden, wie es bereits Abraham verheissen wurde (1Mo 12,3) und worüber die Propheten sprachen (Jes 11,10 u.a.).

Was Paulus sagt, macht 100% Sinn im Kontext der heutigen Gemeinde aus allen Nationen. Hier gibt es keine Vorzugsstellung von Israel und wir haben ohne Vermittlung via Israel einen direkten Zugang zum Vater im Geist (Eph 2,17-18). Diese Situation ist nicht derselbe als die, worüber Jakobus schreibt. Das messianische Königreich wurde aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. In der Zeit dazwischen gibt es heute die Gemeinde aus allen Nationen, der Körper Christi, von Paulus berufen. Das ist auf Erden nur eine vorübergehende Erscheinung, bis es mit Israel wieder machtvoll weitergeht (Röm 11,25-27).

Im Neuen Testament findet man erstaunlicherweise nicht eine einzige Botschaft, noch eine einzige Erwartung. Als das Königreich nicht aufgerichtet wurde (Apg 1,6-8) und Paulus auf die Bühne erschien, gab es kurze Zeit später zwei Gemeinden. Die eine war in Jerusalem und wartete als Erstlingsfrucht von Israel auf die Aufrichtung des messianischen Reiches. Die andere entstand ausserhalb von Israel unter allen Nationen und es ist die Kirche, welche seit 2000 Jahren nicht durch Gesetz, sondern durch Gnade berufen wurde. Luther hatte das richtig erkannt, aber er konnte mit Jakobus nichts anfangen. Seine Theologie hat ihn daran gehindert, für Israel den Platz zu sehen, wofür Jakobus gearbeitet hat.