Viele Christen sind am Umdenken. Das gab es natürlich immer schon, aber ganz besonders gehört es zu unserer Zeit. Die Vielfalt in christlichem Erleben ist nicht mehr auf wenige Denominationen begrenzt. Es gibt eine unglaubliche Verschiedenheit an christlichem Erleben. Jeder darf heute glauben, was er will und muss – zumindest in unserer Gesellschaft – nicht mit Repressionen rechnen. Die Herausforderung liegt jedoch darin, eine gute und gesunde Richtung zu finden. Viele Menschen sind auf der Suche. In den letzten Wochen erhielt ich mehr Zuschriften als sonst, die meisten per E-Mail. Fragen waren dabei, Rückmeldungen, oder Einblicke in die persönliche Entwicklung. Das stimmt mich immer dankbar. Ich empfinde es als grossartig, wenn jemand aktiv eine Neuausrichtung im Glauben sucht, sich mutig auf den Weg macht, um das wirklich Wertvolle für sich zu entdecken. Davon handelt dieser Beitrag.

Zeiten des Umbruchs

Die Volkskirchen von einst haben an Relevanz empfindlich eingebüsst. Spätestens, wenn der Geldfluss austrocknet, müssen bisherige Strukturen überdacht werden. Das zeichnet sich heute bereits ab (Artikel FAZ, auf Deutsch). Immer mehr Menschen verlassen die alten Strukturen. Das ist jedoch nicht nur ein Phänomen der traditionellen Landeskirchen, sondern in anderer Form geschieht das auch in Freikirchen. Dort ist der «Abfluss von Gläubigen» vor allem ein Durchströmen. Das geschieht dann, wenn Leute stillschweigend wieder gehen, weil Lehre und Subkultur als zu einengend und rigide empfunden werden.

Dann gibt es aber auch noch eine Andere Art des Umbruchs. Sie findet unabhängig der äusseren Zugehörigkeit statt. Es geht um persönliche Fragen. Dieser Umbruch betrifft die wirklich wichtigen Fragen des Lebens aus christlicher Perspektive. Es geht um Themen wie Leben und Tod, um letztes Geschehen und darum, wie man die Bibel jetzt verstehen soll. Bieten die Gemeinschaften dafür keinen Raum, wird die Entwicklung ausserhalb gesucht.

Fragen über Fragen

Wer mit bisher bekannten Antworten nicht mehr zufrieden ist, kann zweierlei tun: Man kann die Fragen nachgehen oder eine mögliche neue Antwort bereits aufgeben. Begegnet man Bibelstellen, die das bisherige Bibelverständnis infrage stellen, dann sollte man solche Fragen eigentlich nachgehen, oder? Leider ist das nicht überall erwünscht. So können Fragen entstehen, auf die keine Antwort gefunden wird und was bleibt ist die Sehnsucht und häufig auch Frustration über ungelöste Fragen und rigide Glaubensanschauungen.

Fragen über Fragen … Wie ist unser Gott und Vater? Was zeichnet Ihn aus? Haben wir einen rachsüchtigen und auf Vergeltung fokussierten Gott oder ist Er ein gnädiger Gott, der durch Christus mit allen zum Ziel kommt (Kol 1,20)?

Und was geschieht, wenn das Leben Kapriolen schlägt? Was passiert, wenn Christen in eine Scheidung hineingeraten, oder neu heiraten wollen? Wird man dann von der Gemeinschaft zum Christen zweiten Ranges degradiert? Und wenn man mit jemand verbindlich zusammenlebt, aber der Staat daran das Etikett «Ehe» nicht verknüpft hat, werden solche Menschen dann von Aufgaben in der Gemeinde ferngehalten? Die Scheinheiligkeit ist manchmal stossend. Wie geht man damit um, wenn Gemeinschaften nur nach innen gekehrt sind und mit fixen Ideen im Kopf stur die Menschen der Gemeinde an die Wand fahren oder einfach nur bewusst ausblenden? Oder wie ist es mit Missbrauch in der Kirche? Mit Verschwendung von Geldern? Fragen über Fragen.

Nicht alle diese Fragen sind für jeden wichtig. Eine Frage jedoch genügt, um sich auf eine persönliche Reise zu begeben. Einige möchten diese Reise im Glauben machen, sich auf Neues einlassen und das anhand der Bibel neu prüfen. Diese Menschen wünschen etwas weniger Einlegung der Bedeutung und etwas mehr Auslegung der Bibel. Dabei soll es nicht um Verurteilung Anderer gehen, sondern um die persönliche Neuorientierung.

Der Wunsch nach Authentizität

Diese persönliche Entwicklung basiert auf Fragen zum Verständnis der Bibel. Soll nicht aus der Bibel der Impuls für ein gottgewolltes und von Gott geschenktes Leben erfolgen? Es geht um Authentizität und die Bedeutung für das eigene Leben, jenseits von Tradition und Vorgaben der Gemeinschaft. Das kann auch passieren, wenn man merkt, dass sich die eigene Gemeinschaft weltfremd inszeniert und sich gegenüber eine «böse» Welt abschottet. Es gibt viele Arten, wie Menschen ins Denken geraten.

Wer in einem solchen Prozess steht, der wirft den Glauben nicht Überbord, nur weil er bessere Antworte will oder einen gnädigen Gott sucht. Mit kritischem Nachdenken werden keine Sonderlehren oder schwärmerische Rechthabereien gemeint, sondern echte Fragen, wie sie seit Tausenden von Jahren die Menschen immer wieder stellen. Wer seine bisherige christliche Perspektive infrage stellt, tut dies oft nicht, weil er nicht glauben will, sondern weil er das bisherige nicht mehr glauben kann. Bisherige Antworte genügen nicht mehr. Es braucht eine Vertiefung des Glaubens, eine echte Auseinandersetzung. Man sucht eine bessere Grundlage und ein authentisches Christsein in dieser Welt.

Natürlich gibt es auch Menschen, die den Glauben tatsächlich «ablegen». Es gibt Menschen, die Christ werden, aber es gibt auch Christen, die Atheist, Muslim oder Buddhist werden. Es gibt Menschen, die sich für einen anderen Weg entscheiden. Hier in diesem Beitrag geht es jedoch nicht um diese Menschen, sondern um Christen, die bewusst Christsein leben wollen, aber dafür in bestehenden Gemeinschaften keine lebensfähige Umgebung vorfinden. Sie denken um, verabschieden sich vielleicht aus bestimmten Annahmen über das Christsein, aber orientieren sich sehr bewusst an der Bibel. Sie sind vollkommen unvollkommen unterwegs, aber tun dies selbstbestimmt und aus Gottes Gnade heraus. Es gibt sehr viele solcher Menschen.

Verantwortung übernehmen

Umdenken ist kein Zuckerschlecken. Wer einmal aus der vertrauten alten Struktur ausbrechen will, der braucht Mut. Insbesondere braucht man Mut, wenn eine Neuausrichtung keine Zustimmung im vertrauten Kreis findet. Was tun, wenn man niemand findet, womit man über die eigenen Fragen austauschen kann? Das braucht noch mehr Mut, denn man ist gezwungen, entweder den Weg allein zu gehen, oder allenfalls ein Netzwerk mit Menschen aufzubauen, mit denen man gemeinsam unterwegs sein kann. Vielleicht sind solche Netzwerke die Gemeinde der Zukunft.

Dieser Prozess der Neuausrichtung bleibt im Leben aktuell. Umdenken ist prozesshaft und kein Schalter, den man einfach mal kippt. Wer sich auf einen Prozess einlässt, kann im voraus selten sehen, wohin dieser führt. Derselbe Prozess ist auch Teil des Erwachsenwerdens, der Identitätsfindung, der Übernahme der Verantwortung für sich selbst. Ebenfalls kann es den Entscheid sein, sich endlich auf die Bibel einzulassen, zum ersten Mal oder um einmal neu hinzuhören, was dort eigentlich steht. Kirchen und Gemeinden könnten Brutstätten geistlichen Lebens sein, indem Menschen auf diesem Weg begleitet werden und Prozesshaftigkeit Teil des gemeinsamen Lebens ist. Leider gibt es dafür kaum Beispiele. Oft wird nur die Tradition, die Struktur, weitergeführt, repetiert, als wäre das der Ausdruck geistlichen Lebens. Ist es das?

Was macht denn geistliches Leben aus?

Das Gefühl der Mitte

Der christliche Arzt Paul Tournier beschreibt die Unsicherheit in Zeiten des Umbruchs als «das Gefühl der Mitte». Es ist das Gefühl des Trapez-Künstlers, der im Zirkus den Schwungtrapez loslassen muss, um zum nächsten Trapez zu «fliegen». In diesem Moment «zwischendrin» fehlt die Sicherheit. Dies ist das Gefühl der Mitte. Es ist die Zeit zwischen loslassen und neuen Halt finden, die Zeit, worin man «ohne Halt» durch die Luft fliegt. Es entspricht der Zeit einer Neuorientierung.

Wie können wir mit dieser Unsicherheit umgehen? Es gibt nicht nur eine einzige Form des Christseins. Das Verständnis wird sehr unterschiedlich geprägt, in Abhängigkeit davon, wie wir uns in der Welt orientieren. Diese Erkenntnis ist nötig. Nötig ist sie, weil es viele Gemeinschaftsformen gibt, in denen erzählt wird, dass etwas «nur so und so» richtig sei. Unser Christsein ist nicht von unserer oder des Anderen momentane Erkenntnis abhängig, sondern von Christus, der uns berufen hat. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Zwischen beiden sollte man sorgfältig unterscheiden.

Es ist erstaunlich, wie viel Angst ausgelöst wird, wenn ein Umbruch passiert, wenn jemand aus alten Strukturen ausbricht und sich auf der Suche nach einem authentischen wahrhaften Glauben begibt. Die Gemeinschaft hat manchmal Angst vor Veränderung. Man fürchtet sich für alle Fragen, die den Status quo infrage stellen könnten. Derjenige, der umdenkt, hat oft auch Angst. Dieser muss sich seinen eigenen Ängsten stellen. Angst ist das Normale: Ein Umbruch ist immer mit Unsicherheit verbunden. Wird man sich aber bewusst, dass meine bisherige Gemeinschaft, meine Ansichten aus der Vergangenheit, einfach nur eine kleine Prägung sind – denen viele anderen Prägungen gegenüberstehen –, können wir dem dann etwas lockerer begegnen?

Schauen wir zurück in die Zeit des Tenach, des Alten Testaments. Dort war Glaube zwar religiös geprägt, aber eine Kirche gab es nicht. Auch die Berufung des Volkes Israels steht nicht am Anfang. Es gab eine Zeit ganz ohne «offizielle» Religion oder Denomination. So war es bei Abraham. Abraham war kein Jude. Er war kein Christ. Diese «Religionen» gab es bislang nicht. Er hat Glauben gelebt, bevor er und nachdem er beschnitten wurde. Gott hat ihn vor seiner Beschneidung grosse Verheissungen gegeben und diese nach seiner Beschneidung bestätigt. Deshalb vereint Abraham sowohl die Nationen (unbeschnitten) als auch das Volk Israel (beschnitten). Paulus bezeichnet Abraham mit den Worten «der unser aller Vater ist», nämlich der Vater aller Gläubigen (Röm 4,16). Ist das nicht befreiend? Abraham hat Gott geglaubt, ganz ohne Denominationen, Gütesiegel oder ISO-Bewertungen irgendeiner Gemeinschaft. «Also Leute – entspannt Euch!» möchte man ausrufen. Glaube ist nicht nur in bestimmten Gemeinschaften möglich oder «richtig». Wer etwas anderes erzählt hat, hat dir einen Bären aufgebunden.

«Leute – entspannt Euch!»

Aufbruch zu neuen Ufern

In einem evangelikalen Umfeld wird häufig schwarzweiss gedacht. Es geht darum, was «richtig» ist und was «falsch» ist. Die Identität wird nicht (nur) an Christus verknüpft, sondern an bestimmten Annahmen über das Christsein, über das, was wahr sein sollte. Was einmal verinnerlicht wird, erhält oft die Bezeichnung «biblische Wahrheit», gerade in evangelikalen Kreisen, auch wenn die Bibel von diesen Annahmen mit keinem Wort spricht. Hier verwechselt man immer wieder mal die Bibel mit den menschlichen Folgerungen über die Bibel. Diesen Knoten zu entwirren, kann überaus anspruchsvoll werden. Es sind solche Themen, die auf dieser Website besonders hervorgehoben werden – als Anregung für eine vertiefte Auseinandersetzung.

Dass es tatsächlich solche «Knoten» gibt, die es zu entwirren gilt, kann ich hier auf der Website gut überprüfen. Die Beiträge mit den höchsten Zugriffszahlen sind solche, die «Hölle» zum Thema haben, sowie weitere damit zusammenhängende Beiträge. Die Rückmeldungen erhalte ich nicht etwa zu Beiträgen wie diesen hier, sondern zu Auseinandersetzungen mit bestimmten Bibelstellen. Zu diesen gibt es die dringendsten Fragen. Man will dogmatische Vorstellungen prüfen und sucht dazu geeignete Wege. Weshalb ist das so? Nun, viele – vor allem evangelikale – Kreise sind stark dogmatisch geprägt. Wer dazu Fragen hat, muss sich mit den Glaubensvorstellungen auseinandersetzen und ebenso mit der biblischen Interpretation. Das ist anspruchsvoll, denn wie prüft man und wo fängt man an? Gerade das aber wurde häufig nie gelernt oder untereinander gepflegt. Dort fängt aber auch der Aufbruch zu neuen Ufern an.

«Die Liebe ist stark genug, um auch die zu lieben, die anders denken als wir; darum brauchen wir, um der Liebe willen die Wahrheit nicht preiszugeben.»

Richard Imberg

Wie geht es weiter?

Der Unterschied zu einer dogmatisch geprägten Welt liegt in einem hörenden Herzen. Ein hörendes Herz ist wie ein Kompass in einer komplexen, grossen Welt. Lernen wir hinzuhören, sowohl wir selbst als auch gemeinsam. Lernen wir, diesen Kompass besser zu nutzen. Unterwegs zu neuen Ufern müssen wir lernen zu unterscheiden, worauf es wirklich ankommt (Phil 1,9) und ebenso sollten wir die Liebe des Christus erkennen, die alle Erkenntnis übersteigt (Eph 3,19).

Konkrete Schritte sollten die Bemerkungen hier oben unterstützen. Denn es geht nicht um diese oder jene Lehre, sondern darum, Gott durch Christus besser kennenzulernen und Ihm wohlgefällig zu leben.

  1. Schreibe einmal auf, was Du klären willst
  2. Wie sieht die Antwort aus, die Du bisher genutzt hast?
  3. Formuliere die Frage
  4. Gibt es Kapitel oder zusammenhängende Abschnitte in der Bibel (nicht: einzelne Verse) zu dieser Frage?
  5. Hast Du alternative Meinungen gehört?
  6. Welche alternativen Begründungen sprechen Dich an? Weshalb?
  7. Was gilt es an Alternativen zu prüfen? Was muss geprüft werden?
  8. Prüfe und stelle die Lücken fest
  9. Prüfe die Lücken
  10. Mache weiter

Alle diese Dinge darf man im Glauben und Vertrauen machen, in Gebet prüfend und im Gespräch abgleichend.

Gott segne Dich dabei!