Rückbesinnung

«Wir müssen reden!» Mit diesen Worten würde ich mich gerne an viele Menschen wenden. Wir müssen reden über die Bibel. Denn das, was über die Bibel gedacht wird, wie sie gelesen und interpretiert wird, das geschieht oft «automatisch», ohne grosses Überlegen. Dabei gibt es gewaltige Unterschiede in der Art, wie wir uns der Bibel annähern.

Von Menschenwort bis Gotteswort, von fehlerfrei bis unzuverlässig – wie Christen die Bibel lesen kann unterschiedlicher nicht sein. Das geht dann so weit, dass Christen einander ablehnen. Jemand, der die Bibel nicht so liest, wie ich sie selbst lese, wird dem Glauben abgestritten. Oder wer «freier» denkt, sieht herablassend auf eine eher konservative Sicht herab. Beides habe ich schon erlebt. Richtig und falsch, schwarz und weiss. Dienen tut das jedoch niemand.

Was man von der Bibel erwartet und wie man dieses Buch der Bücher sieht, ist eine Sichtweise, eine Interpretation und ein Verständnis. Die Bibel polarisiert. Christen schlagen sich auf diese oder jene Seite des Verständnisses. Wir müssen reden über die Art, wie wir die Bibel lesen und weshalb das so ist, denn daraus nährt sich unseren Glauben. Daraus entscheidet sich ebenfalls, welche Gesprächskultur wir pflegen, welche Ziele wir verfolgen und warum dies so ist. Wenn wir im Gespräch unsere Sicht auf die Bibel ansprechen, klären und erörtern, dann wird damit sehr viel von unserem Glaubensverständnis sichtbar. Tun wir das gemeinsam, dann vertiefen wir unser Leben, schenken einander Einblick und Ausblick und bereichern unseren Glauben.

5 Arten des Bibellesens

Wie lesen Christen denn die Bibel? Die folgenden Ansätze sind nicht umfassend, aber dürfen der Orientierung dienen:

  1. Die Bibel ist Gottes Wort – jedes Wort ist inspiriert, es ist fehlerfrei. Ein Wunder der Offenbarung Gottes.
  2. Die Bibel ist Gottes Wort – es ist zuverlässig, weil es von Gottes Geist durchdrungen ist, aber nicht jedes Wort muss fehlerfrei sein (es gibt zwischen Abschriften kleinere Abweichungen)
  3. Die Bibel ist Menschenwort – alles ist fake. Die Bibel als Gotteswort ist eine Fälschung.
  4. Die Bibel ist Menschenwort – Menschen schreiben nur von ihrer Erfahrung. Gott ist nur eine Projektion.
  5. Ganz gewöhnliche Menschen, von Gottes Geist getragen, haben jeweils Teile der Bibel geschrieben. Hat Petrus nicht so etwas gesagt? (2Pet 1,21)

Es ist nichts schwarzweiss

Unschwer kann erkannt werden, dass es mehr als nur zwei Meinungen gibt. Es gibt nicht einfach die Guten und die Bösen. Es gibt nicht nur diejenigen, die die Bibel vertrauen und andere, die die Bibel von Grund auf Misstrauen. Eine solche Annahme wird der Realität nicht gerecht. Man kann die Bibel auch vertrauen, wenn man einräumt, dass hier oder dort auch mal etwas «Menschenwort» drinsteht. Das ist nämlich nachweislich der Fall (vgl. Apg 17,28 u.a.).

Wer davon ausgeht, dass die Bibel 100% inspiriertes Gotteswort ist, hat dafür gute Indizien. Wer im Licht der Bibelwissenschaft erkennt, dass wir vielleicht doch hier oder dort noch mal «über die Bücher» müssen, hat ebenfalls gute Indizien. Für mich als Bibelleser darf es nicht darum gehen, dass ich sozusagen auf Vorderhand entscheiden muss, dass «ein richtiger Christ» oder «ein erleuchteter Christ» sich auf diese oder jene Seite schlägt. Das wird der Bibel nicht gerecht. Ideologische Prägungen sind in der Bibelbetrachtung nicht hilfreich.

Ideologische Prägungen sind in der Bibelbetrachtung nicht hilfreich.

Wie man die Bibel lesen «sollte» ist eine Frage, die man auf verschiedene Weise beantworten kann. Ich möchte hier vom eigenen Erleben ausgehen, weil ich damit etwas aufzeigen kann, das in der Polarisierung der Standpunkte manchmal vergessen geht. Es gibt keine einfache Antworte.

Die Suche nach Verlässlichkeit

Meine persönliche Suche nach Gott fing an, als ich meine eigene Begrenztheit erkannte. Mein Verstehen oder mein Erkennen sind bruchteilhaft. Das gilt für jeden Menschen. Gleichzeitig konnte ich mir aber nicht vorstellen, dass die Welt unzusammenhängend wäre. Das widerspricht der Wahrnehmung. Gäbe es also eine tragende und stabile, wahre und verlässliche Konstante in dieser Welt? Gibt es einen Gott? Und wenn es einen Gott gibt, wo und wie erfahre ich von Ihm? Das waren einige der Fragen, womit ich mich auf den Weg gemacht habe.

Später kam ich von der Frage nach Gott zur Sehnsucht nach Gott. Das mündete letztlich in die Beziehung zu Gott (vgl. Eph 2,8 und Röm 8,16). Als ich sozusagen in Ihm diese Zuverlässigkeit und Konstante erfuhr, habe ich diese Erfahrung auf die Bibel übertragen.

Es war einerseits die Bibel, welche mir dies klargemacht hat und andererseits hatte ich erkannt, dass die Bibel zuverlässig über diese Welt und über Gott spricht. Das war und ist meine Erfahrung. Das ist jedoch weder eine dogmatische Position noch ist es eine Ideologie. Nicht alles in der Welt kann ich mit der Bibel erklären oder verklären. Die Erfahrung mit der Bibel jedoch ist real und sie wirkt sich in meinem Leben aus. In Bezug auf Gottes Wesen und Wirken habe ich dankbar immer wieder Neues und Verbindendes aus dem Buch der Bücher entnehmen können.

Text als Text lesen

Vom persönlichen Erleben aus habe ich die Bibel stets zuerst einfach als Text gelesen. Ich war neugierig, was da geschrieben stand. Ich wollte einfach mehr wissen. Das ist meines Erachtens die einzige Grundlage, worauf man sich der Bibel objektiv nähern kann. Der erste Schritt: Lese die Bibel. Lies es einfach, wie es geschrieben steht. Versuche den Zusammenhang, den Text im Kontext, zu verstehen. Interpretiere nichts. Lasse die Geschichten, die Zeugnisse, die Berichte selbst zu Wort kommen. Das sollte das Normale sein. Diese Haltung bringe ich sogar einer Tageszeitung, einem Sachbuch, einem Roman entgegen. Das ist das Mindeste, was ich der Bibel entgegenbringen kann. Scheint das vernünftig? Vielfach wird dieses Vorgehen umgehend von Meinungen und Ideologien torpediert. Wie kann das aussehen?

Der konservative Christ wird einwerfen, dass die Bibel doch kein normales Buch ist. Weil die Bibel als Gottes Wort ohne Fehler sei, löst es Angst aus, wenn man an der Schrift rüttelt. Man liest die Bibel durch die Brille des eigenen Verständnisses. Man verwechselt die eigene Ideologie, das eigene Lehrgebäude, mit der Bibel. Das tritt am deutlichsten hervor, wenn man eine angeblich «biblische» Lehre anhand der Bibel als Ideologie entlarvt (siehe den Beitrag «Das Gespräch über Himmel und Hölle»). Man ist nicht frei, die Bibel einfach zu lesen, sondern man kann sie nur aus einer bestimmten Sicht heraus lesen. Das ist echt schräg. Man ist nicht frei.

Theologen können von einer anderen Seite her argumentieren, die ebenso wenig frei ist. Vor einigen Monaten hielt ich eine Andacht über einen Psalm. Verschiedene Theologen waren dabei. Ich las die paar Eingangsverse des Psalms, der mit den Worten «Ein Psalm Davids» anfing. Später kam die Kritik. Da wurde erwähnt, ich hätte das so nicht machen dürfen, sondern erwähnen müssen, dass David diesen Psalm vielleicht nicht geschrieben hätte. Ich war schockiert. David war nämlich nicht das Thema. Es ging auch nicht um die Historizität der Psalmen, um den geschichtlichen Kontext. Es war eine Andacht. Darin ging es um den Psalm, und was wir aus dem Text lernen können. Die Reaktion war seltsam, nicht angebracht, überheblich und irreführend in meinen Augen. Die Erfahrung zeigt mir, dass auch in vermeintlich «professionellen Kreisen» Ideologien prägend sein können. Es wundert mich nicht, wenn bei dieser Art der Betrachtung weder Lebensfragen noch Glaubensfragen zur Geltung kommen. Seltsam, dass in den Landeskirchen Glaube manchmal keinen Ausdruck mehr hat.

Wenn die Bibel tatsächlich «gottgehaucht» ist, wie es Paulus seinem Mitarbeiter Timotheus in Bezug auf das Alte Testament schreibt (1Tim 3,16. gr. theopneustos, «von Gottes Geist durchhaucht»), soll ich doch ein Mindestmass an Respekt dem Wort entgegenbringen. Bibelleser sind nicht per definitionem Unmündige, noch sollen wir Gottes Geist in uns unterschätzen. Zumindest sollten wir die Bibel lesen können. Das bedeutet nicht, dass wir unkritisch sein müssen, aber es hilft nicht, mit vorgefassten Meinungen an die Schrift heranzugehen, ganz egal, ob das eine theologische Überheblichkeit oder lehrmässige Verbohrtheit ist. Selbstverständlich sollten wir offen und gründlich die Bibel studieren. Mit dem eigentlichen Bibellesen (das Thema dieses Beitrages) hat das allerdings nur am Rande etwas zu tun.

Das Gespräch über die Bibel

Ich begegne Leute, denen es unendlich schwerfällt, die Bibel unvoreingenommen zu lesen. Die Prägung aus der Vergangenheit kann so gross sein, dass ein schlichtes und innerlich freies Lesen vom Text häufig gar nicht gelingt. Immer klingen noch Annahmen über die Bibel, Ideologien und Lehrmeinungen mit. Genau darum geht es hier. Wenn wir eine lebendige Gemeinschaft sein wollen, dann braucht es eine Offenheit und Freiheit der Bibel gegenüber. Offenheit und Freiheit gewinnen wir aber nur, wenn wir unsere eigene Begrenztheit anerkennen. Wir wissen nicht alles. Niemand weiss alles. Wir dürfen aber lernen, sogar auch gemeinsam lernen.

Ist es wichtig, über die Zuverlässigkeit der Bibel zu reden? Selbstverständlich. Ist die Verbalinspiration der Schrift eine Ideologie oder eine Tatsache? Dazu sollte man sich austauschen. Gibt es die Bereitschaft zu lernen? Wie wir die Bibel lesen, ist keine Vorgabe, sondern im besten Fall die Errungenschaft einer Auseinandersetzung. Es braucht keine Polarisierung. Es braucht weder Abschottung gegenüber Andersdenkende noch Überheblichkeit wegen angeblicher Kompetenz. Wenn wir die Bibel lesen, dann geht es nie um die Bibel an sich, oder um eine Meinung oder Ideologie, sondern darum, dass wir Gott kennenlernen.