Es gibt einen Bibelvers, der landauf und landab als Ausdruck christlicher Gemeinschaft zitiert wird. Es ist dieser Vers: «Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, dort bin Ich in ihrer Mitte» (Mt 18,20). Ist das jetzt eine Bestätigung der Gemeinschaft in der Gemeinde oder geht es hier um etwas anderes?

Keine Erfolgsformel

Eine gesunde Bibelbetrachtung betrachtet jeden Text immer zuerst im eigenen Kontext. Tut man das nicht, werden die Worte leicht missinterpretiert. Das geschieht auch mit diesem Vers. Zwei Dinge werden hier oft angenommen, die im Text gar nicht erwähnt sind:

  1. Es benötigt zwei, dann ist Jesus dabei (und mit drei wird’s richtig gemütlich)
  2. Dies ist eine Aussage über die Gemeinde (denn wir haben Jesus gepachtet)

Beide Annahmen sind falsch. Es geht hier weder um eine Formel, wonach Jesus ab zwei Teilnehmer dabei ist, noch um eine Beschreibung der heutigen Gemeinde. Das lässt sich mit wenigen Fragen erkennen.

Zum ersten Punkt: Soll hier implizit auch ausgesagt sein, dass Jesus nicht bei Dir ist, wenn Du allein bist? Braucht es mindestens zwei Menschen, damit Jesus sagt «Jetzt lohnt es sich, dass ich dabei bin»? Vermutlich wirst Du dies verneinen, wonach der Vers sofort relativiert ist. Es wird uns intuitiv klar sein, dass es sich hier nicht um eine Art Erfolgsformel für Gemeinschaft handelt, noch um eine Zauberformel, um Jesus in Bewegung zu setzen.

Es wird uns intuitiv klar sein, dass es hier nicht um eine Art Erfolgsformel für Gemeinschaft handelt, noch um eine Zauberformel, um Jesus in Bewegung zu setzen.

Der zweite Punkt lässt sich ebenfalls leicht beantworten. Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Gemeinde erst in der Apostelgeschichte beginnt. Vorher gab es noch keine Gemeinde, worin Gläubigen aus den Nationen einen Platz hatten. Die aktuelle Stelle ist noch vor dem Kreuz geschrieben und Jesus hat zuvor sehr konkret angegeben, dass Er ausschliesslich zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels geschickt wurde (Mt 15,24). Von einer heutigen Gemeinde aus allen Nationen war wirklich keine Rede. Man kann diesen Text nicht einfach nach Belieben interpretieren. Nicht überall, wo «Jesus» darauf steht, ist auch «heutige Gemeinde» drin. Mehr dazu im Beitrag «Jesus und Paulus – sagen sie dasselbe aus?»

Das Problem mit einer solch populären Aussage ist nicht nur, dass man den Text missinterpretiert, sondern auch, dass man den Text nicht versteht. Die ursprüngliche Bedeutung geht verloren und damit auch ein Stück Reichtum.

Warum geht es hier wirklich?

Es geht um eine Zurechtweisung

Möchten wir die Aussage im Kontext verstehen, müssen wir den Kontext einbeziehen. Dann liest sich diese Geschichte ganz anders.

«Wenn nun dein Bruder sündigt, so gehe hin und überführe ihn zwischen dir und ihm allein. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht auf dich hört, nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jeder Rechtsfall durch zwei oder dreier Zeugen festgestellt wird. Wenn er aber nicht auf sie hört, sage es der herausgerufenen Gemeinde; wenn er auch der herausgerufenen Gemeinde nicht gehorcht, so gelte er dir so viel wie einer aus den Nationen oder ein Zöllner.
Wahrlich, Ich sage euch: Was auch immer ihr auf Erden bindet, wird das sein, was auch im Himmel gebunden ist und was auch immer ihr auf Erden löst, wird das sein, was auch im Himmel gelöst ist.
Wahrlich, wieder sage ich euch: Wenn zwei von euch hier auf Erden darin übereinstimmen, irgendeine Sache zu erbitten, so wird es Ihnen von Meinem Vater in den Himmeln gegeben werden; denn wo zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind, dort bin Ich in ihrer Mitte.»
Mt 18,15-20

Dieser Abschnitt spricht nicht über willkürliche Themen, sondern die Aussagen gehören zusammen. Der gerade zitierte Abschnitt gehört zu einem Gespräch zwischen Jesus und Seinen Jüngern, das ganz Kapitel 18 beschlagnahmt. Die ursprüngliche Frage der Jünger in diesem Gespräch betrifft das «Königreich der Himmel» und die Antwort von Jesus passt zu diesem speziellen Kontext (Mt 18,1). Die Jünger erlebten mit Jesu Verkündigung sozusagen ein Anfang des kommenden messianischen Reiches. Das ist der Kontext und auch diese Verse gehören dazu.

Logischerweise geht es nicht nur um Zukunftsmusik, sondern auch um praktische Fragen. «Wenn nun dein Bruder sündigt» ist ein solcher Hinweis. Es geht um das gemeinschaftliche Leben. Was tun, wenn es Probleme gibt, wenn jemand «sündigt» und ein ungesundes Verhalten an den Tag legt? Dann gibt Jesus ein paar praktische Hinweise, die zum Schutz aller Menschen sind. Es geht um eine Zurechtweisung:

  1. Ein «Bruder» (jemand aus der Gemeinschaft) sündigt. Du siehst das Verhalten, das nicht in Ordnung ist (Mt 18,15)
  2. Gehe privat zu ihm und rede mit ihm. Das ist der erste Schritt (Mt 18,15)
  3. Reagiert dein Bruder nicht, rede nochmals, aber bringe ein oder zwei Zeugen mit («wo zwei oder drei …»). Mt 18,16)
  4. Reagiert dein Bruder auch dann nicht, bringe den Fall vor der Gemeinde (Mt 18,17)
  5. Reagiert dein Bruder auch nicht auf die Beurteilung durch die gesamte Gemeinde, soll man ihn betrachten als einer aus den Nationen (nicht israelischen Völkern) oder wie ein Zöllner (Mt 18,17). Von diesen hat man sich distanziert. Dies zeigt auch eindrücklich, dass es hier nicht um die heutige Gemeinde geht.
  6. Die Beurteilung soll nun Gültigkeit haben, im Himmel wie auf Erden. Jesus legt Verantwortung beim einzelnen Menschen, dann bei den einigen der Gemeinde, dann bei der gesamten Gemeinde. (Mt 18,18)
  7. Gott wird diese gemeinsamen Entscheide bestätigen, nicht weil Menschen etwa unfehlbar sind, sondern weil hier pragmatische Lösungen gesucht werden, mit Gottes Wirken vor Augen (Mt 18,19)
  8. (jetzt folgt die Begründung) … Denn wo zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind, dort bin Ich in ihrer Mitte.

Das Thema ist Zurechtweisung in der Gemeinschaft und wie man darin vorgeht. Sieht man etwas, das nicht gut ist, soll man zuerst persönlich vorsprechen. Wenn das nicht fruchtet, soll man mit einem oder zwei Zeugen nochmals hingehen. Weicht der Bruder auch dort aus, geht es an die nächste und letzte Instanz: die Gemeinschaft. Gelingt auch da keine Korrektur des Verhaltens, sollte man diese Person als «ausserhalb des Volkes Israels» betrachten. Die jüdische Gemeinde in Jerusalem, die auf die Aufrichtung des messianischen Königreichs warteten, pflegten keinen Kontakt mit Nichtjuden. Sogar mit frommen Proselyten wurde der Kontakt ausgewichen. Das zeigt unter anderem die Geschichte von Petrus und Kornelius (Apg 10), wo Petrus sich heftig dagegen gewehrt hat, mit einem Proselyten Kontakt aufzunehmen.

Es handelt sich hier um eine Art Gemeindezucht. Dass nun Gott und Jesus solidarisch zu den Entscheidungen der Gemeinde stehen, ist hier die Aussage. Das ist aussergewöhnlich. Das Vorgehen ist sehr bedachtsam. Es sind mehrere Schritte erforderlich. Am Schluss soll jedoch der Entscheid vor dem Menschen ebenso gelten wie vor Gott.

Hier wird also keiner leichtfertig ins Aus manövriert. Man versucht den Menschen zu gewinnen, der durch sein Verhalten (nicht: andere Lehrmeinung!) aufgefallen war. Sollte man sich aber dazu entschliessen, sich von einem Menschen mit falschem Verhalten zu distanzieren, dann ist das in Ordnung. Mann kann also nicht aufstehen und behaupten, das sei bloss ein «menschlicher» Entschluss, den man direkt wieder anzweifeln kann, sondern es ist ein pragmatischer Entschluss, durch Übereinstimmung mehrerer Menschen gefasst wurde. Das wird gelten.

«Wenn zwei von euch hier auf Erden darin übereinstimmen, irgendeine Sache zu erbitten, so wird es ihnen von Meinem Vater in den Himmeln gegeben werden». Es dürfte jetzt klar sein, dass es nicht irgendwelche Fragen oder Bitten betrifft, sondern, dass es um den überaus schwierigen Entscheid geht, jemand zurechtzuweisen und sich dabei vielleicht zu einem schmerzhaften Schritt der Distanzierung gezwungen sieht. Fasst Mut! Jesus ist in einem solchen Fall dabei. Er ist dann Mitte unter uns. Man darf mit Gottes Führung rechnen, auch dann, wenn nicht alles einfach ist. Der Fokus in diesem Abschnitt ist die Gemeinschaft. Einen solchen Entscheid wird im Hinblick auf die Gemeinschaft gemacht.

Zwei oder drei

Der Ausdruck «zwei oder drei» findet man im Alten wie im Neuen Testament. Paulus schreibt beispielsweise:

«Gegen einen Ältesten nimm keine Anklage an, ausgenommen auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin.»
1Tim 5,19

Diese «zwei oder drei» sollen dazu dienen, dass «nur mit mehreren Zeugen» eine Aussage gemacht werden kann. Das ist nötig, weil sonst einzelne Menschen gegen etwa Ältesten in den Krieg ziehen. Das habe ich selbst mehrfach so erlebt und kann deshalb zustimmen, dass diese Aussage von Paulus an Timotheus sehr sinnvoll ist.

Paulus wiederholt dabei Hinweise, die es ebenso bereits in der Tenach (Altes Testament) gab:

«Auf die Aussage zweier Zeugen oder dreier Zeugen hin soll getötet werden, wer sterben soll. Er darf nicht auf die Aussage eines einzelnen Zeugen hin getötet werden.»
5Mo 17,6

«Ein einzelner Zeuge soll nicht gegen jemanden auftreten wegen irgendeiner Ungerechtigkeit oder wegen irgendeiner Sünde, wegen irgendeiner Verfehlung, die er begeht. Nur auf zweier Zeugen Aussage oder auf dreier Zeugenaussage hin soll eine Sache gültig sein.»
5Mo 19,15

Genau so hiess es auch im Matthäusevangelium, wie bereits zitiert:

«Wenn er aber nicht auf dich hört, nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jeder Rechtsfall durch zweier oder dreier Zeugen Mund festgestellt wird.»
Mt 18,16

Mit Gemeinschaft im geselligen oder geistlichen Sinn hat dies nichts zu tun. Es geht um Zeugenaussagen und darum, dass man umsichtig mit einem schwierigen Fall in der Gemeinschaft umgehen soll.

Geht es nicht doch um Gemeinschaft?

Aber geht es nicht doch auch um Gemeinschaft? Nein, nicht nach dem Kontext. Man muss das zuerst hineininterpretieren.

Es gibt allerdings aus der jüdischen Tradition Fragen zur Gemeinschaft. Im Buch «The Life and Times of Jesus the Messiah» beschreibt Alfred Edersheim, ein Jude aus Budapest, die jüdischen Hintergründe zu den Evangelien. Das ist hochinteressant. Zu Matthäus 18,20 erwähnt er (Buch ii, Seite 124) eine Passage aus der Mishnah (Ab. iii.2) und der Talmud (Ber. 6a) und aufgrund von Maleachi 3,16, dass – wo zwei oder drei zusammenkommen und sich mit der Thora auseinandersetzen, die Schechina (die Herrlichkeit Gottes) unter ihnen ist. So versucht man dem Wort auf die Spur zu kommen und interpretierend eine neue Bedeutung daran zu verknüpfen. Man beachte jedoch, dass diese Art der Bibelbetrachtung völlig anders ist, als beispielsweise in evangelikalen Kreisen üblich.

Im gleichen Abschnitt erwähnt Edersheim, dass man in der jüdischen Tradition keineswegs gefolgert hat, dass man auf sich allein gestellt ohne Gottes Anwesenheit auskommen müsste. Auf Basis von Klagelieder 3,28 und 2Mose 20,21 erkannte man, dass Gott auch dann anwesend ist, wenn man allein ist. Er wird auch dann gegenwärtig sein und den einzelnen Menschen segnen.

Vertiefung