Am Ende seines Lebens war Paulus in Rom gefangen. Dies führte dazu, dass Paulus nicht reisen konnte. Stattdessen hat er Briefe geschrieben. Diese wurden bekannt als Gefangenschaftsbriefe.

Gefangenschaftsbriefe

Die folgenden Briefe betrachtet man als Gefangenschaftsbriefe. Sie wurden alle vom Apostel Paulus erfasst. Die letzten Jahre seines Lebens war er in römischer Gefangenschaft, zuerst in Israel und später in Italien. Während seiner Gefangenschaft schreibt er Briefe. In diesen Briefen beschreibt er sich selbst als Gefangener.

  • Epheser
  • Philipper
  • Kolosser
  • 2. Timotheus
  • Philemon

Die Gefangenschaftsbriefe sind Paulus’ letzte Briefe. Der Überlieferung nach wurde er von Kaiser Nero hingerichtet. In seinen letzten Briefen beschreibt Paulus sich als «alt» (gr. πρεσβύτης), demnach als «bejahrten Paulus».

«So spreche ich vielmehr zu um der Liebe willen, als ein bejahrter Paulus, denn ein solcher bin ich, nun aber auch ein Gebundener Christi Jesu.»
Phlm 1,8-9 KNT

Dass er sich als alt, und als bejahrt sieht, hat mit seinem Alter zu tun, aber widerspiegelt auch eine Lebensreife. Wir sind hier am Schluss seines Lebens. In seinem Brief an Philemon verschafft ihm das den Respekt des Alters. Es ist, als betont er damit sein Anliegen gegenüber Philemon. Das griechische Wort für «alter oder bejahrter» Paulus ist presbuteros, was etymologisch betrachtet vielleicht vor-eintreten bedeutet. Das ist wie Vorfahrt im Verkehr. Vorfahrt nimmt man nicht, sondern man erhält es. Ebenso verhält es sich beim Respekt. Beim Eintreten in einen Raum kann man der älteren Person sagen: «nach ihnen», um dieser Person so den Vor-Eintritt zu gewähren. Respekt vor älteren Personen ist in vielen Kulturen noch stark spürbar und war es damals bereits. Vergleiche dazu auch etwa 1Tim 5,1, 1Tim 5,17, 1Tim 5,19 (bedenke, dass Ältesten ehemals auch stets «älter» waren, weil die benötigten Anforderungen erst mit der Lebens- und Glaubenserfahrung kommen).

Die Gefangenschaftsbriefe, die der Apostel in dieser Zeit schreibt, entstanden aus konkreten Anlässen. Wir können sie aber gesamthaft auch als ein Vermächtnis betrachten. Hier finden wir die Worte eines bejahrten Paulus, der aus seiner Erfahrung schöpft. Einige Themen werden zum ersten Mal in diesen Briefen erwähnt. Deswegen stehen sie auf einer imaginären Zeitachse der Offenbarung weiter hinten. Hier finden sich die letzten Worte von Paulus, nicht nur Variationen auf frühere Themen.

Gefangener von Christus Jesus

Obwohl Paulus von den Römern gefangen wurde, betrachtet er sich in diesem Brief an Philemon nicht als Gefangener von Rom, sondern als «Gebundener Christi Jesu» (Phlm 1,1; Phlm 1,9; Eph 3,1; oder «Gefangene im Herrn» Eph 4,1). Die Situation mag äusserlich so aussehen, dass er von den Römern gebunden wurde, aber die Betrachtungsweise erst steuert, wie er in dieser Situation steht. In dieser Aussage ist viel Lebens- und Glaubensweisheit enthalten. Bereits in frühen Briefen hat er deutlich gemacht, dass er danach strebt, zu tun, was nicht bloss für ihn selbst, sondern für viele hilfreich ist (1Kor 9,19-23; 1Kor 10,33). Im Philipperbrief schreibt er gar (als Gefangener):

«Ich beabsichtige aber, Brüder, euch erkennen zu lassen, dass meine Angelegenheiten eher zur Förderung des Evangeliums geführt haben, sodass bei dem ganzen Prätorium) und allen übrigen meine Fesseln als um Christi willen offenbar geworden sind.»
Phil 1,12-13

Paulus war nicht masochistisch veranlagt und suchte nicht die Gefangenschaft. Als er sich jedoch darin wiederfand, erkannte er auch, dass seine Fesseln «als um Christi willen» waren. Als «Gefangener Christi Jesu» wählt er bewusst einen Zusammenhang, der seine Situation in einem anderen Licht setzt. Das war nicht ohne Auswirkung. Viele haben Mut geschöpft (Phil 1,14) und am Ende des Philipperbriefes lässt er sogar Grüsse aus dem Haus des Kaisers ausrichten, wo offenbar Kontakte zu Gläubigen vorhanden waren (Phil 4,22).

Bei Paulus kann man beispielhaft lernen, wie man das Beste aus einer Situation macht.

Gemälde von Rembrandt (1627). Bild in Public Domain.

Das Gefängnis von Paulus

Rembrandt hat Paulus 1627 in einer Gefängniszelle abgebildet. Paulus war mehrfach im Gefängnis. In Israel war er in Gefängnissen, aber auf der Reise nach Rom verlief das etwas anders. Zuerst landeten sie in Puteoli, wo er, als Gefangener, sieben Tage bei Brüdern blieb (Apg 28,14). Als sie von dort nach Rom aufbrachen, war Paulus immer noch ein Gefangener. Einmal in Rom wurde ihm gestattet «mit dem ihn bewachenden Krieger für sich zu bleiben» (Apg 28,16). Das Letzte, was man in der Apostelgeschichte lesen kann, spricht ebenfalls nicht von einem Gefängnis:

«Er blieb dann zwei ganze Jahre in eigener Mietwohnung und hiess alle willkommen, die zu ihm kamen.»
Apg 28,28

Der Fall von Paulus war bisher nicht abgeschlossen. Paulus war weiterhin ein Gefangener. Er verblieb jedoch in eigener Mietwohnung, vermutlich ebenfalls mit einem Soldaten zur Bewachung, wie bereits in Puteoli. Was Rembrandt gemalt hat, lässt sich also nicht auf diese Zeit anwenden. Paulus war Gefangener, aber konnte daheim bleiben. Diese Zeit hat er intensiv genutzt:

«Er heroldete das Königreich Gottes und lehrte mit allem Freimut und ungehindert, was den Herrn Jesus Christus betrifft.»
Apg 28,31

Dies ist der letzte Vers der Apostelgeschichte. Zwar konnte der Apostel nicht mehr reisen, aber er konnte Menschen empfangen. Die Tür ging nicht mehr nach aussen, aber nach innen. Er empfing Gäste und sprach mit vielen Menschen. Weil dies ausdrücklich als «ungehindert» beschrieben wird, kann man sich auch vorstellen, dass er dort die Gefangenschaftsbriefe schriebe. Einige argumentieren dafür, dass Paulus möglicherweise bereits in Caesarea Briefe geschrieben hat. Dort war er tatsächlich im Gefängnis, oder, besser gesagt, im Prätorium des Herodes (Apg 23,35).

Man kann es auch so betrachten: Die Gefangenschaftsbriefe oder Gefängnisbriefe hat Paulus während seiner Gefangenschaft geschrieben, weil er die Menschen nicht besuchen konnte. Den Philippern etwa schrieb er, dass er sich nach ihnen sehnte (Phil 1,8). Als Gefangener konnte er jedoch nicht reisen. Die Sehnsucht war Ausdruck des Verlangens, aber ein Besuch bei den Philippern war zu der Zeit keine Option (Phil 1,7; Phil 1,14).

Abschluss der Apostelgeschichte

Die Apostelgeschichte ist ein Buch des Übergangs. Die Gemeinde in Jerusalem und der jüdischen Diaspora (mit den zwölf Aposteln) und die Gemeinden unter allen Nationen (mit Paulus & Co.) hatten viele Fragen. Eine neue Situation war anfangs verwirrend. Die Berufung von Nationen durch ein Evangelium der Gnade, wie es Paulus verkündete, war unerhört. In direktem Widerspruch zu der Sprache in der Tenach kam das Heil nicht durch Vermittlung via Israel zu den Nationen, sondern direkt. Nur Paulus verkündet das so (Röm 11,15). Jeder hat seinen Weg gesucht, Fragen gestellt und nach einem Konsens gesucht, sogar in Unterschiedlichkeit (Gal 2,7-9).

Paulus wurde als Saulus auf dem Weg nach Damaskus berufen (Apg 9). Dort wurde seinen Auftrag wie folgt beschrieben:

«Aber der Herr sagte zu ihm [Ananias]: Geh hin! Denn dieser ist mir ein auserwähltes Gerät, meinen Namen vor die Augen der Nationen wie auch der Könige und der Söhne Israels zu tragen.»
Apg 9,15

Dieser Dienst beginnt in Kapitel 13 (Apg 13). Bei Dienstantritt wechselt der Name von Saulus zu Paulus (Apg 13,9) und wir lesen in der Apostelgeschichte, wie er diese drei Zielgruppen berücksichtigt. Allerdings entwickelt sich die Situation, bis Paulus in Rom in Gefangenschaft ist. Dort beruft er «die Ersten der Juden» (Apg 28,17) und spricht zu Ihnen über die «Erwartung Israels». Die Juden hatten von dieser Jesus-Sekte gehört und erfahren, dass sie «überall Widerspruch erfährt» (Apg 28,22).

«An dem mit ihm vereinbarten Tag kamen noch mehr zu ihm in die Unterkunft, denen er vom Morgen bis zur Abenddämmerung das Königreich Gottes auseinandersetzte und bezeugte, indem er sie in Bezug auf Jesus vom Gesetz des Mose wie auch von den Propheten her zu überzeugen suchte. Die einen wurden von dem Gesagten überzeugt, während die anderen nicht glaubten.»
Apg 28,23-24

Das Königreich Gottes hier spricht also explizit von der Erwartung Israels. So hatte das Buch Offenbarung auch angefangen mit der Frage der Jünger an Jesus: «Herr, stellst Du in dieser Zeit das Königreich für Israel wieder her?» (Apg 1,6) Auch Paulus hatte den Auftrag erhalten, zu Israel zu reden, was er in Rom noch einmal ausführlich tat. Allmählich hatten sich jedoch einige Dinge verschoben und der Fokus kam immer mehr bei den Nationen zu liegen, als die Juden gesamthaft das Zeugnis nicht annahmen. Was Jesus gesagt hatte, Petrus an Pfingsten (Shawuoth) wiederholte und Paulus auch hier noch einmal anbot, war das Zeugnis über ein bevorstehendes messianisches Reich, worin Israel den Vorzug erhalten sollte.

Hier jedoch ändert sich einiges. Paulus hatte auch einen Auftrag für die Nationen, nicht zur Missionierung, sondern zur Verkündigung eines Evangeliums der Gnade. Die Apostelgeschichte berichtet:

«Da sie aber miteinander Unstimmigkeiten hatten, entfernten sie sich, nachdem Paulus noch den einen Ausspruch getan hatte: Trefflich spricht der Geist, der heilige, durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern: „Geh zu diesem Volk und sage: Mit dem Gehör werdet ihr hören und doch nicht verstehen. Blickend werdet ihr erblicken und doch nicht wahrnehmen; denn das Herz dieses Volkes ist verdickt, mit ihren Ohren hören sie schwer, und sie schliessen ihre Augen, damit sie nicht etwa mit den Augen wahrnehmen, mit den Ohren hören, mit dem Herzen verstehen und sich umwenden, damit Ich sie heilen würde.“ (Jes 6,9-10). Es sei euch daher bekannt gemacht, dass diese Rettung Gottes den Nationen gesandt worden ist; sie werden auch hören!»
Apg 28,25-28

Paulus sah seinen Auftrag an Israel offenbar als abgeschlossen. Hier wechselt er zu den Nationen und ist sich sicher, dass diese auch hören werden. Zwischen seinem Dienstanfang in Apostelgeschichte 13 und dem Abschluss in Apostelgeschichte 28 liegen noch viele kleine Schritte. Es ist lehrreich diese nachzuspüren, weil man erkennen kann, dass der Übergang allmählich geschah. Damalig war dies alles umwerfend neu. Wenn wir auch selbstverständlich davon ausgehen, dass die christliche Botschaft heute alle Welt betrifft, so war es damals nicht der Fall. Die 12 Apostel haben den Missionsbefehl nicht ausgeführt. Paulus gehört nicht zu den 12 und erhält ein neues, noch unbekanntes Evangelium der Gnade, was der Vermittlung durch Israel nicht bedarf.

Entwicklung im Neuen Testament

Hier gibt es weitere Skizzen und Hilfen, sich die Entwicklung näher anzuschauen. Die Grundlagen sollen dazu ermutigen, die Zusammenhänge im Neuen Testament selbst nachzuprüfen.

Arbeitsblätter ApostelgeschichteÜbersicht Neues Testament 1

Neugierde hilft dabei, anhand dieser Ideen den Text selbst zu untersuchen. Dann wäre das Ziel erreicht. Es geht nicht um Zustimmung oder Ablehnung, sondern um Deine eigenen Entdeckungen.

Einordnung der Gefangenschaftsbriefe

Aufgrund der genannten Merkmalen können wir jetzt die Gefangenschaftsbriefe versuchen einzuordnen. Zeitlich gehören sie vermutlich nach der Apostelgeschichte. Dabei können wir bedenken, dass die Apostelgeschichte ein anderes Anliegen hat als die Briefe von Paulus. Zwischen beiden müssen wir keine Übereinkünfte suchen. Eher können wir Unterschiede erwarten. Unterschiede kann man insbesondere zu den Gefangenschaftsbriefen erwarten. Weshalb? Während der Zeit der Apostelgeschichte war Paulus noch bemüht, allen genannten Zielgruppen zu bedienen. Das ändert sich am Schluss der Apostelgeschichte. Danach ist es naheliegend, dass er sich spezifisch an die Nationen wendet.

Einige kommen jetzt zum Schluss, dass «also» nur die letzten Briefe von Paulus für die heutige Gemeinde gelten. Dem pflichte ich nicht bei. Es sind diese absoluten Trennungen, die problematisch sind. Vielmehr baut Paulus auf die vorherigen Dinge auf. Seine Briefe wurden fleissig geteilt und auch kopiert. Er bleibt in seinen Aussagen kongruent, aber Ideen entwickeln sich, ohne sich von älteren Ideen zu distanzieren. Wie immer und wie bei allen biblischen Büchern: Lese sie im eigenen Kontext zuerst.

Warum ist dies wichtig?

Es geht um ein besseres Verständnis der Bibel, um Zusammenhänge, Entwicklungen und dergleichen mehr. Eine Entwicklung innerhalb der Briefe von Paulus erkennt man an den Zielgruppen, die sich ändern. Legt man die Paulusbriefe neben der Apostelgeschichte, findet sich darin zwar nicht dasselbe geschrieben, aber man kann vielleicht erkennen, dass Paulus unterwegs war, auf Reisen wie in Gedanken. Wo sieht man die Weiterentwicklung? Vielleicht hier:

  • Erstmals beschreibt Paulus im Epheserbrief eine himmlische Erwartung (Eph 2,6-7). Die gibt es vor den Gefangenschaftsbriefen nirgendwo in der Bibel. In den Gefangenschaftsbriefen jedoch an mehreren Orten.
  • Im Römerbrief beschreibt Paulus die alttestamentliche Sühne (Röm 3) und die neue Idee der Versöhnung (Röm 5). Das war eine neue Idee, eine neue Beschreibung. In den Gefangenschaftsbriefen kommt die gegenseitige Versöhnung hinzu. Wenn er in Kolosser 1,20 von der Aussöhnung des Alls spricht, betrifft das diese gegenseitige Aussöhnung. Zu diesen drei Begriffen gibt es bereits ausführliche Beiträge auf dieser Website, weshalb ich hier nicht weiter darauf eingehe.
  • Im Römerbrief skizziert Paulus, wie es um Israel steht, das doch die Verheissungen Gottes erhalten hat (Römer 9–11) und wie das Evangelium der Gnade jetzt zu den Nationen kommt. Erst im Epheserbrief jedoch wird die Mittelmauer der Umzäunung (soreq, oder Abgrenzungsmauer zwischen Juden und Nationen im Tempelareal) bildlich abgebrochen (Eph 2,11-16) und die Nationen erscheinen gleichberechtigt mit Israel in der Familie Gottes (Eph 2,17-20).

Weitere Themen können ebenfalls gefunden werden. Die Idee ist nicht, dass wir entscheiden, was «wahr» und was «unwahr», was «gut» und was «schlecht» ist, sondern die Realisierung der Entwicklung kann dabei helfen, die Aussagen von Paulus besser zu verstehen. Das ist die Vorbedingung dazu, die eigene Erwartung für heute und für die Zukunft einen Rahmen zu geben. Es geht nicht darum, in immer absonderlicher Lehren sich in selbst zurückzuziehen, sondern offen zu diskutieren, wie Paulus zu solchen Ergebnissen kam und welche Folgen das hat. Auch kann es dabei helfen, keine willkürlichen Texte miteinander zu verknüpfen, die aus unterschiedlichen Zeiten seines Dienstes stammen. Mir selbst war das eine grosse Hilfe.

Ein Vermächtnis?

Ein bejahrter Paulus schreibt mehrere Briefe aus der Gefangenschaft, weil er nicht mehr Reisen kann. Wir können dies als Glücksfall bezeichnen, weil wir jetzt diese tiefen Einblicke nachlesen können, oder auch als ein Vermächtnis von Paulus. Hier finden wir seine Ideen, sein Evangelium, nach jahrzehntelanger Erprobung in Gemeinden, zur vollen Reife gekommen.