Dispensationalismus ist eine bedeutende theologische Richtung. Weshalb sehe ich mich selbst als Dispensationalist und warum nicht? Eine Auseinandersetzung.

Was ist Dispensationalismus?

Ich sehe mich selbst als Dispensationalisten, aber was heisst das? Kann man alle Dispensationalisten unter einen Hut fassen? Sind sie gefährlich? Und entspreche ich dadurch den Vorstellungen von anderen Leuten? Warum geht es? Diese Auseinandersetzung versucht, ein paar Dinge aus persönlicher Sicht zu klären.

Bereits gibt es einen ausführlichen Beitrag zum Thema Dispensationalismus. Was dort steht, muss hier nicht wiederholt werden. Ausser vielleicht dies: Dispensationalismus ist eine von mehreren Varianten der systematischen Theologie. In diesem Sinne entstand Dispensationalismus, wie auch jede andere theologische Spielart, lange nach dem Abschluss vom Neuen Testament, in einem Versuch, die biblische Botschaft transparenter zu machen.

Was ist Dispensationalismus

Als Theologie ist der Dispensationalismus ein Versuch, die Schrift zusammenhängend zu interpretieren. Dafür werden Hinweise aus der Schrift genutzt.

  • Jesus sagte etwa, Er wurde ausschliesslich zu den «verlorenen Schafen des Hauses Israels» geschickt (Mt 15,24). Er spricht im Sinne der jüdischen Erwartung und bestätigt die Verheissungen, die einst an die Väter von Israel gemacht wurden (Röm 15,8). Wer etwa versucht zu verstehen, mit welchem Auftrag Jesus in den Evangelien unterwegs ist, findet in diesen Versen konkrete Anhaltspunkte.
  • Paulus spricht in einem Rundschreiben, das später als Epheserbrief bekannt wurde, von einem Auftrag, den er speziell für die nicht jüdischen Völker erhielt (Eph 3,1-10; vgl. Röm 11,13). Das liest man bei keinem der 12 Apostel.
  • Petrus spricht in der Pfingstpredigt ausdrücklich zu Juden und Proselyten aus aller Welt (Apg 2,5; Apg 2,10) und richtet sich deshalb an «das ganze Haus Israels» (Apg 2,36). Damit dürfte klar sein, dass dies nicht der Beginn der heutigen Gemeinde, sondern bloss die Fortsetzung von der Verkündigung von Israels Erwartung war, wozu Petrus bekanntlich die Schlüssel erhalten hat (Mt 16,18-19).
  • Jakobus spricht ausdrücklich zu den 12 Stämmen in der Zerstreuung (Jak 1,1). Alles klar?

Dispensationalismus verfolgt solche Aussagen und prüft, ob diese Aussagen im Kontext und für das Verständnis hilfreich sind. Wo geht es um Israel, wo wird die heutige Gemeinde aus allen Nationen angesprochen? Aussagen für die eine Zielgruppe müssen nicht zwingend mit den Aussagen für eine andere Zielgruppe übereinstimmen. Unterschiedliche Aussagen werden deshalb nicht a priori als «widersprüchlich» gekennzeichnet, sondern man versucht, die Aussagen im jeweils eigenen Kontext zu interpretieren.

Dispensationalismus ist ein breiter Begriff. Es gibt viele unterschiedliche Strömungen. Sie gehen unterschiedlich weit in der Auslegung und sagen mitunter ganz verschiedene Dinge. Das ist nicht anders als bei anderen theologischen Strömungen. Gemeinsam haben sie die Idee, dass Gott zwar immer Derselbe ist, aber in verschiedenen Zeiten unterschiedlich handelt. Einmal handelt Er als Schöpfer, ein andermal kümmert Er sich speziell um das Volk Israel oder Er ruft heute Menschen aus allen Nationen zum Glauben auf. Der Ansatz vom Dispensationalismus ist schlicht dieser: Alles hat einen Platz, aber welchen?

Ansatz oder Lehren?

Persönlich mache ich einen Unterschied zwischen dem Ansatz des Dispensationalismus und den Lehren, die daraus hervorgingen. Der Ansatz ist die Fähigkeit zur Unterscheidung. Das ist ein Werkzeug. Die Lehren sind dann die Folgerungen, die man aufgrund der Anwendung macht. Wenn ich auch den Ansatz begrüsse, distanziere ich mich ebenso klar von einigen der Sichtweisen und Lehren, die typischerweise von Dispensationalisten hervorgehoben werden. Ich mache diesen Unterschied, weil ich den Ansatz hilfreich finde, aber manche Sichtweisen als kontraproduktiv. Den Unterschied finde ich auch in einer kritischen Auseinandersetzung hilfreich, weil einige «den Dispensationalismus» abweisen, obwohl sie eigentlich nur Lehren beschreiben, die aus dem Dispensationalismus hervorkommen. Ich meine, man muss das Kind nicht mit dem Badewasser ausschütten.

Die Verführung des Dispensationalismus

Der Ansatz vom Dispensationalismus finde ich hilfreich. Es ist aber nicht alles Gold, was glänzt. Es gibt mehrere problematische Seiten:

  • Systemverliebtheit und Schematisierung
    Eine konkrete Gefahr beim Dispensationalismus ist die Systemverliebtheit, die auftreten kann. Das theologische Gebäude sieht so schön aus – deshalb wird es wohl wahr sein. Das System wird höher gewertet als die Aussagen der Bibel selbst. Dispensationalismus eignet sich besonders gut für schematische und grafische Darstellungen. Diese können einen Zusammenhang vorgaukeln, wo dieser nicht gegeben ist. Das ist eine Verführung dieser Sicht. Sie hat zwar eher mit den Menschen zu tun, welche die Sicht dazu missbrauchen, weshalb es Glaubensweisheit in der Gemeinschaft benötigt, damit gerade dies nicht stattfindet.
  • Unterschiede als absolut betrachten
    Es gibt unterschiedliche Aussagen. Es ist der Verdienst des Dispensationalismus, diese wahrzunehmen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu denken. Das ist eine konkrete Hilfe dafür, die Bibel in zwar unterschiedlichen, aber in sich zusammenhängenden Teilen zu denken. Man folgt dabei der Aufforderung von Paulus an Timotheus, das «Wort der Wahrheit recht zu teilen» (2Tim 2,15). Diese Aufforderung kann aber auch dazu entarten, «absolute» Trennlinien zu ziehen. Dabei vergisst man, dass Übergänge meist von vielen Fragen begleitet und erst allmählich entstehen. Man denke etwa an die Fragen, die zum Apostelkonvent führten (Apg 15).

    • Das Buch Apostelgeschichte könnte man gesamthaft als «Buch des Übergangs» bezeichnen, ein Übergang von Petrus zu Paulus und von Israel zu den Nationen. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen der Botschaft der 12 Apostel einerseits und der Botschaft von Paulus andererseits. Das wurde gegenseitig anerkannt (Gal 2,6-9).
    • Ein Zeugnis von Petrus beschreibt, wie er von Paulus zwar nicht alles verstand, aber ihn klar als Bruder betrachtete (2Pet 3,15-16). Daraus kann man erkennen, dass es guten Kontakt gab. Auch wenn man Unterschiede erkennt, muss das nicht zur absoluten Trennung führen. Es gab Einheit in der Unterschiedlichkeit. Das ist jedoch etwas anderes als eine vermeintliche Gleichschaltung, wie das oft gedacht wird (frei nach dem Motto: «überall, wo Jesus draufsteht, ist heutige Gemeinde drin»).

Problematische Lehren

Einige erkennen problematische Lehren, die oft aus dem Dispensationalismus hervorgehen, oder dort stark gepflegt werden. Sie werden deshalb nicht selten in einem Atemzug genannt. Hier einige Beispiele:

  • Verbalinspiration
    Die Lehre der Verbalinspiration hat zwar direkt mit dem Dispensationalismus nichts zu tun, wird aber häufig als Begründung für die Worttreue genutzt. Denn: Dispensationalismus will auf die Bibel gegründet sein. Verbalinspiration ist die Lehre, die oft als Ausgangslage für Dispensationalismus gesehen wird. Ich persönlich denke, dass dies nicht sein muss. Die Zuverlässigkeit der Schrift ist nicht von einer Lehre der Verbalinspiration abhängig, die erst im 17. Jahrhundert formuliert wurde. Wer mehr dazu wissen will, kann auf dieser Website nach «Verbalinspiration» suchen und findet verschiedene Beiträge.
  • Endzeit
    Dispensationalismus hat sich einigen Themen zugewandt, die bis dahin in der kirchlichen Lehre kaum beachtet wurden. Dazu zählt ein Interesse für Israel als auch für die Endzeit. Man kann sagen, dass viele Formen des Dispensationalismus regelrecht «in die Endzeit verliebt» sind. Das äussert sich unter anderem wie folgt:

    • Die Lehre der Entrückung steht zentral
    • Die Zukunft ist düster (grosse Drangsal, Gottes Gerichte, Drohung einer Hölle, Apokalypse, Gog und Magog)
    • Die Welt ist böse und es wird nur noch schlimmer
    • Wir müssen uns vorbereiten auf das Gottesreich und sollten hier keine Anstrengungen für eine bessere Welt mehr machen
  • Israel
    Die Kirche hatte sich selbst jahrhundertelang als das «wahre Israel» betrachtet. Dispensationalisten sahen und sehen das als Meuterei gegenüber den Aussagen der Bibel an, denn Gott sollte mit Israel einen eigenen Weg gehen und die Gemeinde hat Israel nicht ersetzt. Als Israel in der Bibel neu entdeckt wurde, führte die Endzeit-Liebe dazu, Israel vor allem als Zeichen von Gottes Handeln in der Welt zu betrachten. Es war erneut eine Entmündigung, diesmal jedoch nicht als Ersatztheologie, sondern als Endzeitphantasie, in der Israel auf eine «Funktion» reduziert wird.

Nicht selten werden diese Lehren oder Themen mit dem Dispensationalismus verwirrt. Das ist eine Fehldiagnose, denn nicht alle Dispensationalisten sehen das so und nicht jeder, dem diese Themen am Herzen liegen, würde es so formulieren.

Bin ich ein Dispensationalist?

Ja, ich bin ein Dispensationalist, wenn ich vom Ansatz ausgehe. Sie hat mir meine Fragen am besten in einem direkten Vergleich von Auslegungen beantwortet. Das war zwar nicht vollständig, aber hervorragend fundiert. Ein guter Start. Aber nein, ich bin ebenso kein Dispensationalist, wenn ich die berechtigte Kritik an die Endzeitverliebtheit oder andere Aspekte höre. Was einige kritisch über Dispensationalismus aussagen, teile ich, obwohl ich mich als Dispensationalist betrachte.

Wenn ich mich selbst einordne, dann betrachte ich mich als Ultra-Dispensationalist. Diese Weiterentwicklung vom Dispensationalismus sieht das Neue Testament als eine Geschichte in Entwicklung. Zwei Punkte seien hier hervorgehoben:

  1. Israel
    Sie fragt etwa: Wenn das Alte Testament, die Tenach, und auch Jesus und die Apostel von einer Zukunft von Israel sprechen, wo lese ich dann davon im Neuen Testament?
  2. Heutige Gemeinde
    Ich denke, die heutige Gemeinde wird von Paulus berufen. Das sehen andere Dispensationalisten anders, die eher in der Tradition stehen, dass «überall, wo Jesus draufsteht, heutige Gemeinde drin ist». Ultradispensationalismus sieht den Apostel Paulus weder als überflüssig noch als Gründer einer neuen Religion an, sondern als «Apostel der Nationen», abgesondert für das Evangelium Gottes (Röm 1,1). Sein Auftrag unterschied sich von den 12 Aposteln. Er wurde mit einem eigenen Evangelium betraut (Röm 2,16). Dieses war in früheren Zeiten, etwa in den Evangelien, noch verborgen, wurde aber bei Paulus erstmals offenbart (Röm 16,25-27). Die heutige Gemeinde wird demnach nur von Paulus herausgerufen, der als «Sklave Christi Jesu» unterwegs ist (Röm 1,1). Ohne Jesus kein Paulus. Ohne Paulus keine heutige Gemeinde. Dieser Ansatz klärt viele Widersprüche.

Dispensationalismus ist für mich keine Überzeugung, sondern ein Werkzeug. Sie hilft mir, die Bibel ernst zu nehmen. Jede Lehre betrachte ich als eine Krücke, die mich bloss helfen sollte, laufen zu lernen. Es werden bestenfalls «Wege ins Wort» geboten, aber es ist kein Ersatz für die Bibel. Es hilft, sich der Aufgabe der Theologie bewusst zu werden. Lehren und Theologien bleiben Einsichten und Meinungen, die eine Aura menschlicher Fehlbarkeit, nicht göttlicher Unfehlbarkeit haben. Wenn ich aber durch die Lehre einen besseren Zugang zur Schrift erhalte, kann ich das als mein Gewinn verbuchen.

Es geht nie um die Lehre, sondern um das, was die Bibel einmal in ihrer Zeit und heute uns zu sagen hat.

Dispensationalismus hat mich, wie keine andere Theologie, dabei geholfen, die Schrift für sich selbst reden zu lassen. Dafür bin ich dankbar. Das ist möglich, wenn man nicht von der Lehre, sondern von der Hilfe ausgeht, die geboten wird. Es ist eine Hilfe, den Text im eigenen Kontext zu deuten, dabei den Grundtext zu berücksichtigen und alles gutzuheissen, was darin weiter führt. Dispensationalismus als Hilfe verstanden, hat mir Türen geöffnet. Es wäre jedoch engstirnig zu denken, dass es keine andere Türen geben könnte. Ein besseres Verständnis ist häufig ein Prozess der Differenzierung, worin man den Text immer wieder von neuen Blickwinkeln betrachten lernt. Deshalb können auch andere Einblicke weiterhelfen, denn es geht nie um die Lehre, sondern um das, was die Bibel einmal in ihrer Zeit und heute uns zu sagen hat.

Ich wünsche mir, dass wir in Gemeinschaft mit vielen anderen Menschen, im Verständnis mutig vorwärts stolpern.