Was die Aufgabe der Kirche ist, lässt sich nicht in einigen wenigen Beiträgen erfassen. Im Alleingang lässt sich das nicht verstehen. Es ist gerade in der Gemeinschaft, worin wir «die Breite und Länge und Tiefe und Höhe, (…) auch die alle Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus» (Eph 3,17-19) erfassen können.

Stelle Dir vor, Du warst zeitlebens in einer Kirche oder Freikirche daheim, hast Dich aber, zumindest innerlich, auf den Weg zu einem neuen Verständnis gemacht und fragst Dich, wie sich jetzt eine Gemeinschaft bilden lässt. Das neue Verständnis passt vielleicht nicht mehr zur Gemeinschaft, worin man steht. Da sich viele Menschen in dieser Art auf den Weg machen zu einem neuen Christsein, stellt sich die Frage:

Ist es Zeit für eine neue Art der Gemeinschaft? Oder: Welche sind die Merkmale einer Gemeinschaft, zu der ich gerne dazu gehören würde?

Exklusiv oder inklusiv?

Was wäre hier die Aufgabe der Kirche? Liegt sie nicht darin, Fragen zuzulassen, eine Lernkultur zu fördern, eine Umgebung zu schaffen, worin ehrliche Fragen offen diskutiert werden können? Damit meine ich nicht, dass man in falsch verstandener Toleranz einer Sonderlehre Vorrang geben sollte. Eher geht es darum, die wesentlichen Fragen der Kirche, der Menschen, zu honorieren und dem Gespräch darüber einen geeigneten Raum zu schenken. Mit anderen Worten: Das Gemeindeverständnis soll nicht exklusiv sein, sondern inklusiv werden.

  • In einem exklusiven Verständnis ginge es um «nur Richtig, nichts Falsches». Es ist ein Schwarzweissdenken, worin Gleichförmigkeit gefordert wird.
  • In einem inklusiven Verständnis sind die Menschen mit ihren Fragen willkommen. Es geht um ein wachsendes Verständnis, um eine Förderung der Gemeinschaft, des Austausches, des Lernens. Wer fragend ist, bleibt dauerhaft willkommen.

Identität

Stelle ich mir eine Gemeinschaft der Zukunft vor, eine Kirche 2.0 sozusagen, dann geht es um Fragen der Identität, mit einem klaren Ziel vor Augen. Im Sinne von dem, was Paulus beschrieb:

«Wenn wir aber wahr sind, sollten wir in Liebe alles zum Wachsen bringen, hinein in Ihn, der das Haupt ist, Christus.»
Eph 4,15

Dieser Satz gilt auch heute bei vielen Gemeinden als leitender Gedanke. Stellen wir uns vor, was es dafür benötigt, dann denke ich, gibt es zwei Blickwinkel dazu:

  1. Die persönliche Identität
    Die Gemeinde ist ein Ort, worin alle zum Wohle aller zusammenkommen.
  2. Die Identität der Gemeinschaft
    Von Christus her getragen werden Menschen zu Christus hin begleitet.

Hier ist die Herausforderung:

In so manchen Gemeinden, worin ich war, suchte man nur eine gemeinsame Identität, die für alle in der Gemeinschaft als verbindlich galt. Das ging zulasten der persönlichen Identität und Integrität. Es ist nicht einladend (inklusiv), sondern ausladend (exklusiv). Das äussert sich in Bemerkungen wie:

«Du willst an einem Ehekurs teilnehmen, obwohl Du Single bist? Das darfst Du nicht.» Das ist nicht unterstützend, sondern bevormundend, lieblos und überheblich gegenüber erwachsenen Menschen. Man lebt nicht als Gemeinschaft, die gemeinsam unterwegs ist, sondern findet in der Abgrenzung Sicherheit und in der Bevormundung die Begründung vermeintlicher Autorität.

Eine andere Aussage, die mir geblieben ist:

«Er ist ein begnadeter Musiker, aber er darf nicht auf der Bühne Musik machen, weil er unverheiratet mit einer Frau zusammen ist». Beide waren über 50, kamen aus früheren Ehen, aber passten offenbar nicht in das Schema rein. Dann wird ausgeschlossen. Egal, dass die Gemeinschaft der beiden nur die Ruhe der Entwicklung benötigte und sogar später in einer Eheschliessung mündete (womit sie wieder konform der Erwartung waren). Der Schaden war angerichtet. Scheinheiligkeit und äussere Form war für die Gemeindeleitung offenbar wichtiger als echte gelebte Heiligkeit.

Ein letztes Beispiel:

Jemand anders erzählte mir, wie ein begnadeter Autor der Gemeinde sein Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Danach durfte in dieser Kirchgemeinde niemand seine Bücher mehr lesen. Dieser Mann hatte nicht nur sein Leben aus Not ausradiert, sondern wurde von der Gemeinschaft, von der er zeitlebens einen Teil ausmachte, ebenfalls ausradiert. Erschütternd.

Bei solchen Geschichten denke ich dann, wie es wohl Jesus, die Apostel und die ersten Gemeinden getan hätten? Ich kann mir ausserdem nicht dem Eindruck entziehen, dass diese Art von «Gemeindekultur» oft nur angstgesteuert ist. Angst vor der Entgleisung, vor Fehltritten, vor «unbiblischem» Verhalten. Im Hintergrund steht dann wohl ein rachsüchtiger Gott und eine Drohbotschaft.

Teilnahme

In einer inklusiven Gemeinschaft werden Leute eingeladen, nicht weil man heimliche Bekehrungsabsichten hat, sondern weil man die eigene Gemeinschaft, den eigenen Reichtum, auch gerne mit anderen teilt (2Kor 5,14-21).

Ich war viele Jahre Mitglied in einer englischsprachigen reformierten Kirchgemeinde in St. Gallen, Schweiz. Da hat sich Folgendes zugetragen:

Eines Morgens, kurz vor Beginn des Gottesdienstes, stolperte ein betrunkener Mann in die Kirche rein. Er hatte wohl die Nacht durch getrunken. Es nahm ihn jemand auf und sass neben ihm in einer der letzten Reihen. Nach einer Weile rief er laut durch die Kirche, ob das nicht auf Deutsch ginge, dann verstehe er mehr. Man hat ihm versucht klarzumachen, dass dieser Gottesdienst auf Englisch sei.

Etwas später stand er während der Predigt auf, lief im Mittelgang nach vorn und wurde da vom Pastor aufgefangen, der kurz mit ihm redete. Er setzte sich wieder.

Anschliessend traf sich die kleine Gemeinde vorn in der Kirche und stand im Kreis für Brot und Wein (Abendmahl/Eucharistie). Pastor und Gemeindemitglieder dienten einander. Es war ein gemeinschaftliches Erlebnis. Dieser betrunkene Mann war selbstredend auch dabei, stand im Kreis und erhielt selbstredend Brot und Wein. Er war Teil der gemeinsamen Erfahrung und wurde freundlich aufgenommen.

Weder die Identität der Gemeinschaft, noch die Identität der Anwesenden war in Gefahr. Jeder war in Ordnung und willkommen, den Gottesdienst gemeinsam zu feiern. Waren wir nicht alle vollkommen unvollkommen und bedürften alle Gottes Gnade? In einem exklusiven Verständnis wäre der Auftritt dieses Mannes als störend empfunden. Störend im Spiel, das man «Kirche» nennt. Hier aber war ein inklusives Verständnis der Gemeinschaft. Es war kein Spiel, sondern gemeinsame Realität, worin jeder das Bewusstsein um der einladenden Kraft von Gottes Gnade hat. Ich habe im Verlauf der Zeit mehrere solcher wegweisende Erlebnisse gehabt.

Was ist der springende Punkt? Gemeinschaft ist nicht nur in der Lehre, sondern in der praktischen Gemeinschaft zu suchen. Glaube wird durch Liebe erst wirksam. Wir können mit Menschen unterwegs sein, auch wenn sie an einem anderen Ort als wir selbst stehen. Selbstverständlich wurde der Gottesdienst gefeiert und davon musste man sich nicht abbringen lassen. Diese Identität ging nicht verloren. Ebenso war es selbstredend, dass dieser Mann willkommen war. Weder seine Identität und Integrität, noch die der übrigen Anwesenden wurde verletzt. Es war sowohl eine menschliche Begegnung als darin auch Abschattung einer göttlichen Begegnung, von Gnade geprägt.

Glaube ist nicht nur im Kopf und persönlich, sondern wird in der Gemeinschaft erst gelebt und gelernt. Eine zukünftige Kirche dürfte diese Haltung bewusst anstreben. Gemeinschaft ist prägend und notwendig für einen gesunden Glauben.

Ewigkeit im Herzen

Jetzt können wir den Kreis noch etwas grösser ziehen. Wenn es nicht nur um die richtige Erkenntnis geht, nicht nur darum, dass alle so denken wie ich selbst, wie kann man dann in dieser Welt stehen?

Wir könnten von dieser Aussage aus dem Buch Prediger ausgehen:

«Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit; auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt, ohne dass der Mensch das Werk, welches Gott gewirkt hat, von Anfang bis zu Ende zu erfassen vermag.»
Pred 3,11

Hier spricht der Prediger nicht über Gläubige, schon gar nicht über eine neutestamentliche Gemeinde paulinischen Vorbildes. Hier spricht Salomo, der Sohn von David (Pred 1,1) über etwas, das Gott dem Menschen gegeben hat. Das betrifft nicht wenige Gläubige, sondern einfach alle Menschen. Es ist eine Einschätzung, die umfassender nicht sein kann.

Gott hat die Ewigkeit (heb. olam) in des Menschen Herzen gelegt, ohne dass der Mensch das Werk, das Gott gewirkt hat, von Anfang bis zu Ende zu erfassen vermag. Mit anderen Worten: Der Mensch hat etwas erhalten, ohne dadurch alles automatisch zu verstehen. Er hat vielleicht eine Ahnung, aber kein Wissen, schon gar kein Verständnis.

Diese Ahnung ist gottgegeben. Wir dürfen das nicht gering schätzen, sondern können es als tief menschlich und gleichzeitig tief göttlich erkennen. Jeder Mensch, egal welcher Herkunft oder welches Glaubens, und ganz unabhängig vermeintlicher Weisheit oder besonderer Erkenntnisse, hat eine Ahnung des Zukünftigen erhalten. Es ist sozusagen, in einer Bildsprache, Teil der menschlichen DNA. Das Hebräische olam wird hier mit «Ewigkeit» übersetzt. Im heutigen Hebräisch steht es schlicht für «Welt». Im Kontext der Schrift ist es oft auch der Hinweis auf die kommende Welt, das kommende Zeitalter, auf eine Zeit, worin die Not dieser Welt abgelöst wird von etwas Besserem. Das ist die Vorahnung, wie auch Paulus darüber schreibt:

«Denn die Vorahnung der Schöpfung wartet auf die Enthüllung der Söhne Gottes.»
Röm 8,19

Die Vorahnung wartet und erwartet. Sie sehnt sich sozusagen der Zukunft entgegen, in der Hoffnung, es werde besser. Man ahnt etwas, ohne es genau zu wissen. Das verbindet alle Menschen. Von dort aus kann man das Gespräch ohne Überheblichkeit konkret weiterführen.

«Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis nun mit uns ächzt und Wehen leidet. Aber nicht nur sie allein, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst ächzen in uns, den Sohnesstand erwartend, die Freilösung unseres Körpers. Denn auf diese Erwartung hin wurden wir gerettet.»
Röm 8,22-24 KNT

Könnte diese gemeinsame Vorahnung, nicht wissend oder wissend, eine Grundlage für Gastfreundschaft, für Gespräch und Einladung sein? Kann eine christliche Gemeinschaft, stehend in der eigenen Identität, eine inklusive Gemeinschaft sein und Menschen ehrlich und offen begegnen? Können wir Menschen mit einer Vorahnung und einem eigenen Verständnis Teil unserer Gemeinschaft, unserer Treffen und Gottesdienste sein lassen? Oder müssen sie sich zuerst bekehren und unserer Idee entsprechen, damit sie richtig aufgenommen werden können? Wo würdest Du, lieber Leser, einen Unterschied machen und weshalb?

Wo liegen die Grenzen, woran man die Identität der Gemeinschaft abmessen kann? Diese Fragen nach der Art der Gemeinschaft sind noch keine Antwort. Hier ist jede Gemeinschaft für sich gefordert, sich weitere Gedanken zu machen. Wo liegt die Aufgabe der Kirche in dieser Welt? Warum wäre das so?

Vertiefung

  • Diskutiere: Begegne ich zuerst als Mensch oder zuerst als Gläubiger? Was hat das für Konsequenzen?
  • Diskutiere: Weshalb will ich Gemeinschaft mit Gläubigen erfahren?
  • Diskutiere: Was ist, wenn Menschen anders denken als ich selbst?
  • Diskutiere: Was ist die Aufgabe der Gemeinde für Dich, für die Gläubigen, für die Welt?