Die Kirche hat eine oder mehrere Aufgaben, aber welche? Wie man die Kirche sieht, ist abhängig vom Verständnis des Betrachters. Diese Idee wurde im ersten Beitrag dieser Serie ausgearbeitet. In diesem Beitrag werden zusätzliche Betrachtungswinkel für eine eigene Evaluation angegeben.

Diesseits und Jenseits

Einige sehen die Aufgabe der Kirche ausschliesslich in dieser Welt. Diese Kirche ist dann diesseits-orientiert. Andere sehen die Aufgabe der Kirche ganz in der Rettung vor einer ewigen Hölle und pflegen den Ausblick auf «ein Leben im Himmel». Dieses Verständnis ist jenseits-orientiert. Zwischen beiden Extremen gibt es selbstverständlich viele Schattierungen. Mit Sicherheit ist es bedeutsam, wie wir heute leben, und ebenso hilft es, einen Ausblick zu haben.

Fragen wir nach der Aufgabe der Kirche, dann kann man die Interpretation als Schieberegler sehen. Dieser Schieberegler kann man frei zwischen den zwei Polen «Diesseits» und «Jenseits» bewegen. Einige werden vermutlich nur Jenseitiges sehen, während andere mit der Einstellung diesseitige Aspekte betonen. Das wäre dann die persönliche Interpretation, das persönliche Verständnis oder der persönliche Wunsch.

Wo sollte eine für Dich ideale Gemeinschaft den Fokus legen, und weshalb?

Ein Bauprojekt

Stellen wir uns vor, die Gemeinde ist ein Bauprojekt, etwa ein Haus. Seit der ersten Siedlung, seit der ersten Gemeinde, sind zweitausend Jahre vergangen. Die Baumethoden haben sich geändert, der Reichtum hat zugenommen und einfache Häuser der damaligen Zeit entsprechen nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit. Abgesehen davon wurden Häuser der biblischen Zeit in einem anderen Klima aufgerichtet als die heutigen Häuser etwa in Westeuropa. Es gibt viele Unterschiede. Wie wollen wir nun bauen?

Diese Unterschiede sind weder gut noch schlecht und sollten auch nicht bewertet werden. Es geht nicht darum, dass wir in unseren Breitengraden um jeden Preis ein Haus bauen wollen, was einst für den Mittleren Osten perfekt geeignet war. Wir müssen unser eigenes Haus bauen. Tun wir das, zeigen wir gesunde Vernunft.

Man kann natürlich dafür wählen, ein Haus im Stil einer vergangenen Epoche aufzubauen. So kommt man etwa zu einem neu-gotischen oder neu-klassizistischen Stil. Im christlichen Umfeld will man häufig gerne zurück zur Bibel, zurück zum Anfang. Andere bevorzugen eine traditionelle Form, die vielleicht vor 100 Jahren gültig war. Aber geht das?

Oder man sehnt sich nach einer theokratischen Zukunft, nach Gericht und Auflösung der aktuellen Weltordnung, wähnt sich in der Endzeit und will das Himmlische Jerusalem realisieren. Dies scheint mir fast identisch mit dem Wunsch einiger radikal-islamistischen Gruppen nach der Aufrichtung eines Kalifats. Vom Inhalt her scheint das unterschiedlich zu sein, aber geht es vielleicht um ähnliche menschliche Mechanismen? Etwa der Wunsch nach Vereinfachung der Komplexität unserer Welt? Warum fühlen sich viele Menschen zu solchen Ideen hingezogen?

Zurück zur Idee eines Bauprojektes. Damit ein Haus entsteht, benötigt es den Theoretiker und den Praktiker. Es benötigt einen Architekten, aber ebenso begnadete Handwerker und einen Bauherren, damit alles in guter Qualität entstehen kann. Nachdenken über die Kirche von morgen, oder der Versuch, sich eine lebendige Gemeinschaft in 5, 10 oder 20 Jahren vorzustellen, sind visionäre Schritte. Dazu benötigt es visionäre Denker und in der Umsetzung viele kleine praktischen Schritte.

Als erste Stufe kann man sich darüber Gedanken machen, welche generelle Aufgaben eine Gemeinde wahrnehmen sollte oder zu welcher Aufgabe sie berufen ist. Welche Hinweise gibt es aus der Bibel selbst?

Die Herausgerufene

Im ersten Beitrag wurde auf das Wort für «Gemeinde» verwiesen, das in der Bibel genutzt wird. Von der Etymologie her bedeutet das Griechische Ekklesia so viel wie «Herausgerufene». Dahinter liegt die Idee, wie im letzten Beitrag erwähnt, dass Gott Menschen zu dieser Gemeinschaft beruft. Es ist keine eigene Leistung, sondern ein Geschenk, das einige erhalten, andere dagegen nicht. Es hat nichts mit der Lehre, die man anhängt oder mit der Gemeinschaft, wovon mein Teil ausmacht, zu tun. Nicht alle sind gerufen, sondern die Gemeinde ist per definitionem eine «Herausgerufene», eine Teilmenge aller Menschen.

Die Verführung liegt nun darin, dass diese Idee, welche direkt aus der Bibel abgeleitet wird, als «Exklusivität» betrachtet wird. Dabei ist das keineswegs die Aufgabe des Begriffes. Wer zur heutigen Gemeinde gehört, ist nicht besser als andere Menschen, aber er wurde berufen. Es gibt einen Unterschied, und es gibt auch Vorrechte (vergleiche etwa Eph 1,3). So wie Paulus beschreibt, dass Gott ein Retter aller Menschen ist, jedoch insbesondere der Gläubigen (1Tim 4,9-11).

Eine Vorstellung aus dem ersten Beitrag dieser Serie sah die Gemeinde als herausgerufene Gruppe mit einer eigenen Aufgabe. Die Gemeinde ist nicht die erste herausgerufene Gruppe. Auch Israel war bereits einmal herausgerufen aus den Völkern und erhielt dazu einen Auftrag.

Dazu kommt die folgende Beobachtung: Wann immer in der Schrift «herausgerufen», nämlich «auserwählt» wurde, geschah das nicht als Endziel, sondern es war die Berufung zu einer Aufgabe. Wer berufen wird, sollte zum Werkzeug und Segenskanal werden. Wenn jetzt die Gemeinde auch eine «Herausgerufene» ist, lässt sich nach der eigentlichen Aufgabe der Gemeinde fragen. Ist die Gemeinde etwa auch ein Werkzeug und Segenskanal? Dann geht es nicht um die Frage, wie ich selbst in dieser Welt stehe, sondern darum, welche Aufgabe die Gemeinde gesamthaft hat. Es geht um die Frage, wozu wir als Gemeinde berufen sind.

Es gibt verschiedene Beispiele einer Berufung für eine Aufgabe:

  1. Abram
  2. Israel
  3. Gemeinde heute.

Bereits wurde auf dieser Website einen Beitrag zum Thema «Auserwählung» erstellt. Darin wird gezeigt, dass Abram herausgerufen wurde, sich auf den Weg zu machen. Er erhielt mehrere Verheissungen. Eine Verheissung betraf das verheissene Land. Er sollte sich aufmachen und in das Land gehen, dass ihn Gott zeigen würde (1Mo 12,1). Eine weitere Verheissung betraf jedoch die gesamte Menschheit. Abram wurde gesagt, dass durch ihn alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollten (1Mo 12,3). Was Abram selbst tat, war Teil einer grösseren Geschichte.

Der Zweck der Auserwählung

Aufgaben der Gemeinde

Paulus schreibt:

«Denn in der Gnade seid ihr Gerettete, durch Glauben, und dies ist nicht aus euch, sondern Gottes Nahegabe, nicht aus Werken, damit sich niemand rühme. Denn wir sind Sein Tatwerk, erschaffen in Christus Jesus für gute Werke, die Gott vorherbereitet, damit wir in ihnen wandeln.»
Eph 2,8-10

Die Gemeinde ist Gottes Werk. Gleich erwähnt Paulus auch, dass diese Berufung zu einem Zweck geschah: «erschaffen in Christus Jesu für gute Werke, die Gott vorherbereitet, damit wir in ihnen wandeln». Das ist eine klare, diesseitige Ausrichtung. Im Hier und Jetzt bereitet Gott selbst gute Werke vor, damit wir diese tun. Das ist sehr befreiend. Mein Bestreben ist Aufmerksamkeit, mein Gebet ist um Einsicht und ein hörendes Herz (1Kön 3,9), damit ich bloss erkennen kann, was bereits vorbereitet ist. Dadurch glaube ich stressfrei.

Obwohl ich das als persönlichen Zuspruch annehmen kann, beschreibt es Paulus in einem Rundschreiben (Epheserbrief) an verschiedene Gemeinden. Es ist also kein Merkmal persönlichen Glaubens allein, sondern sollte auch Teil der Gemeinschaft sein. Hier können wir also für unser Gemeindeverständnis fragen: Wie können wir Gutes tun und finden wir gute Werke, die Gott für uns vorbereitet hat?

Ist eine diesseitige Orientierung die einzige Aufgabe?

Nein. Die Gemeinde hat nach Paulus eine viel grössere Aufgabe. Er beschreibt das ebenfalls im Epheserbrief:

«Alles ordnet Er [Gott] [Ihm, Christus] unter, Ihm zu Füssen; und Ihn gibt Er als Haupt über alles der herausgerufenen Gemeinde, die Seine Körperschaft ist, die Vervollständigung dessen, der das All in allem vervollständigt.»
Eph 1,22-23

Die Gemeinde ist hier die Vervollständigung von Christus, der alles in allem vervollständigt. Das ist ein fernes Ziel. Damit ist die Gemeinde, der Körper Christi, eingebunden in die Erfüllung der Ziele Gottes. Paulus schrieb im 1. Korintherbrief, dass es Gottes Ziel ist, einmal alles in allen zu werden. Christus wird das erreichen, schreibt Paulus. Die Gemeinde aber wird als Vervollständigung von Christus gesehen. Die Gemeinde ist «die Vervollständigung dessen, der das All in allem vervollständigt». Der Körper Christ, die Gemeinde, hat also nicht nur eine Aufgabe im Hier und Jetzt, sondern ebenfalls eine zukünftige Aufgabe.

Was ist die zukünftige Aufgabe und wie ist diese Zukunft mit unserer heutigen Erfahrung verknüpft?

Die Erfahrung der Gnade

Der Apostel Paulus beschreibt sein Verständnis dieser Welt und wie sie Gottes Welt berührt. Gnade prägt Gottes Wirken an der Gemeinde (Eph 2,8; Eph 3,2). Gnade ist speziell prägend für unsere Zeit. Halten wir das fest. Ebenfalls im Epheserbrief beschreibt Paulus, dass wir eine zukünftige Aufgabe haben:

«Gott … Er macht uns [Juden und Nationen-Gläubige in der Gemeinde] zusammen lebendig in Christus (in der Gnade seid ihr Gerettete), und Er erweckt uns zusammen und setzt uns zusammen nieder inmitten der Überhimmlischen in Christus Jesus, um in den kommenden Äonen den alles übersteigenden Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen uns in Christus Jesus zur Schau zu stellen.»
Eph 2,4-7

Gottes Reichtum der Gnade, die er uns in Christus Jesus erweist, wird Er in den kommenden Zeitaltern zur Schau stellen. Das ist eine zukünftige Aufgabe für die Gemeinde: Gnade zur Schau stellen. Wo? Inmitten der Überhimmlischen.

Dass es im Himmel nötig wäre, Gnade zur Schau zu stellen, erscheint sonderbar. Für viele ist der Himmel der Ort der Perfektion schlechthin. In der Bibel ist es das jedoch nicht. Denken wir etwa an das Buch Hiob, worin beschrieben wird, wie Satan inmitten der Söhne Gottes im Himmel erscheint (Hiob 1,6; Hiob 2,1). Bei Petrus lesen wir, dass sogar Engel neugierig sind nach dem Evangelium (1Pet 1,12). Die vermeintlich perfekten himmlischen Wesen kennen die Gnade nicht. Deswegen gibt es dort noch eine Aufgabe zu erledigen, bevor Gott tatsächlich alles in allen (1Kor 15,28) sein kann.

Fassen wir dies zusammen, dann gibt es diese zwei Aufgaben für die Gemeinde:

  1. Hier und jetzt
    In dieser Äon: Gute Werke tun, die Gott bereits vorbereitet hat
  2. Zukunft
    In den künftigen Äonen: Gnade zur Schau stellen inmitten der Überhimmlischen Wesen.

Erfüllen wir unsere Aufgaben heute, dann lernen wir dadurch Gnade erkennen. Wir machen die Erfahrung der Gnade. Diese Erfahrung wird auch in Zukunft nützlich sein. Gott wird nach den Worten von Paulus die Gemeinde als Beispiel für die Wirkung von Gnade nutzen. Wir werden Gnade zur Schau stellen.

Formulieren wir das noch einmal anders, dann geht Paulus pragmatisch vor:

Heute gibt es viel Gutes zu tun, und möge uns Gott dafür die Augen öffnen, welche Aufgaben Er schon vorbereitet hat, damit wir sie umsetzen. So können wir positiv in dieser Welt stehen. Die Erfahrung in dieser Welt, wie gut oder mühsam auch, lernt uns darüber hinaus Gnade zu erkennen. Es ist die Erfahrung der Gnade, die unser Leben jetzt bereichert, aber uns auch vorbereitet auf eine noch weite Zukunft. Dann werden wir diese erfahrene Gnade zur Schau stellen und als Ergänzung von Christus am endgültigen Ziel Gottes mitwirken. Das ist sinnvoll und sinngebend.

Vertiefung

  • Beschreibe in eigenen Worten, was Dir in diesem Beitrag neu war.
  • Wie würdest Du nach dem Lesen dieses Beitrages den Schieberegler neu setzen?
  • Was willst Du als Nächstes denken?
  • Was willst Du als Nächstes tun?
  • Diskutiere Epheser 4,15-16 im Licht heutiger und zukünftiger Aufgaben der Gemeinde.