Wird der Fackel des Glaubens und damit einfach nur das «Licht» an die nächste Generation weitergereicht, oder sollen die Läufer auch dieselben Regeln befolgen? Manchmal schwebt die Hoffnung oder Erwartung in der Luft, dass die nächste Generation so glaubt «wie wir». Das geht leider nicht. Jede Generation muss die eigenen Fragen stellen, um zu gültigen Antworte für das eigene Leben zu kommen. Das ändert nicht die Botschaft, aber die Verpackung um das Geschenk.

Änderung und Wachstum

Nicht immer ist der Prozess des «Erwachsen-Werdens» ein einfacher Weg. Erwachsen zu werden, ist auch in der Bibel immer wieder ein Thema. Es gehört zu unserem Menschsein und deshalb selbstredend auch zu unserem Glauben. Wer erwachsen wird, übernimmt Verantwortung für das eigene Erleben, Denken und Handeln und lernt dabei auch auf das Wohl Anderer einzugehen.

Paulus schreibt beispielsweise:

«Wenn wir aber wahr sind, sollten wir in Liebe alles zum Wachsen bringen, hinein in Ihn, der das Haupt ist, Christus.»
Eph 4,15

Das ist auch das Wachstum der Gemeinde, der Gemeinschaft. Erwachsen zu werden ist ein Prozess, der nicht nur im Menschen, sondern auch zwischen Menschen sich abspielt. Denn zwischen uns gibt es Ermutigung, Gnade, Berichtigung, fast identisch wie Paulus hier beschreibt, dass es «in Liebe» stattfindet. Wir lernen aneinander. Auch wer meint «es allein zu können», wird vermutlich einmal von dieser Ansicht «bekehrt» werden. Die aktive und liebende Absicht, Menschen zu Christus hin «wachsen» zu lassen, definiert die erwachsene Haltung selbst.

Man könnte einwenden, ob das immer so einfach ist? Wohl kaum. Es bleiben Kontraste zwischen den Generationen bestehen. Mitnichten werden die Werte der vorhergehenden Generation so auch von nachfolgenden Generationen empfunden. Das hat nichts mit den Werten an sich zu tun, sondern mit Änderungen, die stattfinden. Einerseits gibt es Änderungen in uns selbst – beispielsweise, indem wir alle älter werden. Solche Änderungen prägen unsere Sicht auf die Welt und auf das aktuelle Erleben immer wieder neu. Andererseits gibt es Änderungen in unserer Gesellschaft. Die Herausforderungen im Leben ändern sich. Vorbei sind die Zeiten, da die Welt jahrhundertelang «ähnlich» funktionierte.

Dinge ändern sich. Das ist gut so. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?

Ein geistliches Vermächtnis

Mein Grossvater hat mir einen Brief hinterlassen. Geschrieben hatte er diesen Brief, bevor er starb. Ich war noch ein Kind und habe den Brief erst viel später erhalten. Es war so etwas wie ein Vermächtnis. Er stand am Ende seines Lebens, ich erst am Anfang. Er hatte einen lebendigen Glauben, erprobt in einem langen (und doch viel zu kurzen) Leben. Was ihm wichtig war, schrieb er mir – im Hinblick auf mein Leben und, wie es gelingen konnte, und im Hinblick auf meine Schwester, für die ich mich einsetzen sollte.

Für mich wurde diese Glaubensgewissheit erst viel später spürbar. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich mir meine ganz persönlichen Fragen stellte. Ich war bereits erwachsen, als ich zu einem lebendigen Glauben fand. Heute, denke ich, hätten wir viele gute Gespräche gehabt – mein Grossvater und ich. Doch kam es so nie dazu. Er war in einer Generation daheim und ich war zwei Generationen weiter.

Was er erlebt hat, ist mir fremd und meine Fragen waren seine Fragen nicht. Seine Welt und meine Welt sind deutlich unterschiedlich. Trotzdem kann ich festhalten: Er lebte sein Leben bewusst und voller Neugierde. Er war aufgeschlossen, engagierte sich und setzte seine Träume um, so gut es ging. Ganz eindeutig war sein Fokus auf Christus. Davon sprach sein Brief. Er ging dabei nicht dogmatisch vor, sondern erzählte weise aus seinem eigenen Erfahren. Er legt mir nahe, was ihm wichtig war.

Kirchen hatten damals noch eine Bedeutung.  Darin hat sich unsere Welt geändert. Heute ist die Relevanz fast bis zur Irrelevanz geschrumpft. Selbstverständlich war er jedoch Mitglied einer Kirche. Lebendige Debatten nach dem Gottesdienst kenne ich auch von meinen anderen Grosseltern. Es gab Diskussionen über Gesellschaft, Kultur, Politik und das Glaubensverständnis. Die christliche Kultur prägte lebendig die gesamte Gesellschaft.

Wir dagegen leben in einem post-christlichen Zeitalter, worin die Selbstverständlichkeit vieler Dinge nicht mehr gegeben ist. Heute spielen andere Themen. Die Welt wurde komplexer, vielschichtiger, farbiger. Das ist weder gut noch schlecht. Es ist nur «anders». Wer heute Christ ist, steht vor anderen Herausforderungen als noch vor 100 Jahren.

Relevanz von Kirche und Glauben

Die Gesellschaft hat sich geändert und dadurch die Art, wie sich Gemeinschaft bildet. Glaube ist heute dem Kern nach nicht anders als vor 100, 2000 oder 4000 Jahren. Die Welt, worin wir stehen, ist jedoch eine andere. «Was» wir glauben und «wie» wir glauben hat sich gewandelt. Unser Leben wird von anderen Dingen geprägt, als für unsere Vorfahren galten. Nicht nur ist die Selbstverständlichkeit mancher Ansichten nicht mehr da, sondern unglaubliche Probleme wie der Klimawandel müssen ins Bewusstsein rücken. Das prägt die Art des Zusammenlebens und deshalb auch die Art der Gemeinschaft – in Konsequenz ebenso die Gesellschaft, wie die Familie, wie die Glaubensgemeinschaft.

Wir stehen mitten in diesem Wandel. Was ist heute noch relevant?

Ein Ausdruck wie «Relevanz der Kirche» oder «Relevanz des Glaubens» ist kein Wert an sich. Wer sich über einen Relevanzverlust von Glauben in der Gesellschaft oder von einem Relevanzverlust der Kirche beklagt, hat das Wesen von Kirche/Gemeinde oder die Bedeutung von Glaube bisher nicht erfasst. Das Wort «Relevanz» leitet sich nie aus der Geschichte, sondern nur aus der Gegenwart ab. Wenn diese Relevanz schwindet, dann nur dadurch, weil sie den Anschluss an die Gegenwart verpasst hat. Hätte sie diesen Anschluss nicht verpasst, dann wären die Kirchen heute voll. Das sind sie aber nicht. Nicht die Relevanz ist das Problem, sondern der verpasste Anschluss. Weder Relevanz noch verpasster Anschluss sind jedoch wichtig, sondern nur das, warum es wirklich geht – der Kern. Diesen muss man lernen herauszuschälen.

Genauso wie die traditionellen Kirchen tun sich auch die Freikirchen schwer. Hier ist das Problem ein anderes. Der Leerlauf ist nicht so spürbar, dafür erscheinen manche Gemeinschaften eher wie Durchlauferhitzer – viele kommen, viele gehen. Man kann hier zwei Dinge ableiten: Ganz positiv kann man aus dem Zulauf ableiten, dass die Menschen heute nicht weniger religiös sind. Glaube ist ein Thema. Negativ fällt jedoch der Abfluss von Menschen auf, oft durch rigide und dogmatische Glaubensvorstellungen verursacht. Auch hier braucht es eine Auseinandersetzung.

Wenn jede Generation die eigene Auseinandersetzung mit dem Glauben braucht, wäre es nach vorherigen Bemerkungen vermessen zu sagen, dass diese Auseinandersetzung vermutlich nicht mehr in der Kirche stattfindet? Kirche ist eine Randerscheinung geworden. Menschen sind jedoch nicht weniger religiös. Lebensfragen hat jeder. Ich gehe aufgrund eigener Wahrnehmung davon aus, dass die Auseinandersetzung sehr wohl stattfindet, aber sie tut es nicht mehr am gleichen Ort. Deswegen gibt es immer mehr Pfarrer, Prediger und andere, die ausserhalb der institutionellen Strukturen Aufgaben finden, nicht mehr im Elfenbeinturm, sondern oft in direktem Dialog mit den Menschen.

Wie kann so etwas aussehen?

  • Interessant in diesem Zusammenhang ist folgender Podcast (Englisch), mit Pfarrer Scotty Williams und Samantha Wanjiru. Hier wird diskutiert, wie Millennials Kirche wahrnehmen: «OK Boomer!» (Englisch)
  • «Public Theology» ist ein Bestreben nach mehr Integration mit der Gesellschaft.
  • «Emerging Church» ist eine – auch viel kritisierte – Bewegung, die christliche Gemeinschaft ausserhalb bestehender Strukturen versucht, neu zu begreifen und zu definieren.

Alle diese Ansätze gehören zu unserer Zeit. Es finden Diskurse statt. Gemeinsam an allen diesen Ansätzen und Rückmeldungen ist: Kirche kann nur dort stattfinden, wo die Menschen sind.

Kirche 1.0 und 2.0

Die typische traditionelle Kirche lebt von Strukturen, sie ist Pastor-zentrisch und unterscheidet zwischen «Professionellen» und «Laien». Das trifft gleichermassen für traditionelle Kirchen wie für Freikirchen zu. Ich nenne das mal «Kirche 1.0». Diese Form hat weitgehend ausgedient, denn wäre sie heute noch relevant, wären die Kirchen voll.

Die «Kirche 2.0», wenn man das mal so nennen will, wird sich anders formieren. Nicht mehr die Institution, nicht mehr der Gottesdienst, nicht mehr die typischen Hierarchien und Abhängigkeiten werden zentral stehen, sondern die Menschen werden im Zentrum sein. Es geht mehr um Gemeinschaft als um Institution. Es geht auch um mehr als nur «die rechte Lehre» zu vertreten. Damit ist keine Abkehr der Bibel gemeint, sondern die Hinwendung zu und Anerkennung von prozesshafter Entwicklung. Die Betonung liegt auf «Hinwendung zu Christus» und «gelebte Gemeinschaft». Der Gottesdienstbesuch steht nicht im Zentrum, sondern gelebter Austausch.

Nun werden einige vielleicht einwenden: Genau das findet bereits in unserer Kirche statt! Das mag sein. Es gibt keine Schwarzweiss-Unterscheidung. Auch Kirche 1.0 und 2.0 stehen in einem Prozess. Die Unterscheidung will lediglich dazu dienen, Entwicklung zu skizzieren, Anhaltspunkte zu bieten. Es geht um einen Paradigmen-Wechsel, der stattfindet. Es geht nicht darum, ob wir damit einverstanden sind oder nicht, denn die Änderungen spielen sich schon lange ab. Viel bedeutsamer ist die Frage, ob wir, in unserer Generation, einen geeigneten Ausdruck für unser Menschsein und Christsein finden.

Aufgefallen ist etwa die anglikanische Kirche, die darüber nachdenkt (Quelle), 10’000 Laiengemeinden gründen zu wollen. Das sind konkrete Vorschläge für konkrete Änderungen. Es sind Antworte der heutigen Generation auf die Herausforderungen dieser Welt. Statt rückwärts zu schauen, ginge es darum, den Kern unserer Berufung und das Wesen der Gemeinschaft glaubwürdig vorwärtszuentwickeln.