«Le roi est mort, vive le roi!» Mit diesem Spruch («Der König ist tot, es lebe der König!») hat man in der französischen Monarchie den Tod des Königs bekannt gegeben und gleichzeitig den erbberechtigten neuen König herausgerufen. In einer Abwandlung könnte man sagen «Die Kirche ist tot, es lebe die Kirche!», wenn es nur so einfach wäre. Das Modell der traditionellen Kirchen scheint die beste Zeit hinter sich zu haben. Man erkennt das daran, dass viele aus Kirchen und Freikirchen ausgetreten sind. Das «Nein» ist damit gesprochen, aber gibt es auch ein «Ja» zu einer besseren Art der Gemeinschaft? Wie kann das aussehen?

Es ist ein Lernprozess. Stark vereinfacht betrachtet könnte man dies erkennen: Die institutionalisierte Kirchen stehen vor dem Aus. Das Modell «Volkskirche» hat abgetan. Freikirchen sind mancherorts nur noch Durchlauferhitzer, worin zwar viele Leute kommen, aber woraus viele auch wieder abwandern. Die Gesellschaft ändert sich. Unsere Zeit stellt besondere Anforderungen an allen Menschen. Nichts ist mehr selbstverständlich und bewährte Strukturen müssen gegen diesen Hintergrund evaluiert werden. Kirchen können in dieser Situation nicht zurückbleiben, ohne unterzugehen. Christliche Gemeinschaft muss sich neu erfinden. Das findet in vielen kleinen Schritten statt. In dieser Zeit des Umbruchs leben wir.

Veränderungen haben Folgen

Unsere Welt ist in Bewegung. Gott bleibt zwar immer Derselbe, aber die Zeit macht etwas mit uns, macht etwas mit der Welt, mit unseren Gesellschaften und deshalb ganz logisch auch mit der institutionalisierten Kirche. Bleibt die Kirche stehen, entwickelt sich die Welt trotzdem weiter. Wer stehen bleibt, fällt bald aus dem Rahmen. Wer rückwärts gerichtet die Vergangenheit erhalten will, ist nicht imstande, das Heute oder die Zukunft zu gestalten.

Innerhalb der institutionalisierten Kirchen gibt es bewährte Strukturen. Sie wurden in anderen Zeiten aus gutem Grund so eingerichtet. Das heisst jedoch keineswegs, dass sie für heute angemessen sind. Gerade das scheint nicht der Fall zu sein, weshalb viele Menschen aus diesen Kirchen abwandern. Hier gilt es zu differenzieren: Wenn eine Generation auf eine bestimmte Art gelebt und geglaubt hat, ist dadurch die nächste Generation nicht einfach der Vergangenheit verpflichtet.

Es geht nicht um den Inhalt der Bibel, sondern um das Verständnis der Bibel in einer sich verändernden Welt, das sich in einer sich erneuernden Kultur äussern darf. Die menschlichen Fragen bleiben dieselben, auch die befreiende Botschaft der Bibel bleibt dieselbe, jedoch kann dies vielleicht erst mit neuen Worten und in neuen Gemeinschaftsformen entdeckt und gelebt werden. Nüchtern betrachtet reicht es nicht, eine bestimmte Subkultur auf ewig zu frönen. Niemand hat das verlangt.

Die Kirche der Zukunft findet ausserhalb der heutigen Strukturen statt, nämlich dort, wo die Menschen sind. Neuer Wein benötigt neue Schläuche (Mt 9,17).

Geburtshelfer

Während die alte Form der Institution sein Ablaufdatum vermutlich schon überschritten hat, betrifft das nicht den Menschen, die darin nachdenken. Neulich las ich den nationalen Synoden-Bericht der katholischen Kirche in der Schweiz 2022. Der Bericht ist ausführlich, schonungslos und selbstreflektiert. Sogar Schwachstellen des Berichts werden benannt. Die Stellungnahme ist nicht nur vielseitig, sondern auch angstfrei für Veränderung. Das ist eine Errungenschaft.

Wer einer solchen Basis schafft, öffnet sich für Neuerung. Eine solche Kirche kann Geburtshelfer für etwas Neues werden. Denn hier liegt die Kirche der Zukunft: In der Entwicklung und Geburt einer neuen Tragfläche für Gemeinschaft.

Der Druck der Notwendigkeit

Die heutigen Institutionen haben immer weniger Einnahmen. Die Idee, dass Kirchen «Geld haben» wird sich für viele bald verflüchtigt haben.

  • Immobilien werden abgestossen werden
  • Immer weniger Personal wird für immer grössere Gebiete zuständig sein
  • Kirchliche Hierarchie wird infrage gestellt
  • Pastoren werden zusätzliche Einnahmequellen suchen müssen.

Die Kirche der Zukunft muss zwangsläufig anders funktionieren als die traditionellen Kirchen oder Freikirchen heute, von denen wenige Menschen leben und wofür viele Menschen zahlen. Natürlich ist jeder Arbeiter seinen Lohn wert, aber zurzeit von Paulus hatte jeder Rabbiner einen regulären Beruf, den er bei Bedarf auch ausüben konnte (Apg 18,3). In vielen Minoritätsgemeinden, auf dem Missionsfeld und andernorts ist das bereits der Fall. Hier muss ein Umdenken stattfinden, nicht zuletzt auch in den theologischen Ausbildungen, die noch weit von dieser neuen Realität entfernt sind.

Kirche als Epizentrum des Glaubens?

Kirche ist für viele gleichbedeutend mit dem Besuch eines Gottesdienstes am Sonntag. Das ist das Zentrum für viele Gemeinden. Es ist der zentrale Fixpunkt in der Woche. Glauben wird an diesem Kirchengang gebunden. Glaube wird deshalb in Kirchengebäuden geortet. Glaube wird vermittelt durch speziell ausgebildete Personen.

Die Kirche als Epizentrum des Glaubens hat abgetan. Kirche, das sind die Menschen. Besser gesagt: Kirche, das sind die Herausgerufenen. Damit ist keine Abspaltung oder Eingrenzung gemeint, sondern «Berufung» ist das, was Kirche vom Wesen her ist (gr. ekklesia = Herausgerufene). Die Berufung ist von Gott her, der uns in Christus beruft (1Kor 1,23-26; 1Kor 1,30). Das hat mit Denominationen oder Kirchenzugehörigkeit nichts zu tun. Die Kirche der Zukunft wird nicht von der Gesellschaft, sondern von der Berufung Gottes her denken müssen. Dies sind die Menschen, die – unabhängig von Kirchen – sich von Christus berufen und berührt wissen und sich von Christus her erneuern lassen.

Man kann sich das vielleicht so vorstellen, dass man nicht mehr fragen wird: «Zu welcher Kirche gehörst Du, zu welcher Denomination?», sondern «Ich erkenne Christus in Dir, lasst uns das feiern». Authentische Begegnung wird wichtiger sein als vermeintliche Rechtgläubigkeit. Einander zu Christus hinführen wird wichtiger sein als auf das eigene Verständnis zu bestehen. Das ist keine Verwässerung der Botschaft, sondern man muss auf den Kern der Botschaft zu sprechen kommen – worum geht es wirklich?

Eine solche Entwicklung bedingt auch, dass man sich mit der Botschaft selbst auseinandersetzt. Es bedingt eine vertiefende Auseinandersetzung, die nicht in den traditionellen Annahmen hängen bleibt, sondern den Mut aufbringt, Fragen auszusprechen und nach besseren Antworten zu suchen. Das ist die Aufgabe jeder Generation und ganz bestimmt auch unsere.

Lebendigkeit

Lebendiger Glaube oder lebendige Gemeinschaft entstehen nicht aus Strukturen. Sie entstehen aus Beziehung. Deswegen wird Lebendigkeit aus Beziehung entstehen und darin geformt werden. Eine christliche Gemeinschaft der Zukunft wird aus Beziehungen heraus entstehen und daraus die Kraft erhalten. Verkündigung spielt darin eine Rolle, aber diese Verkündigung muss nicht ab der Kanzel erfolgen.

Nicht wenige Christen wenden sich von den Kirchen ab, weil sie darin keine echte Auseinandersetzung mehr erleben. Weder wird die Bibel studiert, noch wird Glauben konsequent thematisiert. Das trifft auch für Freikirchen zu, die oft als eng-denkend und oberflächlich erfahren werden. Eine Blut-leere und Geist-leere Kirche dient niemand. Eine authentische Lernkultur dürfte in der Kirche der Zukunft wichtiger denn je sein. Die zentrale Frage für eine Glaubensgemeinschaft der Zukunft dürfte deshalb sein: Wie lässt sich eine positive Lernkultur erreichen?

Lebendigkeit entsteht aus der Beziehung und benötigt eine Kultur, die beziehungsorientiert auf Austausch und Aufbau setzt. Sie fördert die Reifung sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft.

Fünf Gaben an die Gemeinde

Paulus beschreibt im Epheserbrief, wie Gott selbst Leute zum Aufbau der Gemeinde beruft. Sehen wir die Menschen, die Gott gegeben hat? Folgender Abschnitt beschreibt, wie der Apostel den Aufbau der Gemeinde sieht:

«Jedem einzelnen von uns aber wurde die Gnadengabe nach dem Mass des Geschenks Christi gegeben. […] Derselbe gibt die einen als Apostel, die anderen als Propheten, wieder andere als Evangelisten oder als Hirten und Lehrer – zur Anpassung der Heiligen an das Werk des Dienstes, zur Auferbauung der Körperschaft Christi, bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum gereiften Mann, zum Mass des Vollwuchses der Vervollständigung des Christus, damit wir nicht mehr Unmündige seien, von jedem Wind der Lehre wie von brandenden Wogen hin und her geworfen und umhergetragen durch die Unberechenbarkeit der Menschen, durch die List, die darauf ausgeht, den Irrtum planmässig zu verbreiten.
Wenn wir aber wahr sind, sollten wir in Liebe alles zum Wachsen bringen, hinein in Ihn, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der gesamte Körper (zusammen verbunden und vereinigt durch jede Einverleibung des Dargereichten entsprechend der Wirksamkeit jedes einzelnen Teils) das Wachstum des Körpers vollzieht, zu seiner eigenen Auferbauung in Liebe.»
Eph 4,7-16

Zuerst spricht der Apostel darüber, dass jedem etwas von Christus geschenkt wurde und jeder deshalb wirksam ist. Gleichzeitig wird es einige Menschen geben, die speziell an die Gemeinde als Gabe geschenkt wurden. Das Erste betrifft Gaben an Menschen, das Zweite betrifft Menschen als Gabe an die Gemeinde.

Genannt werden fünf Aufgaben, die Gaben an die Gemeinde sind. Die ersten zwei Gaben (Apostel und Propheten) haben die Grundlage gelegt (Eph 2,20). Ein Abbild davon erhielten wir in den Büchern des Neuen Testaments. Paulus konnte deshalb sagen, dass er das Wort vervollständigt hat (Kol 1,25) und zu den letzten der Apostel gehörte (1Kor 4,9). Diese beiden Aufgaben dürften heute vorbei sein.

Die weiteren drei Aufgaben prägen heute. Es sind: Evangelisten, Hirten und Lehrer. Das hat nichts mit Beruf oder mit gefühlter Berufung zu tun, sondern damit, dass Gott diese Menschen so ausgerüstet hat. Sie zeigen sich in der Gemeinde von selbst. Ihre Gaben können nicht verborgen bleiben und dienen direkt dem Aufbau der Gemeinde. Sie werden auch dann tragen, wenn keine Position daran verliehen ist, keine Ausbildung vorhanden ist und keine offizielle Berufung durch Institutionen erfolgt ist. Das ist der von Gott gegebene Aufbau der einzig wahre Gemeinde, die quer durch alle Zeiten und Denominationen her seit 2000 Jahren besteht.

Lernprozess

Die christliche Gemeinschaft von morgen ist bisher nicht eingetroffen. Wir können aber damit anfangen, sie neu zu denken. Ob die Gedanken gut sind, muss sich in der Praxis bewähren. Heutige Kirchen und Gemeinden können so etwas wie ein Geburtshelfer für eine neue Generation von christlichen Gemeinschaften sein. Dazu braucht es Visionäre, die nicht nur Strukturen neu denken können, sondern auch inhaltlich auf das Wesentliche hinweisen. Man kann dies als Lernprozess verstehen, worin man suchend und tastend zu neuen Formen findet.

Es geht nicht nur um Christ-Sein, sondern auch um Christ-Werdung.

Man kann dies aber im Vertrauen zu Gott machen, der nicht nur alles in Händen hält, sondern auch Menschen als Gaben an die Gemeinde gibt, damit diese Gemeinde Christi sich selbst aufbaut. Darin geht es nicht um Mitgliederzahlen, sondern um ein Erwachsenwerden im Glauben, sowohl des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Es geht nicht nur um Christ-Sein, sondern auch um Christ-Werdung.

Wie denkst Du, dass die Kirche der Zukunft aussieht?