Kann ein Christ ohne Kirche oder Gemeinde «überleben»? Einige werden das überzeugt verneinen, während andere bei solchen Fragen nur schulterzuckend Hilflosigkeit über so viel Ignoranz bekunden. Wieviel Kirche braucht der Mensch?
Relevanzverlust der Kirche
Der Corona-Lockdown hat es gezeigt: Menschen überleben auch ohne Kirchenbesuch. Wen wundert’s? Vielleicht wirft jemand ein, dass ein Gottesdienst nicht dasselbe ist wie die Gemeinschaft. Das stimmt natürlich. Nur sollte man bedenken, dass diese Wahrnehmung bei vielen Gläubigen fehlt und in der Gesellschaft erst recht. Weshalb gäbe es sonst so viele Kirchenaustritte und wenden sich Menschen von den freikirchlichen Gemeinschaften ab? Die Frage darf man nicht ausweichen. Man muss nachhaken.
Corona hat vorgeführt, dass man ohne Gottesdienst überleben kann. Ist nicht der Gottesdienst das Zentrum des kirchlichen Erlebens (geworden)? In vielen Gemeinschaften sind Gottesdienst und Gemeindeleben wie austauschbar. Alles andere scheint bloss Beilage zu sein. Zugehörigkeit und Aktivität zeigen sich am deutlichsten am Kirchenbesuch. Bei Freikirchen ist es nicht anders. Zentral stehen Gottesdienst, der Lobpreis, das Ereignis auf der Bühne. All das fiel mit dem Lockdown auf einmal weg. Und – Hand aufs Herz – wie viele Menschen haben das wirklich verpasst? Darf ich die Frage mal provokativ stellen?
Menschen überleben auch ohne Kirchenbesuch. Wen wundert’s?
Ich kenne Menschen, die sagen, sie kämen nicht sosehr für die Predigt, sondern für den Kirchenkaffee. Dort nämlich schlägt das Herz der Gemeinschaft, und nicht beim passiven Zuhören einer Predigt. Menschen wollen sich treffen. Sie haben den Wunsch, sich einzubringen, gehört werden, teilnehmen. Einige kommen wegen der Musik. Corona hat all diesen sozialen Komponenten einen vorläufigen Strich durch die Rechnung gemacht. Was haben wir wirklich vermisst in den Zeiten der Gottesdienst-Abstinenz? Ist es der Gottesdienst, der Sozialkontakt, die Predigt? Auf einer Skala von 1 bis 10, wie hoch würdest Du jedes dieser Dinge für Dich selbst einstufen? Nur mit ehrlichen Antworten kann es gezielt weitergehen.
Einige Kirchen konnten in der Krise nicht spät genug mit dem Halten von Gottesdiensten aufhören und manche nicht früh genug wieder anfangen. Alle versuchen so schnell wie möglich wieder zum alten Zustand zurückzukehren. Das sichert – ich provoziere mit dem Ziel klarer Konturen, worüber man sprechen kann – den Status quo, die Löhne, die Institutionen. Sichert es aber auch die Bedürfnisse der Menschen? Ist es wirklich das Beste, schnell wieder zur Routine zurückzukehren? Oder ist die aktuelle Herausforderung gerade eine von Gott geschenkte Gelegenheit, über einen möglichen neuen Zustand nachzudenken? Im Rahmen dieser Betrachtung geht es um Glaubensaspekte und um die Frage, wie viel Institution der Mensch verträgt und tatsächlich braucht? Und was er vielleicht an deren Stelle am ehesten sucht.
Woraus entsteht Relevanz? Was sind hier die richtigen Fragen?
Kann man es besser machen?
Realisieren Kirchen und Freikirchen, dass sie den Anschluss verpasst haben? Oder denkt man nur, dass man es besser als die anderen macht? Es stimmt mich nachdenklich, wenn ich höre, wie Pfarrer in Anbetracht des Leerlaufs der Kirchen nur noch sagen: Nach mir die Sintflut! Hier ist die Herausforderung: Es gibt Menschen, die wirklich gerne einer Gemeinschaft angehören, aber dafür die institutionalisierte Gemeinschaften und alte Gepflogenheiten nicht als Antwort sehen.
Letzthin habe ich wieder hautnah erlebt, dass einige Menschen konkret nach Bibelstudium und Gemeinschaft anfragen. Im gleichen Atemzug erwähnten sie jedoch, dass sie mit Landeskirchen und Freikirchen nichts zu tun haben wollen. Sie wollen das, wofür Kirchen einst eingestanden sind, aber häufig nicht mehr bieten. Sie wenden sich ab, was ich verstehen kann. Das ist eine Chance. Es geht um Authentizität und Zuversicht.
Hier ist die echte Frage, die von unserer Zugehörigkeit völlig losgelöst ist: Können wir die Freiheit leben, den Menschen und nicht die Institution (oder: unsere Traditionen, unsere Lehrmeinung oder Steckenpferde) ins Zentrum zu stellen – wie es Jesus tat – oder sogar auf die Institution zu verzichten, wenn das nötig ist? Nur damit wir als Christ die Liebe Gottes konkret ausleben und teilen können?
Die wesentlichen Fragen erkennen
Das Thema «Relevanz der Kirche» ist typischerweise ein Thema, das innerhalb der Kirche diskutiert wird. Dann wird nach innen und in die Vergangenheit geschaut. Es ist eine Nabelschau. Das Thema «Relevanz der Kirche» ist deshalb irrelevant. Das Thema soll vom Tisch verschwinden. Es ging nie um die Kirche, d.h. es ging nie um die Organisation oder Institution. Es ging immer um Menschen, die einfach Gottes Gnade und Liebe kennenlernen und erleben wollen. Mit einem biblischen Beispiel: Heute gibt es viel neuer Wein, der neue Schläuche braucht (Mt 9,17).
Es ging nie um die Kirche, d.h. es ging nie um die Organisation oder Institution.
Während es in der Kirche und in den freien Gemeinden viele einzelne Menschen gibt, die dem beipflichten und auch umsetzen, stolpern die Institutionen gesamthaft über die eigenen Strukturen. Die Energie zur Aufrechterhaltung alter Strukturen geht vollkommen an der Not dieser Zeit vorbei. Ganze Generationen sind ausgetreten und wissen nicht, wo man über Gott und die Welt ernsthaft austauschen kann. Ich erinnere mich an eine Kirche, in der der Jugendarbeiter trotz guter Arbeit entlassen wurde, weil es kein Geld gab. Im Jahr darauf wurde das Kirchengebäude für 11 Millionen Franken renoviert. Was für eine Kirche ist das, die sich solche Dinge leistet? Niemand hat mehr nach den Jugendlichen gefragt. Armutszeugnisse sehen so aus.
In diesem Beitrag betrachte ich nicht den einzelnen Menschen, der aus dem Gefäss der Kirche heraus Gutes wirkt und tut. Solche gibt es viele. Aber es gibt auch anderes und Andere. Es geht um die Irrelevanz des Gefässes, nicht um die Menschen, die Gutes tun darin. Die Frustration über die alten Strukturen ist bei vielen Menschen sehr gross. Deshalb kann es befreiend sein, wenn man diese Verknüpfungen von Kirche, Gesellschaft, Gemeinschaft, Wahrheit und Autorität einmal auseinandernimmt und eine Standortbestimmung vornimmt. Solche Standortbestimmungen gibt es glücklicherweise viele, sowohl innerhalb der Institutionen als auch ausserhalb. Sie seien hier alle auf ihre Art gewürdigt.
Es geht um einen Perspektivenwechsel in der heutigen Zeit.
Mich beschäftigen vor allem die Menschen, die austreten, wegtreten, die beschädigt, enttäuscht, suchend, oft allein, ohne Alternative unterwegs sind. Insbesondere kenne ich Menschen aus frei evangelikalen Kreisen. Diese Gruppe ist mittlerweile richtig gross. Freikirchen werden häufig als zu «eng» empfunden, die Lehren als «nicht reflektiert» und die Gemeinschaft nicht selten als «manipulativ». Davor schrecken Menschen berechtigterweise zurück. Wenn an einer Jahresversammlung die Einnahmen offengelegt werden und erzählt wird, dass viel erreicht wurde, dass nämlich so-und-so-viele Menschen «zum Glauben kamen», dann sieht für mich die Rechnung sehr einfach aus: 1 Bekehrter = CHF 50’000. Wurden damit versehentlich die falschen Dinge verknüpft oder nennt man diese Dinge gemeinsam, weil daraus die Daseinsberechtigung der Institution abgeleitet werden kann? Wenn es kein Geld mehr gibt, gibt es dann auch keine Menschen mehr, die sich dem Glauben zuwenden? Warum geht es hier eigentlich?
In Landeskirchen höre ich bestürzt, wie manche nur danach fragen «wie man wieder mehr Leute in die Kirche bringt» und in Freikirchen wird vor denen gewarnt «die von Gemeinde zu Gemeinde ziehen und sich nirgendwo verbindlich einbringen können». Beide legen m.E. den Fokus am falschen Ort. Wer überlegt wie man mehr Leute in die Kirche bringt, der hat bereits verloren. Aber auch die zweite Sicht hilft nicht weiter. Wer den Blick nur nach Innen richtet, wird die Aussenwelt nicht wahrnehmen können. Beide Haltungen sind Ausdruck einer geistlichen Desorientierung und Hilflosigkeit.
Erst wenn man die Relevanz wieder an die eigentlichen Fragen der Menschen und an den frohen Antworten Gottes darauf verknüpft, kann Klarheit und Zukunft entstehen. Es geht um einen Perspektivenwechsel in der heutigen Zeit. Wer von der Institution aus denkt, oder auch über die Institution klagt (und das gilt m.E. für Landeskirchen und Freikirchen gleichermassen), bleibt gedanklich im System eingebunden. Das ist wenig hilfreich.
Nüchternheit bedingt die Anerkennung, dass institutionalisierte Kirchen bei vielen Menschen nicht mehr ankommen. Sie stehen ausserhalb der Institutionen oder sind dabei auszubrechen. Sie überlegen, wie es weitergeht, wie sich Glaube leben lässt, wie sich Gemeinschaft bildet und mit wem man Glaube teilen kann. Das sind die wesentlichen Fragen. Wer solches sagt, will ernst genommen werden. Sie sollen gehört und es dürfen keine billige, nicht-funktionierende ausweichende Antworte gegeben werden.
Leben ohne Gottesdienst oder Kirche
Wird nun durch eine Pandemie und den darauffolgenden Lockdown festgestellt, dass man auch einigermassen gut ohne Gottesdienst leben kann, stellt sich die Frage, weshalb man noch Teil einer Kirche oder Freikirche bleibt? Wenn der Gottesdienst am Sonntag der Kern der Sache ist, so wurde dieser während des Lockdowns ohne viel Aufhebens stillgelegt. Die Erfahrung mit der Pandemie und die traditionelle Verengung auf den sonntäglichen Gottesdienst verschärfen diesen Eindruck der Nichtrelevanz. Damit wankt das System. Selbstverständlich will man so schnell wie möglich wieder zurück zur alten Struktur, denn damit sichert man den bisherigen Geschäftsgang. Ist das zu hart formuliert? Dann zeige anhand der Ziele und Taten, dass es anders ist. Vielleicht aber denkt man auch, dass die Welt immer so weitergeht wie vor dem Lockdown und es nur darum ginge, eine kurzfristige Störung zu beheben. Oder wäre das nur ein Wunschdenken? Betrachtet man diese Dinge mit etwas Distanz, stellt sich die Frage, weshalb man nicht aus der Pandemie etwas lernen will?
Hier ein paar Fragen:
- Wie wichtig ist der Predigt und der Gottesdienst und für wen? Ist das etwa unser Dienst an Gott?
- Ist der Gottesdienst nicht das, was während der Woche stattfindet? Gott ist nicht religiös. Müssen wir es sein?
- Kann das, was in einer Predigt wichtig ist, auch anders geteilt werden? Gemeinschaft als Pionierprojekt.
- Was ist das Wichtigste an einem Treffen am Sonntag? Umdenken ist kein Zuckerschlecken.
- Warum haben Jesus und die Apostel keine Gottesdienste im heutigen Sinne gefeiert? Was sind Apostel?
- Wenn sich Abläufe in der Vergangenheit ändern konnten, können sie es heute auch?
- Welche sind die echten Bedürfnisse der Gottesdienstbesucher? Die wahre Grundlage für Gemeinschaft.
- Lässt uns der bequeme Fokus auf einen Gottesdienst viele andere Menschen vergessen?
- (… Hier Deine Fragen…)
Das Ziel solcher Fragen liegt darin, sich den wichtigen Dingen und eigenen Anliegen bewusst zu werden. Dadurch lässt es sich konkreter austauschen.
Ohne Gemeinschaft lebt es sich schlecht
Der Lockdown hat es vorgeführt: Vieles geht ohne Gottesdienst. Darüber täuschen auch online Gottesdienste nicht hinweg. Der bisherige Fokus auf die Treffen am Sonntag als «Zentrum der Gemeinschaft» haben ihre Schwachstellen offenbart. Vieles ist bloss eine Subkultur. Die zieht sich wie eine Haut über die wesentlichen Dinge, aber kann damit nicht verwechselt werden. Sie hatte bestimmt einst Berechtigung, aber wenn die Zeiten sich ändern, wie darf man diese Haut dann sehen? Wie kann man anpassen? Streifen wir alte Ideen wie eine alte Haut ab? Welche Haut erscheint darunter? Das wäre die interessante Frage für die heutige Zeit. Denn: Ohne Gemeinschaft lebt es sich als Mensch oft schlecht. Kirche und Gemeinschaft sind keine Synonyme. Was Gemeinschaft ist und wie der Körper Christi, die weltweite universale Kirche, sich an meinem Wohnort manifestiert, ist eine Frage, worüber nachzudenken sich lohnt. Die institutionellen Kirchen und Freikirchen sind nicht die Einzigen mit Daseinsberechtigung. Bestenfalls sind sie nur Teil der möglichen Vielfalt. Die wichtigen Fragen gehen uns unter die Haut. Dort treffen wir uns, begegnen wir uns.
Ein Gottesdienst, wie wir sie heute in Kirchen und Freikirchen kennen, war den Aposteln völlig fremd. Die Zwölf bauten auf jüdische Gepflogenheiten auf, während Paulus vermutlich viel improvisiert hat. Was jedoch war der Kern, um der es ging? Damals gelang eine Gemeinschaft ganz ohne Powerpoint, Kirchenorgel und Worship. Das kann man sich heute vielleicht nur schwer vorstellen.
Diese Pandemie, die wir in den letzten Monaten erlebt haben, hat so manche Selbstverständlichkeit hinterfragt. Das ist auch eine Chance. Es geht nicht darum, so schnell wie möglich wieder zu den alten Traditionen zurückzukehren, sondern vielleicht vielmehr darum, herauszufinden, was wir wirklich brauchen – damit wir Prioritäten besser erkennen und auf eine lebendige Gemeinschaft mehr Wert legen als auf die Pflege von Konzepten, die erwiesenermassen nicht funktionieren.
Wenn aber der Gottesdienst als selbstverständlicher Kern des Gemeindelebens wegfällt, was könnte dann stattfinden? Warum geht es eigentlich? Geht es um Veranstaltungen? Geht es darum, «etwas zu bieten»? Oder sind das nur Äusserlichkeiten, die vom Wesentlichen ablenken?
Gelebter Gemeinschaft und gelebter Glaube
Wieviel Kirche braucht der Mensch? Nun, wenn ich hier die Institution meine, dann wirklich nur sehr wenig. Wenn ich jedoch die Gemeinschaft sehe, dann ist das etwas anderes als die Institution. Haben wir den Mut bisheriges infrage zu stellen, nicht weil es einmal relevant war, sondern weil es Mut braucht, neue Wege zu finden, wo es jetzt nötig ist.
Wer die Institution oder bisheriges infrage stellt, verlässt dadurch weiterhin nicht ein gelebter Glaube. Im Gegenteil kann es der einzige Weg sein, den Glauben nicht gänzlich zu verlieren. Was gesucht wird, ist Wahrhaftigkeit, Authentizität und Menschen, die ihren Glauben als Geschenk verstehen, die im Alltag Gottvertrauen ausleben und sich durch Christus mit Gott versöhnt wissen. Finden solche Menschen zusammen, kann gelebter Gemeinschaft im Licht von Gottes Gnade entstehen. Das kann an jedem Ort geschehen – innerhalb der traditionellen Kirchen und Freikirchen, wie auch ausserhalb.