Wie kann man die Aufgabe der Kirche oder Gemeinde denken? Wie sieht eine Gemeinschaft aus, von der ich gerne einen Teil ausmache?

Ekklesia

Christliche Gemeinschaft kann vieles sein. Im Neuen Testament wird das Wort «Ekklesia» im Grundtext genutzt, um die Gemeinschaft der Gläubigen zu beschreiben. Buchstäblich übersetzt heisst das so viel wie «Herausgerufene». Die Gemeinde oder Kirche ist die Herausgerufene, also eine Gruppe von Menschen, die sich gerufen wissen. Diese Berufung ist von Gott her und nicht etwa eine eigene Leistung. Herausgerufene sind Beschenkte. Sie kamen zum Glauben und verstanden sich selbst und ihre Gemeinschaft als «herausgerufen». Wer rief? Christus oder Gott. Paulus beschreibt etwa die Gläubigen als «Berufene Jesu Christi» und als «Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, die in Rom sind» (Röm 1,6-7).

Oft wird dieser Begriff Ekklesia dafür genutzt, um zu verdeutlichen, dass nicht alle Menschen gerufen sind. Es ist eine herausgerufene Auswahl, nicht etwa die gesamte Menschheit. Die Gemeinde soll zwar vollständig werden (vgl. Röm 11,25, «bis die Vollzahl der Nationen eingeht»), aber das heisst noch lange nicht, dass alle Menschen auf der Welt dann «glauben». Die Kirche oder Gemeinde ist zwar offen für andere Menschen, aber hat vom Wesen her nicht die Aufgabe, alle aufzunehmen. Diese Aussage wird vermutlich viele vor dem Kopf stossen, denn man meint oft, dass die Kirche dazu da ist, alle Menschen zu erreichen. Bei dieser Annahme werden jedoch verschiedene Dinge miteinander verwechselt.

  • Nein, es werden nicht alle Menschen in die Gemeinde berufen. Die Gemeinde ist per definitionem eine Teil-Auswahl, genannt «die Herausgerufene». Es ist Gott, der ruft und beruft.
  • Ja, die Gemeinde hat eine Aufgabe, die grösser ist als sie selbst, auch für andere Menschen.

Theologische Herausforderungen

Übliche Herausforderungen bei der Interpretation der Kirche sind von der Lehre her geprägt:

  1. Eine Interpretation meint, die Kirche oder Gemeinde ist ein Rettungsboot. Diese Idee entstand gegen den Hintergrund der Hölle-Lehre, wonach alle Menschen «verloren sind», die sich nicht in diesem Leben für Jesus entschieden haben. Wer glaubt, ist gerettet, und gehört dann zur Gemeinde. Die Kirche oder Gemeinde ist nicht eine von Gott berufene Schar von Menschen, sondern es sind die Menschen, die selbst für sich Jesus gewählt haben und durch diese «Leistung» entkommen sie der Hölle. Wer also glaubt, wird selig, und «hat es erreicht». Der Eintritt in die Gemeinde ist gleichzeitig das Erreichen des Endziels. Danach ist es nicht mehr spannend, weil man ist schon beim vermeintlichen Endziel angekommen.
  2. Eine weitere Interpretation meint, die Kirche oder Gemeinde ist das Reich Gottes auf Erden. Diese Idee stammt aus der Interpretation, dass Gott durch die Gemeinde hier und jetzt sein Königreich aufrichtet. Zwar wirkt Gott und es ist alles bislang nicht so, wie es sein sollte, aber wir sind auf dem Weg dorthin. Es ist die Aufgabe der Kirche, das Reich Gottes in die Welt hinauszutragen und so zur Realisierung vom Gottesreich beizutragen. Mit anderen Worten: Gott benötigt uns, damit Er zum Ziel kommt. Auch diese Sicht sucht zwar Unterstützung aus der Bibel, aber die Bedeutung der Gemeinde als «Herausgerufene» soll bloss die Vorstufe sein und nahtlos zur Befreiung der ganzen Menschheit führen. Wenn das geschieht, hat der Begriff «Herausgerufene» selbstverständlich keine Bedeutung mehr, denn alle Menschen sollten in dieses Gottesreich zusammengeführt sein und es gibt keine Teil-Auswahl mehr (Beachte: hier werden die Begriffe «Reich» und «Gemeinde» verwirrt). Möglich wurde diese Idee durch die Ersatztheologie, wonach die heutige Gemeinde das Volk Israel ersetzt. Zwar wird das heute nur wenig gelehrt, aber die Gleichschaltung und Verwirrung von Königreich Gottes mit der Kirche stammt daher. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Interpretation vom Neuen und Alten Testament.
  3. Selbstverständlich gibt es noch eine dritte Sicht. Dies ist die Interpretation, dass die Gemeinde («Ekklesia» oder «Herausgerufene») eine eigene Aufgabe für eine gewisse Zeit hat, die weder auf Hölle-Lehren noch auf Ersatztheologie beruht. Die Gemeinde wird so lange gebildet, bis die Auswahl fertig ist. Es werden nicht alle Menschen der Welt berufen, sondern es wird eine «Herausgerufene» gebildet, die, wenn sie fertig ist, eine Aufgabe zu erfüllen hat. In dieser Sicht ist die Gemeinde nicht das Endziel, sondern bloss ein Zwischenziel. Die Gemeinde ist so etwas wie ein Werkzeug, das heute gebildet und einst eingesetzt wird. Das Ziel ist es nicht, heute alle Menschen zu retten, noch eine Theokratie aufzurichten.

Nach dieser dritten Sicht ist die Gemeinde ein Werkzeug unter mehreren. Auch Israel ist ein Werkzeug und eine Ekklesia, eine herausgerufene Schar, ein herausgerufenes Volk. Nicht alle Völker sind gerufen, aber Israel ist gerufen. Israel und die heutige Gemeinde haben beide eine Aufgabe. Die Aufgaben sind nicht identisch und jeder wird auf die eigene Aufgabe vorbereitet.

Jesus und Paulus – sagen sie dasselbe aus?

Gemeinschaft von Menschen

Völlig unspektakulär kann man die Gemeinde auch als simple Gemeinschaft von Menschen sehen. Selbstverständlich verbindet diese Menschen etwas und das hat womöglich alles mit dem zu tun, was hier oben genannt ist. Darunter liegt aber ein menschliches Grundbedürfnis: Der Wunsch nach Gemeinschaft. Wir sind auf Begegnung hin ausgerichtet. Die Gemeinde, das ist auch, oder vielleicht vor allem anderen, eine menschliche Gemeinschaft.

In der Kirche oder Gemeinde treffe ich andere Menschen. Man erarbeitet gemeinsam Themen und lernt voneinander. Man wird in der Begegnung zum Menschen. Die Ausprägung kann auf Basis der Lehren der Gemeinde, der Subkultur, ganz unterschiedlich sein. Man kann das gutheissen oder ablehnen. Wesentliche Grundvoraussetzung bleibt jedoch, dass man sich trifft. Ich gehe davon aus, dass Menschen für Begegnungen geschaffen sind. Wir begegnen, weil wir Mensch sind.

Die Gemeinschaft ist deshalb auch etwas, das uns als Mensch entspricht. Diese Gemeinschaft ist nicht etwa «göttlich», weil man sich trifft. Es ist eine menschliche Ausprägung, die gut ist, weil wir so funktionieren und lernen. Wenn wir also in eine Gemeinschaft hineinberufen werden, so wie die Kirche als «Ekklesia» eine herausgerufene Schar ist, dann ist diese Ausprägung wünschenswert, weil wir Mensch sind. Es hätte auch ganz anders sein können, ist es aber nicht.

Die Kirche als Gemeinschaft von Menschen beantwortet dadurch wesentliche Bedürfnisse und schafft auch dadurch die Möglichkeit, Wesentliches in der Welt, in der Gesellschaft und füreinander zu bewirken. Die Gemeinde ist gut, weil wir Mensch sind. Was uns verbindet und vielleicht gemeinsam ausrichtet, ist erst eine zweite Ebene. Ich halte diese beiden Ebenen auseinander, damit das Menschliche nicht untergeht. Das Menschliche an der Gemeinde ist gut, und das will gegenüber allzu fromme und abgehobene Lebensentwürfe immer wieder erwähnt werden.

Können wir das so sehen, dann wird auch klar, dass sich die ursprünglichen Gemeinden nicht einfach «nur zum Bibelstudium» trafen, sondern auch gemeinschaftliche Ausprägungen kannten (Apg 2,42). Es gab auch die «Gemeinschaft des Dienstes» (2Kor 8,4), worin eine gemeinsame Aufgabe wahrgenommen wurde. Auch wurden in der gesamten Schrift Menschen für praktische Aufgaben eingesetzt (4Mo 3; 5Mo 1:1-15; Apg 6,1-3). Die Gestaltung der Gemeinschaft war nie «nur geistlich», auch wenn der Grund für die Gemeinschaft eine gemeinsame geistliche Ausrichtung war.

Praktische Dinge zu bedenken, war auch das Anliegen von Paulus (Phil 4,8-9). Der Apostel schreibt ferner:

«Was diese [Wahrheiten] betrifft, so habe ich beschlossen, dass du auf ihnen bestehst, damit die, die Gott geglaubt haben, darauf sinnen, für edle Werke einzustehen. Dies ist trefflich und den Menschen nützlich.»
Tit 3,8

Emphatisch zu sein gehört nicht einfach zum guten Ton, sondern entspricht und beantwortet unser Menschsein:

«Es gilt, sich zu freuen mit den Freudevollen, zu weinen mit den Weinenden.»
Röm 12,15

Gemeinde als Lebensraum

Aus den vorhergehenden Überlegungen könnte man auch sagen, dass die Gemeinde ein Lebensraum ist. Darin treffen wir uns. Wir könnten noch weitere Begriffe dafür bedenken:

  • Werkstatt des Glaubens
  • Übungsfeld
  • Gemeinsamer Grund
  • Reisegesellschaft

Wie wir unsere eigene Gemeinschaft sehen, können wir selbst steuern. Manche nutzen nur biblische Begriffe, um darüber nachzudenken. Wenn wir jedoch verstehen, worum es geht, werden wir frei, auch andere Begriffe zu nutzen. Wörter prägen unser Verständnis und können auch Türen zu einem weiteren Verständnis öffnen. Finden wir neue Wörter, können wir uns auch eine Zukunft ausmalen, die von Liebe und Gnade getragen und auf gottgewollte Menschlichkeit ausgerichtet ist. Oder müssten wir das noch auf andere Art formulieren?

Im folgenden Video habe ich einige weitere Gedanken zusammengefasst:

Vertiefung

Diskutiere die folgenden Behauptungen und Fragen:

  • (Keine) Kirche ohne Christus
  • Glauben ist menschlich
  • Was verbindet und was trennt uns?
  • Worte oder Taten?
  • Ich gehe zur Gemeinde, weil …
  • Ich gehe in keine Gemeinde mehr, weil …
  • Es benötigt nur Bibelstudium, damit ich mich als Christ fühle.
  • Meine Gefühle stehen mir beim Glauben in den Weg
  • Glauben = Gefühl?
  • Freiheit und Kirche passen nicht zusammen
  • Wie kann eine Gemeinschaft aussehen, wo ich gerne ein Teil davon bin?
  • Ich benötige ein Kirchengebäude für meinen Glauben
  • Tradition und Ritual sind etwas Gutes, weil …
  • Was hat mein Glaubensverständnis bis heute am meisten geprägt?