Weshalb Jesus-Kult?

Unabhängig voneinander haben Freunde von mir, Mitchristen wie auch Atheisten, neuerdings freikirchliche Kreisen als «Jesus-Kult» umschrieben. Nicht pauschal, aber nach konkreten Erfahrungen. Selbst hatte ich das schon länger so erkannt. Es wird von einem Jesus-Kult gesprochen, wenn etwas sektenhaftes, unreflektiertes erkannt wird. Diese fast blinde Fokussierung auf Jesus ist vielen suspekt.

Ich selbst habe immer wieder mal die Perspektive gewechselt. Aus den Zeiten, da ich in Freikirchen sehr aktiv war, kenne ich selbstverständlich solche Einwände. Wie habe ich damals reagiert? Nun, ich habe versucht, die Argumente zu entkräften. «Ich bin ja nicht blind», «wir machen das nicht so», und dergleichen mehr. Es blieb aber immer ein schaler Geschmack im Mund zurück. Die Einwände waren nicht unberechtigt.

Jeder glaubt für sich

Gleich zu Anfang dieses Beitrages möchte ich festhalten, dass jeder seinen Glauben nur für sich selbst und vor dem Angesicht Gottes haben kann (Röm 14,22). Man stellt sein Vertrauen nicht auf seine Kirche oder Gemeinde, nicht auf den Pfarrer oder Pastor, sondern auf Gott allein. Mehr braucht es nicht. Das läuft zwischen Dir und Gott ab, der uns in Christus segnet, auserwählt, vorherbestimmt, begnadet, Freilösung durch Sein Blut und Vergebung der Kränkungen nach dem Reichtum Seiner Gnade schenkt – und vieles mehr (Eph 1,3-12).

Jeder glaubt für sich allein, weil es nicht anders geht. Hier ist also die Differenzierung: Jeder steht als Einzelner in dieser Gnade. Jeder steht selbst vor Gott. In der Gemeinschaft jedoch können wir uns gegenseitig unterstützen. Wir teilen dieselbe Berufung und dieselbe Gnade (Phil 1,7). In der Gemeinschaft begegnen wir uns als Berufene und teilen den Reichtum, lernen dazu, unterstützen einander, ermöglichen viele Formen des Zusammenseins. Das gewünschte Resultat: Leben und Glauben können wir in der Gemeinschaft gegenseitig zur Reife bringen (1Kor 13,10-12, Eph 4,11-13).

Bis hierher ist das ein Konzept. Die Grundlage ist hervorragend. Umgesetzt wird es jedoch in der jeweiligen Gemeindekultur. Das ist noch einmal ein weiterer Schritt. In der Gemeinschaft wird das Konzept adaptiert. Das ergibt die Gemeindekultur und die Art des Umgangs miteinander. Hier findet natürlicherweise auch eine gewisse Gleichschaltung statt, in der Regel aus pragmatischen Überlegungen. Gleichschaltung ist aber nicht das Ziel, ansonsten man einer Ideologie anhängt und keinen lebendigen Glauben mehr pflegt.

Nun sollten wir sorgfältig unterscheiden: Glaube ist immer persönlich. Eine Kirche glaubt nicht – es sind nur Menschen, die glauben können. Fühle ich mich in einer bestimmten Gemeinschaft wohl, dann ist das wegen der Gemeindekultur. Dasselbe gilt, wenn ich mich irgendwo unwohl fühle. Kirche oder Gemeindekultur sind nicht mit der Botschaft der Gnade Gottes gleichzusetzen.

Wenn also irgendwelche Leute nach einer Begegnung mit Christen davonlaufen, dann hat das mit dem Kern der biblischen Botschaft in der Regel wenig zu tun (es sei denn, die Lehre ist schräg). Es hat jedoch viel mit der Gemeindekultur zu tun. Man wendet sich von Glaubens- und Lebensentwürfen ab, die lebensfremd erscheinen. Ein Jesus-Kult ist lebensfremd.

Was Glaube dem Kern nach bedeutet und wie er gelebt wird, sind zwei verschiedene Dinge. Schauen wir die Unterschiede noch etwas näher an. Dies kann dabei helfen, den Begriff «Jesus-Kult» und viele andere religiöse Spielarten besser zu verstehen.

Schwärmerei

Form und Inhalt spielen immer zusammen. Es gibt eine Form, die fast keinen Inhalt mehr hat. Je weniger Inhalt vorhanden ist, desto mehr Form tritt in den Vordergrund. Dabei kann man ein Mangel an Inhalt durch Schwärmerei probieren auszugleichen. Statt Mangel an Inhalt kann es auch Unsicherheit sein oder irgendein anderer Mangel. Schwärmerei kommt stets irgendein Bedürfnis entgegen. Das ist eine neutrale Feststellung. In einem gesunden Glauben hat Schwärmerei jedoch nichts zu suchen.

Schwärmerei in Gemeinden sehe ich in zwei Richtungen passieren: Einerseits eine charismatische Schwärmerei, worin der Heilige Geist Gott ersetzt, andererseits ein Jesus-Kult, worin Jesus den Platz Gottes einnimmt. Beide sind Projektionen und suchen eine Legitimation aus der Bibel abzuleiten. Die Varianten werden durch das Dogma der Dreieinigkeit begünstigt und beide liegen im Fokus falsch.

Religiosität ist eine Seifenblase

Der Begriff «Glaube» ist recht neutral. Sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen, den ursprünglichen Sprachen der Bibel, geht es um Vertrauen. Etwas zu glauben ist dasselbe wie etwas zu vertrauen. Gott zu glauben heisst also Gott zu vertrauen. Das ist der Basis. Glaube ist nicht kompliziert, benötigt keine Mitgliedschaft irgendwelcher Vereinigung und kommt ganz ohne Theologie aus.

Wann wird dieser einfachen neutralen Glauben zum Kult? Das hat mit der religiösen Interpretation, sprich: mit der jeweiligen Gemeindekultur, zu tun. Religiosität ist die Art, wie man seinen Glauben Ausdruck verleiht. Es sind Handlungen, Rituale, Gebete, Kirchengang und dergleichen mehr. Damit sagt ein Glaubender: So will ich meinen Glauben leben.

Religiosität ist per definitionem nach aussen gerichtet und hat mit dem ursprünglichen Vertrauen nichts zu tun. Jemand kann sehr religiös sein, aber sein Herz bleibt unberührt. Oder gerade umgekehrt: Jemand kann aufrichtig glauben, aber mit Deiner oder meiner Religiosität kann er oder sie nichts anfangen. Dies festzustellen, ist völlig wertfrei.

Solche Unterscheidungen zwischen Glauben und Religiosität sind sehr hilfreich, damit wir nicht unsere eigene kleine «Bubble» als die beste oder ultimative Wahrheit betrachten. Religiosität ist eine Seifenblase. Seifenblasen schillern in den unterschiedlichsten Farben. Ebenso gibt es wirklich viele Arten, wie Menschen ihren christlichen Glauben sehen, erleben und ausleben. Diese religiösen Ausdrucksformen werden zwar von vielen zelebriert, sind aber nie mit einem eigentlichen Glauben zu verwechseln.

In welcher Kirche ich gehe, ob ich reformiert, katholisch, freikirchlich oder nichts von all dem bin ist nicht relevant. All dies sind Ausdrücke einer Religiosität – und mehr eben nicht. Nirgendwo redet die Bibel in solchen Kategorien. Sowenig ist es relevant, ob ich rauche, trinke, Veganer bin oder eben nicht. Stattdessen spricht Paulus beispielsweise über die Frucht des Geistes mit folgenden Worten:

«Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Gutheit, Treue, Sanftmut, Selbstzucht.»
Gal 5,22

Die Haltung des Glaubens drückt sich nicht im Kirchengang, sondern in der Frucht des Geistes aus. Ob ich jeden zweiten Satz «Jesus» sage, hat etwas mit der Kultur zu tun, in der ich stehe. Das ist etwas ganz anderes. Wer sich in einer solchen Projektion von Jesus ergötzt, pflegt seine eigenen religiösen Gefühle. Eine Frucht des Geistes wendet sich jedoch ohne Schwärmerei anderen Menschen zu. Religiosität ist auf sich selbst gerichtet. Gelebter Glaube hat anderes zu tun.

Der Wunsch nach Gottesnähe

In Freikirchen findet man keine intellektuelle Distanz, wie sie vielen Landeskirchen prägt. Stattdessen wird eine erlebbare Gottesnähe gepredigt. Im Idealfall wird der Mensch zu einem lebendigen Glauben ermutigt. Freikirchen neigen jedoch dazu, in eine Art Jesus-Kult abzudriften.

Woran erkennt man einen Jesus-Kult, wie ich das hier beschreibe? Ganz einfach: In der Predigt, im gemeinsamen Bekennen, im Gebet und vielleicht in jedem zweiten Satz wird «Jesus» oder «Herr» gesagt. Jesus wird zum absoluten Fokus, zum Inhalt, hochstilisiert. Läuten jetzt noch keine Alarmglocken? Nein? Vielleicht steckst Du dann selbst, lieber Leser, tief in diese Gedanken rein. Wenn ich es extrem formuliere: Jesus hat den Platz Gottes eingenommen.

In Gebeten beispielsweise kann der Name Jesus Mantra-artig wiederholt werden, fast wie eine Beschwörung. Ich überspitze hier mit Absicht, damit die Konturen klarer erkennbar werden. Es geht nämlich keineswegs um Glaubensbekenntnisse, wie sie die Bibel kennt, oder um Gebetsformen, die wir irgendwo in der Bibel zurückfinden. Die Bibel kennt keinen Jesus-Kult. Vielmehr geht es um Handlungen, Gepflogenheiten, Ausdrucksweisen, Glaubenshaltungen, die der Bibel völlig fremd sind und dem sogar widersprechen. Da sich mein Glaube jedoch massgeblich auf die Informationen in der Bibel abstützt, ist ein kritischer Vergleich zur Selbstreflexion angebracht.

Der Wunsch nach einer intensiv erlebten Gottesnähe ist verständlich, aber nicht nüchtern. Es ist leider nicht alles Gottesnähe im Leben. Dass ein Jesus-Kult aus dem Wunsch nach Gottesnähe entsteht, dafür habe ich Verständnis. Aber man stelle sich einmal vor, was passiert, wenn man den ganzen Tag hindurch nur noch den Namen des Lebenspartners vor sich hin flüstert. Wird man dann noch als gesund denkender Mensch wahrgenommen? Oder ist es eher ein obsessives Verhalten?

Wie Glaube zum Kult wird

Wir stecken alle bis zum Hals in Kulten drin. Das ist eine neutrale Aussage. Kirchen und Gemeinden sind von diesen Dingen getragen: Ein gemeinsamer Fokus, genügend Anhänger (der Fanclub), und dann die geprägte Ausdrucksweise, der Kult.

In der Ausprägung des Kultes schlägt sich die gemeinsame Erkenntnis nieder. Es kann die Tradition sein, eine vermeintlich neue Erkenntnis, eine gemeinsame Erfahrung. Kultische Handlungen begünstigen eine Gleichschaltung. Sie vereinfachen auch die Aufnahme neuer «Fans». Jeder kann im Strom mitschwimmen, weil alle wissen, wohin es geht. Das kann eine wohltuende Erfahrung sein.

Man steigert sich in ein bestimmtes Bild hinein, damit die ersehnte Gottesnähe heraufbeschworen wird.

Wenn beispielsweise in jedem zweiten Satz das Wort «Jesus» fällt, dann nicht deshalb, weil es die Jünger Jesu so getan hätten (haben sie nicht), sondern weil es gerade dort in dieser einen Gemeinschaft so gelebt wird. Was bewegt Leute dazu, sich so stark auf etwas zu fokussieren? Wie entwickelt sich aus einem nüchternen Glauben etwas zu einem schwärmerischen Kult?

Hier mein Eindruck: Man steigert sich in ein bestimmtes Bild hinein, damit die ersehnte Gottesnähe heraufbeschworen wird. Die unerträgliche Realität der Welt wird so ein Schnäppchen geschlagen. Man steigt sozusagen aus der Welt heraus in eine Nebenwelt, worin alles anders ist.

Jesus-Kult ist ein Versuch, Gottesnähe hier erlebbar zu machen. Das geht leider nur zulasten eines lebendigen Glaubens. Wer selbstkritisch unterwegs ist, wird hier immer eine Spannung spüren.

Die Belebung des Glaubens

Die Belebung des Glaubens ernährt sich nicht aus fixen Vorstellungen, sondern aus einer Auseinandersetzung. Es ist die Erkenntnis, heute irgendwo zu stehen, aber morgen vielleicht zu einer besseren Erkenntnis zu kommen. Die Beziehung steht zentral, keine obsessive Wahrnehmung.

Woraus ernährt sich Dein Glaube? Welche Worte nutzest Du zum Beten. Welche inneren Glaubensbilder trägst Du im Alltag in Dir? Dies sind die Dinge, die wichtig sind. Denn alle Bilder, die wir uns selbst von Gott machen, wie gut auch für manche Zeiten, werden in anderen Zeiten keine Tragkraft haben. Mein Verständnis bleibt bruchteilhaft. Mein Vertrauen ist auf Gott, durch Jesus Christus.

Hier geht es weiter: Eigene Bilder lassen sich von der Bibel aus erneuern, korrigieren, beleben.