Die sogenannte «Wiedergeburt» ist ein zentraler Begriff im Leben vieler Christen. Sie verstehen sich als «wiedergeboren» und meinen damit, dass sie zu einem bewussten Glauben gefunden haben und von Gottes Geist berührt nun in einem neuen Leben daheim sind. Man interpretiert die sogenannte «Wiedergeburt» als persönliches Ereignis. Es ist jedoch viel dafür zu sagen, dass es hier um ein grösseres, messianisches Ereignis handelt, was noch in der Zukunft liegt.

Über welche Art von Wiedergeburt reden wir hier?

Vorab noch ein paar klärende Bemerkungen: Mit «Wiedergeburt» wird keine Technik gemeint, etwa wie das «Rebirthing», womit man Bewusstseinsveränderung durch Hyperventilation und ähnliche Dinge versucht zu erreichen. Ganz im Gegenteil – Wiedergeburt ist das, was Gott mit Dir macht, nicht etwas, was Du selbst bewirken kannst.

Ebenfalls bezeichnet die Wiedergeburt keine Reinkarnation, also eine nicht ablassende Reihe von «Sterben und in einem neuen Körper wieder geboren zu werden». Die Reinkarnation ist der Bibel fremd, auch wenn es manche gibt, die diese Gedanken in die Bibel hineinlesen wollen. Wenn Christen von Wiedergeburt sprechen, denken Sie nicht am Tod und Reinkarnation, sondern an etwas, das in diesem Leben geschieht.

Ich beziehe mich hier auf die Wiedergeburt als eine christliche Tradition. Sie versucht, sich auf die Bibel abzustützen. Mit dem Wort «Wiedergeburt» oder dem Verb «wiedergeboren werden» markiert man einen Übergang. Wiedergeburt bedeutet so etwas wie Transformation und für viele Christen ist man erst richtig Christ, wenn man «wiedergeboren» ist. Der Verweis ist nach einem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus im Johannes-Evangelium, Kapitel 3. Darauf gehen wir weiter unten noch ein.

Persönlich oder national?

Viele sind mit dem Begriff «persönliche Wiedergeburt» vertraut. So wird es gelehrt. Es geht um den einzelnen Menschen. Die zitierten Bibelstellen werden in diesem Sinne ausgelegt. Es gibt jedoch Ungereimtheiten mit dieser Interpretation. Berühmt ist der Abschnitt in Johannes, Kapitel 3. Dort lesen wir von Jesus und Nikodemus. Gerade diese Geschichte scheint die Wiedergeburt hervorragend zu beschreiben. Hier nun die Frage: Ging es Jesus darum, Nikodemus persönlich anzusprechen, um ihn von einer persönlichen Wiedergeburt zu überzeugen? Oder spricht Jesus ihn als «der Lehrer von Israel» an, geht es um ein nationales Ereignis? Dieser Frage gehen wir hier nach.

Die Wiedergeburt, wie wir sehen werden, betrifft ein messianisches Ereignis und hat mit der heutigen Zeit oder der Gemeinde heute nichts am Hut. Es gibt ein besserer Begriff für das, was wir heute erleben: Neuschöpfung. In diesem Beitrag werden wir entdecken, was Wiedergeburt in der Bibel heisst, und weshalb Neuschöpfung ein besserer Begriff  für die heutige Zeit ist.

Jesus und Nikodemus

Die zentrale Stelle, die immer wieder für die Idee einer Wiedergeburt zitiert wird, finden wir im Johannesevangelium. Jesus war zum Pessach-Fest in Jerusalem. Viele Zeichen tat er, die Seine Person und Aufgabe bezeugten. Das fiel selbstverständlich jeden in Jerusalem auf. Eines Nachts erhielt Jesus Besuch von jemand, der darüber sprechen wollte. In dem Gespräch zwischen Jesus und dem Besucher Nikodemus wird von dem gesprochen, was später als «Wiedergeburt» in die christliche Tradition übergegangen ist.

Hier die Geschichte der Begegnung:

«Unter den Pharisäern war ein Mann, dessen Name Nikodemus war, ein Oberer der Juden. Dieser kam bei Nacht zu Ihm und erklärt Ihm: Rabbi, wir wissen, dass Du als Lehrer von Gott gekommen bist; denn niemand kann diese Zeichen tun, die Du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.

Jesus antwortete ihm: Wahrlich, wahrlich, Ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben her gezeugt wird, kann er das Königreich Gottes nicht gewahren.

Da sagte Nikodemus zu Ihm: Wie kann ein Mensch, der ein Greis ist, gezeugt werden? Er kann doch nicht ein zweites Mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden!

Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, Ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist gezeugt wird, kann er nicht in das Königreich Gottes eingehen. Das vom Fleisch Gezeugte ist Fleisch, und das vom Geist Gezeugte ist Geist. Seid nicht erstaunt, dass Ich dir sagte: Ihr müsste von oben her gezeugt werden. Der Windhauch weht, wo er will; du hörst sein Sausen, weisst jedoch nicht, woher er kommt und wohin er geht. Ebenso ist es mit jedem, der aus dem Geist gezeugt ist.

Darauf nahm Nikodemus das Wort und fragte Ihn: Wie kann dies geschehen?

Jesus antwortete ihm: Du bist der Lehrer Israels und erkennst dies nicht? Wahrlich, wahrlich, Ich sage dir: Was wir wissen, das reden wir; und was wir gesehen haben, bezeugen wir; doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an. Wenn ich vom Irdischen zu euch sprach und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn Ich vom Überhimmlischen zu euch spreche?»
Johannes 3,1-12

Nach diesen Worten lesen wir in Johannes 3 nicht weiter von Nikodemus. Es ist, als ist das Gespräch im Bericht von Johannes abgebrochen, nachdem die wichtigsten Aussagen gemacht sind. Ob die nachfolgenden Verse zum Gespräch dazugehören, ist unklar. Die weiteren Verse erläutern die Bedeutung vom «Überhimmlischen», indem Jesus erklärt, dass der Sohn aus dem Himmel herabgestiegen ist.

Nikodemus kam zu Jesus und bestätigte erst einmal die Zeichen, die Jesus getan hat. Daraus ging zweifelsfrei hervor, dass Gott mit Ihm sein müsste. Es ist eine bemerkenswerte Aussage von Nikodemus, denn als Oberer der Juden und als Pharisäer gehörte er zur religiösen Führerschaft, die sich regelmässig kritisch zu Jesus äusserten. Deshalb kam er wohl «bei Nacht». Er kam jedoch, weil er den Kontakt und den Austausch mit diesem Mann mit Namen Jesus suchte.

Der Zusammenhang

Wie sollten wir diese Worte nun verstehen? Die Verführung ist gross, alles sofort auf sich selbst anzuwenden. So wird das in vielen Kirchen und Freikirchen gemacht. Man schaut also nicht, in welchem Kontext dies geschieht, sondern geht auf Vorderhand davon aus, dass man selbst Teil des Kontextes ist. So kommt es zu voreiligen Schlussfolgerungen. Wesentlich geht es um eine Interpretation des Neuen Testaments. Viele legen die Bibel so aus, dass das Alte Testament (die Tenach) den Juden betrifft, das sogenannte Neue Testament jedoch den Christen. Das ist mitnichten so. Mehr dazu beispielsweise in der «Übersicht des Neuen Testaments, Teil 1».

Diese Worte stehen in den Evangelien. Sie beschreiben die Zeit von Jesu Geburt bis zu Seiner Auferstehung. In dieser Zeit predigte er «das Evangelium des Königreiches» (Mt 4,23). Das Königreich war die frohe Botschaft. Es ging nicht darum, «an Jesus zu glauben oder für ewig verloren zu gehen», noch ging es um die Gnade Gottes auf Basis Seiner Gerechtigkeit, wie Paulus später darüber sprach (Eph 3,1-2). Das Thema von diesem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus war ebenfalls «das Königreich Gottes» (Joh 3,3).

Folgern wir auch hier nicht voreilig, dass das Königreich Gottes die Kirche oder die heutige Gemeinde sei. Das ist sie nicht. Diese Feststellung ist bedeutsam, denn Christen kapern oft das ganze Neue Testament, als spricht alles von den Gläubigen aus den Nationen, frei nach dem Motto «Überall, wo Jesus draufsteht, ist heutige Kirche drin». Diese Sicht ist leider undifferenziert und wird dem Neuen Testament nicht gerecht.

Die Rede vom Königreich bezieht sich nicht auf das, was man heute als Kirche versteht, sondern auf das, was die Propheten im Alten Testament gesagt hatten. Die Juden erwarteten ein Königreich auf Erden, in der Gerechtigkeit herrscht. Es ist das messianische Königreich, welches Matthäus als das «Königreich der Himmel» beschreibt, das in der Zeit der Evangelien «nahe gekommen» war (Mt 3,2 und Mt 4,17). Beim Propheten Daniel war es noch weit weg (Dan 2,44; Dan 7,27), jedoch kam es im Neuen Testament in Jesus als Messias nahe. Es war diese Erwartung des messianischen Reiches für Israel, welche die Verkündigung von Jesus und das Verständnis der Jünger prägte. Sogar nach der Auferstehung fragten die Jünger unumwunden: «Herr, stellst Du in dieser Zeit das Königreich für Israel wieder her?» (Apg 1,6). Da ist eine Gemeinde aus allen Nationen noch undenkbar. Mehr zum messianischen Königreich, das von Jesus und den 12 Aposteln als Evangelium verkündigt wurde, liest sich im Beitrag «Das Königreich der Himmel».

Das Königreich war also in den Evangelien das Thema, nicht die Kirche aus allen Nationen – die kam erst mit Paulus (Röm 11,13 u.a.).

Von oben geboren

Zurück zum Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus. Jesus erklärt Nikodemus, dass er «von oben gezeugt» werden muss. Er wiederholt das zweimal und erklärt das mit dem Ausdruck «aus Wasser und Geist gezeugt» zu werden. Diese Verknüpfung hat Bedeutung. Zuerst kann man jedoch feststellen, dass ein Wort wie «Wiedergeburt» an dieser Stelle nicht steht, sondern dass es darum geht «von oben gezeugt» zu werden.

Das Wort «zeugen» (gr. gennao) bezieht sich weniger auf die Geburt als auf die Herkunft. So wird es 39 Mal genutzt in dem Geschlechtsregister von Jesus Christus, genannt «Rolle der Abstammung Jesu Christi» (Mt 1,1-16). Das Wort beantwortet die Frage «woher» oder «wie» sowie «in welchem Zusammenhang».

Wenn nun jemand «von oben her gezeugt» werden muss, wie es Jesus dem Nikodemus nahelegte, so ging es um eine bildhafte Sprache. Es geht um die Fragen «woher» und «wie» und aufgrund welcher Verbindungen man (neues) Leben erhält. Nikodemus verstand es jedoch als physikalisches «geboren werden», als Geburt. Daraufhin korrigierte ihn Jesus mit dem Hinweis, jemand müsse «aus Wasser und Geist» gezeugt werden, was also nicht mit der leiblichen Geburt gleichzusetzen sei.

Von oben her geboren zu werden, bzw. aus Wasser und Geist geboren zu werden ist die Vorbedingung dazu, das Königreich Gottes zu sehen (Joh 3,3) oder hineinzugehen (Joh 3,5). Denken wir dabei an das, was wir vorher gefunden haben. Es geht hier um einen Verweis an das messianische Königreich. Keinesfalls geht es darum, dass wir persönlich «an Jesus glauben sollen», noch geht es hier um «die Kirche».

Immer wieder erlebe ich, wie tief alte Traditionen im Denken verankert sind. Für manche ist es fast unmöglich, alte Ideen über den Text loszulassen, um den Text im eigenen Kontext gelten zu lassen. Gerade das ist jedoch nötig, wenn wir den Bibeltext ernst nehmen wollen. Es geht hier keineswegs um eine persönliche Wiedergeburt, sondern um etwas viel Grösseres. Es gibt nämlich für diese Aussagen einen Kontext. Davon sollte Nikodemus eigentlich wissen, erinnert ihn Jesus: «Du bist der Lehrer Israels und erkennst dies nicht?» (Joh 3,10).

Nikodemus erahnt Grosses, kommt in seinen Fragen jedoch nicht über das hinaus, was seine Augen sehen (Joh 3,2) und er sich leibhaftig vorstellen kann (Joh 3,4). Jesus dagegen verweist auf etwas ganz anderes. Von oben geboren zu werden hat nichts mit Geburt zu tun, sondern mit einer geistlichen Realität.

Wasser und Geist

Jesus spricht zu Nikodemus und nennt ihn «der Lehrer Israels» (Joh 3,10). Deshalb sollte Nikodemus mit den Schriften der Tenach vertraut sein. Er hätte wissen müssen, worüber Jesus spricht, denn man findet diese Dinge bereits im Alten Testament.

«Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, Ich sage dir:
Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist gezeugt wird,
kann er nicht in das Königreich Gottes eingehen.

Das vom Fleisch gezeugte ist Fleisch,
und das vom Geist Gezeugte ist Geist.

Sei nicht erstaunt, dass Ich dir sagte: Ihr müsste von oben her gezeugt werden.
Der Windhauch weht, wo er will;
du hörst sein Sausen, weisst jedoch nicht, woher er kommt und wohin er geht.
Ebenso ist es mit jedem, der aus dem Geist gezeugt ist.»
Joh 3,5-8

«Von oben her gezeugt werden» ist gleichbedeutend mit «aus dem Geist gezeugt werden». Es geht um eine geistliche Realität, wohin Jesus verweist. Nikodemus hätte wissen sollen, dass es etwas gäbe, bereits im Alten Testament bezeugt, das von einer anderen Realität spricht als «im Fleisch» direkt erlebt wird. Was wir also sehen und spüren und selbst bewirken können, ist das eine (Fleisch), jedoch gibt es etwas, das neu entstehen kann, und dieses stammt aus Geist. Fleisch und Geist sind Bildsprache und deuten hier auf einen Unterschied hin.

Ein solcher Unterschied ist nicht neu im Neuen Testament. Es kommt aus dem Alten Testament, wo es eine Verheissung war:

«Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen werde ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde machen, dass ihr in meinen Ordnungen lebt und meine Rechtsbestimmungen bewahrt und tut.»
Hes 36,25-27

Das hätte Nikodemus wissen müssen. Es ist der Ausblick auf ein messianisches Reich, in dem Gott nicht nur Sein Volk in das Land Israel sammeln wird, sondern sie auch reinmacht, ein neues Herz und einen neuen Geist schenken wird. Dadurch wird es möglich sein, dass sie das Gesetz ausleben. Als Jesus das «Evangelium des Königreiches» predigte, sprach er zu Israel allein (Mt 15,24; Röm 15,8). Es ging um die Verheissungen an Israel, und dass diese erfüllt werden sollten. Selbstredend war der Ausblick darauf, dass das Volk «von oben geboren» werden musste, durch Wasser und Geist.

Persönlich oder als Volk?

Hier liegt ein Stolperstein im Verständnis vieler Aussagen: Wann meint die Bibel jemand persönlich und wann meint die Schrift eine grössere Gruppe?

Im Fall von Nikodemus ist es recht klar: Nikodemus ist «der Lehrer von Israel» und Jesus spricht ihn damit in seiner Funktion für das Volk an. Er hätte wissen sollen, wovon Jesus spricht. Nikodemus war nicht primär persönlich gemeint, sondern es gab eine Verheissung für sein Volk. Selbstverständlich sollte er, als Jude, auch persönlich daran teilhaben. Jesus spricht hier aber nicht zu Nikodemus, als ginge es nur um ihn, sondern er spricht über das Volk, wovon Nikodemus Teil ausmacht.

Jesus spricht mit Nikodemus also nicht über «persönliches Heil» oder «5 Ratschläge, wie man dem Höllenfeuer entrinnt», sondern über die Bedeutung alttestamentlicher Zusagen für Israel. Nikodemus sollte erkennen, dass es für das Volk Israel eine Zukunft gäbe, aber dieser Zukunft nach den Aussagen der Propheten eine geistliche Erneuerung benötigt. Natürlich betrifft dies dann auch ihn selbst, also individuell. Der Ursprung ist jedoch in der Verheissung für das leibliche Volk Israel, für die Juden.

Dies sollte man beachten: Im Gespräch mit Nikodemus zeigt Jesus auf, dass Nikodemus und das gesamte Volk «von oben geboren» werden muss, damit sie in das messianische Königreich hineingehen können. Natürlich betrifft das selbstredend auch den Individuen in dem Volk. Es wäre aber falsch, das Volk Israel aus dem Kontext einfach wegzudenken, wie das heute beim Erwähnen einer «Wiedergeburt» üblich ist.

Diese Verknüpfung zwischen Volk und Individuum ist einmalig für Israel. Zwar glauben die einzelnen Menschen, aber sie sind auch Teil einer Erwartung für das Volk. Das gehört zusammen. Wir können in den Evangelien das Individuum nicht loslösen aus dem Kontext, wie das heute bei der Rede über «Wiedergeburt» meist gemacht wird. Es geht hier um eine Erwartung für das gesamte Volk. Das ist der Ausgangspunkt.

Heute ist das anders. Heute haben wir eine Berufung durch Gottes Gnade. Sie ist nicht an einem bestimmten Volk oder Nation gebunden, sondern die heutige Gemeinde ist eine «herausgerufene Schar» (gr. ekklesia) aus allen Nationen. Das ist anders. Heute geht es tatsächlich darum, dass einzelne Menschen gerufen werden. Wenn sie glauben und die Worte der Gnade Gottes vertrauen (Eph 3,1-2), werden Sie Teil des Körpers Christi, diese heutige Gemeinde, von der ausschliesslich Paulus – als «Apostel der Nationen» – spricht. Das ist auch eine Zugehörigkeit, jedoch eine in umgekehrte Richtung:

  1. Wenn in den Evangelien etwas für Individuen gilt, entstammt das einer Verheissung für das Volk – von dem sie bereits Teil ausmachen. (Volk > Individuum)
  2. Wenn in den Briefen von Paulus etwas für Individuen gilt, dann werden diese Individuen in die Gemeinde aufgenommen. (Individuum > Gemeinde)

Die Entwirrung der Evangelien beginnt also da, wo wir erkennen, dass in den Evangelien zwar einzelne Menschen angesprochen werden, jedoch immer ein messianisches Ereignis am Horizont steht, woran das Volk Israel gesamthaft teilhaben sollte. In den Evangelien steht das Individuum in einer grösseren messianischen Verkündigung.

Die Wiederwerdung

«Dann nahm Petrus das Wort und sagte zu Ihm [Jesus]:
Siehe, wir haben alles verlassen und sind Dir gefolgt: Was wird wohl unser Teil sein?

Da entgegnete Jesus ihnen:
Wahrlich, Ich sage euch: Die ihr Mir gefolgt seid,
in der Wiederwerdung, wenn der Sohn des Menschen auf dem Thron Seiner Herrlichkeit sitzt,
werde tauch ihr auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.»
Mt 19,27-28

Diese «Wiederwerdung» oder «Wiederzeugung» (gr. palingenesia) ist die eigentliche Wiedergeburt. Die Elberfelder Übersetzung spricht so davon. Auch hier gilt, dass es nicht um eine Geburt geht, sondern um die Zeugung, die Abstammung, den Zusammenhang. Es ist ein Begriff, den Jesus jetzt auf den Anbruch des messianische Reich bezieht, wenn dieses Zeitalter von einem neuen Zeitalter abgelöst wird. Dann wird stattfinden, was die Propheten über Israel vorhergesagt hatten. Ein neues Israel wird in ein neues Zeitalter eingehen. Einige Kapitel später erwähnt Matthäus diesen «Thron der Herrlichkeit» in der Endzeitrede von Jesus (Mt 24 – Mt 25). Diese Rede betrifft den Übergang in das neue messianische Zeitalter.

«Wenn aber der Sohn des Menschen in Seiner Herrlichkeit kommt und alle heiligen Boten mit Ihm, dann wird Er auf dem Thron Seiner Herrlichkeit sitzen. Alle Nationen werden vor Ihm versammelt werden und Er wird sie [die Nationen] voneinander, sondern, so wie der Hirte die Schafe von den Ziegenböcken sondert.»
Mt 25,31-32

Zurück zum Zitat aus Kapitel 19. Den Jüngern versprach Jesus also, dass bei dieser Wiederwerdung, wenn er selbst auf dem Thron Seiner Herrlichkeit sitzen wird, die 12 Jünger nicht nur dabei sein sollten, sondern sie selbst auf 12 Thronen sitzen würden und die 12 Stämme Israels richten werden.

Die Änderung der Parameter

Es hat sich etwas geändert. Die Evangelien betreffen nicht unsere heutige Zeit. Was ist geschehen? Das Neue Testament ist kein Einheitsbrei. Was zu Israel gesagt wird, trifft nicht automatisch auf die Nicht-Israeliten zu. Die Rede von «Wiedergeburt» als Beschreibung einer Transformation erscheint jetzt wenig zutreffend. Die Evangelien sprechen von etwas anderem, als jetzt passiert.

Während Jesus (und die 12 Apostel) einen klaren Auftrag für Israel haben – zur Bestätigung der Verheissungen an Israel (Mt 15,24; Röm 15,8; Gal 2,7-9), warteten die Nationen auf die Vermittlung durch Israel. Zu jener Zeit mussten sich Nationen-Gläubige Israel angliedern, wollten Sie Teil dieser Verheissungen werden. Dann aber geschah nichts. Israel als Volk hat diesen Weg abgelehnt. Es gab nur eine Gemeinde in Jerusalem und verstreute Gläubigen unter Juden und Proselyten, wie beispielsweise in der jüdischen Gemeinde in Antiochien.

Erst wenn Paulus berufen wird und seinen Dienst antritt, ändern sich Dinge. Er wurde als einziger Apostel für die Nationen berufen. Missionsbefehl hin oder her – die Zwölf haben nie missioniert und Paulus macht etwas anders als «Völker zu Jünger machen, sie zu taufen und lehren Gebote zu halten», wie es in Mt 28,20 heisst. Mehr dazu im Beitrag «Mission oder Evangelisation – der Missionsbefehl geprüft».

Paulus also – bei ihm ändern sich Dinge. Hier kommen die Nationen auf ganz andere Art auf die Bühne. Die Propheten sahen Nationen als gesegnet durch Israel. Nun aber Israel einen anderen Weg ging, machte Paulus klar, dass es einen neuen Weg gab:

«Was folgt daraus? Was Israel sucht, das hat es nicht erlangt; aber die Auswahl hat es erlangt [die Gemeinde in Jerusalem, 12 Apostel und jüdische Gläubige]. Die Übrigen wurden verstockt, wie geschrieben steht: Gott gibt ihnen einen Geist der Betäubung, Augen, die nicht erblicken und Ohren, die nicht hören, bis auf den heutigen Tag (Jes 29,10; 5Mo 29,4).»
Röm 11,7-8

Damit ist für Israel jedoch nicht alles aus. Der Apostel erklärt im gleichen Kapitel:

«Denn wenn ihre jetzige Verwerfung der Welt Versöhnung ist, was wird ihre Wiederannahme sein, wenn nicht Leben aus den Toten?»
Röm 11,15

Und die Zusammenfassung aller Aussagen vom Römerbrief bis anhin:

«Denn Gott schliesst alle zusammen in Widerspenstigkeit ein, damit Er Sich aller erbarme.»
Röm 11,32

Während es für Israel momentan nicht anders ist als bei allen anderen Nationen, wird Gott einmal für das Volk wieder eine Zukunft bereitstellen. In der heutigen Zeit sind alle Nationen gleich und Gott beruft nicht aufgrund von Zugehörigkeit, sondern Er beruft durch Seine Gnade. Der Apostel, der mit diesem speziellen Auftrag betreut wurde, war Paulus (Röm 11,13; Gal 2,7-9; Eph 1,1-10 u.a.).

Paulus ist der Einzige, der vom «Körper Christi» spricht. Das «Königreich» ist kein Thema mehr. Das messianische Königreich hat in der heutigen Verkündigung keinen Platz. Seine Verkündigung gipfelt darin, dass Jude und Heide nun beide durch einen Geist Zutritt zum Vater haben (Eph 2,13-18). Jude und Heide sind in gleiche Position vor Gott. Das ist ein Merkmal dieser heutigen Zeit.

Wiedergeburt oder Neuschöpfung?

Es geht deshalb nicht mehr um Wiedergeburt für das messianische Reich. Auch steht die Wiederwerdung nicht vor uns, wie Jesus das seinen Jüngern vor Augen stellte. Bestimmt kommt das noch einmal, aber heute ist es anders. Heute ruft Paulus durch Gnade den Körper Christi aus, worin Gläubige aus allen Nationen vereint sind. Es gibt heute keine Mittlerrolle vom Volk Israel für die anderen Nationen. Das war die Erwartung von den Propheten her, die sich jedoch nicht erfüllt hat. Wie ging es weiter? Es geschah etwas Neues. Dieses Neue lag in der Berufung vom Apostel Paulus. Durch Paulus geht es nun direkt zu den Nationen – ganz ohne Vermittlerrolle von Israel. Das war umwerfend neu.

«Mithin bin ich, Paulus, der Gebundene Christi Jesu für euch, die aus den Nationen – wenn ihr nämlich von der Verwaltung der Gnade Gottes gehört habt, die mir für euch gegeben ist.»
Eph 3,1-2

Diese Gnade Gottes ist die Grundlage. Er versöhnt uns mit Sich selbst. Nun können wir uns versöhnen lassen. Lassen wir uns versöhnen, dann geschieht Wunderbares. Auch dann geschieht Transformation. Der Apostel beschreibt es wie folgt:

«Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist da eine neue Schöpfung: Das Ehemalige verging, siehe, es ist neu geworden.

Das alles aber ist aus Gott, der uns durch Christus mit Sich Selbst versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat. Denn Gott war in Christus, die Welt mit Sich Selbst versöhnend: Er rechnet ihnen ihre Kränkungen nicht an und hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt.

Daher sind wir Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns zuspräche. Wir flehen für Christus: Lasst euch mit Gott versöhnen! Denn den, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit in Ihm würden.»
2Kor 5,17-21

Keine Neugeburt, sondern Neuschöpfung. Paulus hat im Neuen Testament den weitesten Weitblick. Das gilt sowohl für die Zukunft als auch für die Breite des Evangeliums. Er ändert das ehemalige Evangelium vom Königreich nicht einfach etwas ab, sondern introduziert ganz neue Dinge. Dafür braucht es auch neue Wörter. Das Wort «Wiedergeburt» oder «von oben geboren» hat vorerst ausgedient. Der Kontext ist heute nicht gegeben. Dafür gibt es ein neues Wort: «Neuschöpfung». Das lässt sich nicht nur gut begründen, sondern klärt im Kontext hervorragend, worum es geht.

Das Bad der Wiedergeburt

Es gibt noch eine Stelle, worüber wir reden müssen. Sie liest sich im Brief von Paulus an Titus und lautet wie folgt:

«Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, hat Er uns nicht aufgrund von Werken (die wir in Gerechtigkeit tun), sondern nach Seiner Barmherzigkeit gerettet durch das Bad der Wiederwerdung und Erneuerung des heiligen Geistes, den Er reichlich auf uns ausgiesst durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir, gerechtfertigt in derselben Gnade, Losteilinhaber würden, gemäss der Erwartung äonischen Lebens.»
Tit 3,4-7

Hier steht dasselbe Wort für Wiederwerdung wie in Matthäus 19. Hat man bis hierhin sorgfältig mitgelesen, dürfte der Zusammenhang recht klar sein. Hier wird von Paulus ein Wort genutzt, das von Jesus in den Evangelien in einem ganz bestimmten Kontext gebraucht wurde. Im Kontext der Evangelien ist die Wiederwerdung ein Ausdruck für das messianische Königreich. So verwendet es Jesus. Bei Paulus geht es nicht um das Königreich, sondern um etwas, das geistlich geschieht. Es ist eine Bildsprache, aber auf andere Art als in den Evangelien. Es ist also nicht so, dass «nun doch die Wiedergeburt für uns gilt», wie ich es manchmal gehört habe.

Gerade zuvor hat Paulus im Hinblick auf die Gemeinde bildhaft gesprochen, dass Gott für sich «ein Volk zu reinigen» wollte (Tit 2,14). Eine starke, bildhafte Sprache, die nicht auf eine menschliche Abstammung beruht. Es ist Gottes Werk, bewirkt durch Seine Gnade (Tit 2,11). Wenn der Apostel einige Verse weiter davon spricht, dass Menschen durch das «Bad der Wiederwerdung und Erneuerung des heiligen Geistes» zur Rettung kamen, war das weder ein Verweis auf eine buchstäbliche Wassertaufe, noch auf eine «magische Geisteszuteilung». Bad der Wiederwerdung und Erneuerung des heiligen Geistes bedingen sich gegenseitig. Das eine erklärt das andere. Es ist eine Aussage in zwei Teilen. Es geht um eine geistliche Erneuerung. Dies begründet die Reinigung vom Volk. Die Menschen sind anders geworden. Es ist eine Erfahrung im Hier und Jetzt. Dagegen war die Wiederwerdung für Jesus ein messianisches Ereignis in der Zukunft.

Mit Titus 3,5 lässt sich keine Wiedergeburt begründen, wie sie heute oft gelehrt wird. Heute ist eine spezielle Zeit, von der die Propheten nichts wussten, und von der auch Jesus in den Evangelien nicht berichtet hat. Erst später macht es Paulus durch Enthüllung von Geheimnissen bekannt. Es war neu. Es gab sogar neue Wörter, die nur bei Paulus gefunden werden, ebenso wie es andere Begriffe nur in den Evangelien gibt.

  • Wiedergeburt (von oben geboren werden) gehört typisch zur Erwartung Israels. Messianisches Ereignis.
  • Neuschöpfung (in Christus) gehört typisch zur heutigen Zeit und dem Evangelium des Paulus. Persönliches Ereignis.