Die Bibel kann wertvollen Input für den Alltag geben. Menschen, von Gottes Geist getragen, haben aufgeschrieben, was Ihnen anvertraut war, was sie empfunden, was sie erlebt haben. In den Psalmen gibt es diese einmalige Mischung aus persönlichen Erlebnissen in dieser Welt und Zuversicht des Glaubens.

O Glück des Mannes

Der erste Psalm hat einen bemerkenswerten Realitätsbezug, woraus man auch heute noch viel Wertvolles entnehmen kann.

O Glück des Mannes,
der nicht ging im Rat der Frevler,
den Weg der Sünder nicht beschritt,
am Sitz der Dreisten nicht sass, |
sondern Lust hat an SEINER Weisung,
über seiner Weisung murmelt tages und nachts! |
Der wird sein
wie ein Baum, an Wassergräben verpflanzt,
der zu seiner Zeit gibt seine Frucht
und sein Laub welkt nicht
was alles er tut, es gelingt. |
Nicht so sind die Frevler,
sondern wie Spreu, die ein Wind verweht. |
Darum bestehen Frevler nicht im Gericht,
Sünder in der Gemeinde der Bewährten. |
Denn ER kennt den Weg der Bewährten,
aber der Weg der Frevler verliert sich. |

Psalm 1, in der Verdeutschung von Martin Buber und Franz Rosenzweig.

Wir kommen zu diesem Psalm, aber nicht sofort. Zuerst skizziere ich einen Hintergrund auf Basis Entwicklungen in unserer Gesellschaft.

Von der Gleichberechtigung zur «Gleichheit»?

Darf ein Mann glücklich sein? Das ist heute etwas provokativ gefragt. Selbstverständlich gibt es viele, die das sofort bejahen. Andere lehnen das jedoch vehement ab, weil «dem Mann» ein Stigma anhängt. In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel für eine Gleichberechtigung von Mann und Frau getan. Das ist ein wichtiges Anliegen. Ich unterstütze das. Allerdings wurde bei dieser Entwicklung vielleicht auch eine Fehlentwicklung eingeleitet.

Bei diesen Fragen geht es nicht nur um das persönliche Wohlbefinden («Fühle ich mich als Mann oder Frau wohl in meiner Männlichkeit oder Weiblichkeit?»), sondern ebenfalls um gesellschaftliche Relevanz. Man denke an soziale Rollen in der Gesellschaft, an Erwartungen und Anforderungen nur auf Basis des Geschlechts. Nicht zuletzt geht es auch um Rechtssprechung (etwa bei Scheidungen). Hier meine Beobachtung: Es gibt massive Nachteile für Männer, die konsequent ausgeblendet werden. Dies zu erwähnen, soll nicht etwa die Gleichberechtigung der Frau aushebeln. Vielmehr soll man sich bewusst werden, dass unser Menschsein etwas komplexer ist und es mit einer Gleichberechtigung der Frau allein nicht getan ist. Das gilt vor allem dann, wenn durch diese Anstrengungen wieder neue Ungleichgewichte provoziert werden, diesmal deutlich zu zuungunsten des Mannes.

Die Gleichberechtigung der Frau ist nötig und gut so. Die Einseitigkeit der Betrachtung ist jedoch problematisch. Wenn bei dieser Gleichberechtigung der Frau gleichzeitig Männer oder Männlichkeit dämonisiert werden, wie das stellenweise geschieht, dann gibt das ein handfestes Problem. Das versetzt viele Menschen in Not, Männer wie Frauen. Dazu gibt es heute massenhaft Videos auf YouTube, es werden Texte dazu geschrieben, sogar wissenschaftliche Studien erstellt. Diese Dämonisierung ist ein Problem, nicht die Gleichberechtigung. Vielmehr scheint es so, als hat man mit dem Badewasser auch das Kind ausgeschüttet. Gleich mehr dazu, denn ich möchte einen Hintergrund skizzieren, gegen welchen dieser erste Psalm vielleicht wertvolle Anregungen geben kann.

Gleichberechtigung will so viel heissen wie «gleiche Rechte in der Gesellschaft für Mann und Frau». Es gibt mancherorts jedoch einen ideologischen Unterbau zu diesem Satz, der besagt, dass Mann und Frau «gleich» sind. Von «gleichberechtigt in der Gesellschaft» kommt man zu «Mann und Frau sind gleich». Das ist nicht dasselbe. Dort jedoch greifen ideologische Ansätze.

Wenn Männlichkeit und Weiblichkeit aneinander angeglichen werden müssen, wenn Männer weiblicher und Frauen männlicher werden sollten, wie steht es dann um die eigene Identität? Wollen Männer weiblicher werden? Oder möchte man bloss eine toxische Männlichkeit abschaffen? Ebenso sollte man Frauen fragen, ob sie männlicher werden möchten? Und welche Verantwortung käme damit auf Frauen zu? Gibt es nur Rechte, oder vielleicht auch Pflichte?

Wenn Männer weiblicher und Frauen männlicher werden sollten, wie steht es dann um die eigene Identität?

Männlichkeit steht unter Beschuss. Einerseits ist sie verpönt, andererseits erwünscht. Beides findet gleichzeitig statt. Wie soll man als Mann damit umgehen? Diese Diskrepanz kann zu einem spürbaren Konflikt zwischen Denken und Fühlen werden. Wie soll ein Mann noch Mann sein? Männlichkeit scheitert an der Aufforderung, weiblicher zu werden. Radikaler Feminismus scheitert an der Biologie der Frau. Männlichkeit und Weiblichkeit sind Merkmale, die wir alle mit uns tragen. Sie prägen uns seit Geburt und sind mit kultureller oder sozialer Prägung allein nicht ausreichend zu erklären.

Die ganze Gender-Debatte entstand dadurch, dass das Geschlecht von der Biologie losgelöst und als soziale Prägung verstanden wurde. Damit ging einher, dass Mann und Frau bloss noch als «soziales Konstrukt» verstanden werden. Es ist die Verneinung eines biologischen Geschlechts, zugunsten einer fluiden Prägung. Wenn der Wunsch nach Gleichberechtigung dazu führt, dass Männlichkeit und Weiblichkeit ausgeblendet werden, entstehen neue Herausforderungen. Darüber reden wir hier, im Wissen, dass es mehrere Ansichten gibt und das letzte Wort vielleicht bislang nicht gesprochen wurde.

Mein Anliegen ist es, ein Thema mit Relevanz zu erwähnen, damit wir unser Christsein und unser Menschsein in der heutigen Zeit evaluieren können. Es geht darum, eine Differenzierung zu ermöglichen und für die Aussagen der Bibel eine Relevanz zu erkennen, die auch heute weiter hilft. Wir leben in einer komplexen Welt, worin viele Dinge nicht mehr selbstverständlich sind. Darüber nachdenken zu können, ist ein Vorrecht.

Männlichkeit und Weiblichkeit

Was heute in verschiedensten Texten und Videos vermehrt Beachtung findet, sind die Begriffe Männlichkeit und Weiblichkeit. Da geht es also nicht um Patriarchat oder Matriarchat, es geht nicht um traditionelle Rollenbilder oder um den Erhalt «traditioneller Werte». Vielmehr geht es um eine Identitätsfrage. Es geht um die Frage, was ein Mann auszeichnet, ob die Männlichkeit eines Mannes, ebenso wie die Weiblichkeit der Frau, als attraktive und benötigte Stärken geschätzt werden dürfen.

Nach der Gleichberechtigungswelle auf der gesellschaftlichen Ebene steht heute vermehrt diese persönliche Ebene im Fokus. Dabei hinterfragt man nicht gesellschaftliche Gleichberechtigung, aber kritisiert, dass die geforderte Gleichberechtigung auch eine Nivellierung der Unterschiede zwischen Mann und Frau herbeigeführt hat. Dies sei nicht nur eine Fehlentwicklung, sondern eine «neue Männlichkeit» prägt die Gesellschaft negativ – nicht zuletzt für die Frauen. Unzählige YouTube-Videos sprechen davon. Einige markante Kanäle sind etwa:

Das hier ist ein Phänomen unserer Zeit. Was hat das hier bei einer Psalm-Auslegung zu suchen? Nun, wir leben heute. Will ich heute glauben, muss sich mein Glaube heute bewähren. Das heisst ebenfalls, dass ich meine Gedanken sowie die aktuellen Herausforderungen im Licht der Schrift evaluieren kann. Vielleicht zeigt sich, dass ich dadurch eine differenziertere Haltung einnehmen kann.

Die Auseinandersetzung suchen

Es geht heute um mehr als um die Gleichberechtigung. Es geht auch um eine Identitätsfrage, die für eine gesunde Gesellschaft dazu gehört. Diese Identitätsfrage benötigt eine Auseinandersetzung. Viele Männer wollen gerne maskulin sein und viele Frauen möchten gerne feminin sein. Das sind Aspekte einer Identität, die sich auf jeden Lebensbereich und auf unsere Gemeinschaften (Familie, Kirche, Gemeinde, Gesellschaft) auswirken.

Verlässt man die vermeintliche Sicherheit traditioneller Rollenbilder, entsteht ein Vakuum. Man wird gezwungen, die eigene Identität zu entdecken, um das Vakuum auszufüllen. Das ist kein Rückzug in die Vergangenheit, sondern eine Herausforderung der aktuellen Zeit. Es ist der Versuch, vorauszudenken, von hier aus den nächsten Schritt besser zu machen, sich entsprechende Werkzeuge, Denkmuster und Lebenshaltungen anzueignen, die weiterhelfen. Die Identitätsfindung ist wichtig für uns selbst, für unsere Familien, für unsere Gemeinschaften und für unsere Gesellschaft.

In der Gleichberechtigungsidee gibt es ein Feindbild. Das Feindbild ist der Mann, manchmal pauschal als «Patriarchat» bezeichnet. Dies ist das vermeintlich «Böse». Der Gedanke wird dann auf den Begriff «Männlichkeit» projiziert. Damit grenzen sich Progressive von den Konservativen ab. Beide bewegen sich jedoch am äussersten Rand eines breiteren Spektrums. An den Rändern des Spektrums sieht man womöglich das Zentrum nicht mehr klar.

Die Identitätsfrage ist eine Frage aus dem Zentrum. Sie hat nicht nur mit unserem Menschsein zu tun, sondern berührt selbstverständlich auch unser Christsein und unsere Gesellschaft. Über Identitätsfragen nachzudenken ist durch Ideologie nicht zu lösen, sei die Ideologie «christlich», «woke», «progressiv» oder wie immer geprägt.

Die Herausforderungen nicht aus dem Weg zu gehen, ist eine männliche Stärke. Sich auseinanderzusetzen ist gut. Sich mit Identitätsfragen auseinanderzusetzen, schliesst die eigene Männlichkeit und Weiblichkeit mit ein. Eine solche Auseinandersetzung prägt nicht nur ein gesundes Menschsein, sondern prägt ebenso ein gesundes Christsein, das nicht durch Ideologien geführt, sondern in Gnade und konkreter Liebe gegründet ist. Wer geliebt ist, kann die eigene Identität ausleben. Wer sich von Gott geliebt weiss, erhält eine unerschütterliche Grundlage, worauf sich bauen lässt, auch wenn man in seinem aktuellen Umfeld verunsichert ist, wie man sein und werden sollte.

Es gibt eine falsche Frömmigkeit, die sich in «lieb sein» und «Unterwürfigkeit» äussern kann. Auch das ist Unsicherheit. Das ist genauso toxisch wie eine patriarchal-geprägte Überheblichkeit. Sich von Gottes Liebe und Gnade jedoch getragen zu wissen, kann das Menschsein und Christsein auf eine gesunde Grundlage setzen, die keine Herausforderung im aktuellen Leben scheut. Eine gesunde Gemeinschaft oder Glaubensgemeinschaft fördert eine gesunde Sicht auf diese Welt und gibt sich mit Ideologien nicht zufrieden.

Der glückliche Mann

Gut, dass die Bibelschreiber von den heutigen Herausforderungen nichts wussten. Einige lehnen heute die Bibel als schriftliches Zeugnis einer patriarchalen Struktur ab. Das greift jedoch zu kurz. Hinter jedem Baum einen Dämon und in jedem alten Text ein Patriarchat zu sehen, verkennt die Realität des Lebens und des Glaubens. So ganz anders geht es in den Psalmen zu. Hier geht es um Lebensweisheit und Glaubensweisheit und ganz bestimmt nicht um ein Patriarchat. Es beschreibt jedoch die Erfahrung eines Mannes. Was können wir daraus lernen?

«Glücklich der Mann,
der nicht folgt dem Rat der Gottlosen,
den Weg der Sünder nicht betritt
und nicht im Kreis der Spötter sitzt,
sondern seine Lust hat am Gesetz des HERRN
und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht!»
Psalm 1,1-2

Diese Wörter werden aus Erfahrung gesprochen. Wer Gottlose, Sünder und Spötter meidet, stattdessen seine Tage und Nächte mit guten Dingen (im Text: Die Thora, die Weisung von Mose) füllt, wird glücklich sein. Es ist eine grosse Nüchternheit in diesen Worten. Es beschreibt im Rückblick, wie dieser Mann sich immer wieder für das Gute entschieden hat. Das ist positive Männlichkeit. Eine Lebenshaltung wird hier auf den Punkt gebracht, nicht als Absicht, sondern als erlebte Wirklichkeit, als wertvolle Erfahrung.

«Er ist wie ein Baum,
gepflanzt an Wasserbächen,
der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,
und dessen Laub nicht verwelkt;
alles, was er tut, gelingt.»
Psalm 1,3

Der Psalmenschreiber erklärt in einer Bildsprache, wie es funktioniert. Jemand, der sich auf Gutes fokussiert ist, der ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen. Im Hebräischen steht hier nicht «pflanzen», sondern «verpflanzen» und nicht «Wasserbäche», sondern «Wassergräben» (siehe dazu auch die Übersetzung von Martin Buber zu Anfang dieses Beitrages). Die Idee ist hier, dass es ein bewusster Entscheid ist, sich selbst – in übertragenem Sinne – direkt ans Wasser zu verpflanzen, nämlich dort, wo man bewusst Wasser hinleiten will. Dort kann man sicher sein, stets frisches Wasser zu erhalten. Das tut gut und erlaubt Wachstum.

Ein Mann, der dies tut, ist «wie ein Baum, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit». Es ist ein bemerkenswerter Vergleich. Ein Baum denkt nicht darüber nach, Früchte hervorzubringen. Es benötigt keine bewusste Anstrengung dazu. Es ist der natürliche Vorgang, wenn ein Baum am Wasser gepflanzt ist. Mit anderen Worten: Schaffen wir die Voraussetzung dazu, ein gesundes Wachstum zu ermöglichen, dann werden wir eines Tages ernten. Das ist die normale Entwicklung.

Wenn Paulus im Neuen Testament vom «Frucht des Geistes» spricht (Gal 5,22-23), ist das ebenfalls das Resultat vieler bewusster Entscheidungen. Es ist das, was wächst, wenn wir den wichtigen Dingen – wenn wir «Geist» – Raum geben. Es ist die Frucht des Geistes.

«Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Gutheit, Treue, Sanftmut, Selbstzucht.»
Gal 5,22-23

Es gibt nur eine einzige Frucht, die sich aber in dieser Liste mit neun Merkmale umschreiben lässt. Diese Dinge kommen alle gemeinsam. Es ist eine einzige Frucht. Sie wächst, wenn wir darauf achten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Im Psalm heisst es anschliessend:

«Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen,
der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,
und dessen Laub nicht verwelkt; alles, was er tut, gelingt.»

Psalm 1,3

Leben und Überfluss sind das Resultat. Das ist das Glück des Mannes. Nicht im Sinne eines Wohlstandevangeliums, das bloss auf Konsum und materielle Güter fokussiert ist, sondern als ein gesundes Gedeihen der Lebensaufgaben. Wer so lebt, erfüllt nicht bloss sein Menschsein, sondern auch seinen Glauben.

Von dort aus geht es weiter. Wer sich eine gute und positive Grundlage erarbeitet hat, davon die Früchte pflückt, kann zu einer tragenden Kraft in seiner Gemeinschaft werden. Eine positive Männlichkeit sucht das Wohl der Anderen, ohne sich selbst auszublenden.

Vertiefung

Beiträge auf Englisch oder Deutsch

Anregung

  • Ist es wichtig, in Deiner Familie oder Glaubensgemeinschaft über gesellschaftliche Themen zu sprechen? Warum (nicht)?
  • Siehst Du Dich selbst als eher konservativ oder als progressiv? Was ist Dir darin wichtig?
  • Fühlst Du Dich sicherer mit traditionellen Rollenbildern und weshalb ist das so?
  • Erkennst Du eine Unsicherheit bezüglich Erwartungen für Männer oder Frauen in der Gesellschaft?
  • Kannst Du Dich an eine erlebte Situation erinnern, die ähnliches beschreibt, wie hier oben skizziert wurde?
  • Wie fühlst Du Dich als Mann oder Frau in Deiner Haut? Was soll geändert werden?
  • Definiere «Männlichkeit» und «Weiblichkeit». Diskutiere.
  • Lese und diskutiere Psalm 1. Was will der Psalmenschreiber vermitteln?
  • Wie «perfekt» musst Du sein, um Dich von anderen angenommen zu fühlen?