Wer die Bibel liest, der interpretiert. Das ist nicht anders möglich. Du, lieber Leser, interpretierst die Bibel und ich interpretiere sie ebenso. Was wir denken und glauben, ist das Resultat einer Interpretation.

Interpretieren

  • Ich interpretiere
  • Du interpretierst
  • Er/Sie interpretiert
  • Wir interpretieren
  • Ihr interpretiert
  • Sie interpretieren

Keine absolute Wahrheit

Warum ist es wichtig, über Interpretation zu reden? Weil es viele Christen gibt, die vorgeben «die Wahrheit» gepachtet zu haben. Das ist ein Problem, nicht nur für die Menschen selbst, sondern auch für die Gemeinschaften, worin sie stehen. Ein Problem entsteht dann, wenn in absoluten Gegensätzen (schwarz und weiss) gedacht wird. «Wahrheit gegenüber Irrtum», «wahr gegenüber falsch», «Glaube gegenüber Unglaube», «Bibel gegenüber Wissenschaft» und dergleichen mehr. Erkennt man das, kann man den Kreis noch etwas grösser ziehen. Denn, wenn Jesus «die Wahrheit» ist (dazu gibt es doch eine Bibelstelle?), dann sind alle andere Menschen also «Unwahr»? Oder müsste man das eher so sehen, dass einige «gerettet» und andere «auf ewig verloren» sind? Das christliche Selbstverständnis kann (sie ist es nicht überall) von einer Abgrenzung gegenüber allen anderen Menschen bestehen. Man kann sich als Christ als «erleuchtet» sehen, während alle andere Menschen «im Dunkeln» tappen.

(Warum wird über das Letzte wenig und selten kritisch gesprochen?)

Solches zu sagen löst vielleicht sofortigen Gegenwehr aus, weil manche hier herauslesen, dass es meiner Meinung nach «keine Wahrheit gäbe». Das habe ich jedoch weder gesagt noch gedacht. Vielmehr denke ich, dass wir interpretieren und unsere Interpretationen sind per definitionem unvollständig und unvollkommen. Während die Interpretation bruchteilhaft ist, berührt das keine Wahrheit, denn die beiden sind unterschiedlich.

Wie man sich als Christ jedoch versteht und wie man sein Wahrheitsverständnis prägt, ist nicht in Stein gemeisselt. Es sind Interpretationen, die es sich lohnt, mit etwas Lockerheit immer neu zu überlegen.

Es ist die uneigentliche Verschmelzung von Interpretation und Wahrheitsbegriff, die zu sektiererischen Auswirkungen und krampfhafter Abwehr führt. Wenn wir die Verschmelzung von Interpretation und Wahrheit loslassen, gefährdet das weder die Interpretation noch den Wahrheitsbegriff. Vielmehr können diese beiden Dinge nun getrennt betrachtet werden.

Es ist die uneigentliche Verschmelzung von Interpretation und Wahrheitsbegriff, die zu sektiererischen Auswirkungen und krampfhafter Abwehr führt.

Wer interpretiert, versucht, etwas zu verstehen. Das kann persönlich sein, aber auch im Rahmen einer Theologie stattfinden. Eine Interpretation hat Bedeutung für Kirche, Gemeinde, für das Glaubensverständnis allgemein, für die Sicht auf diese Welt und viele Dinge mehr. Persönliche Ideen sind nicht falsch, nur weil sie persönlich sind. Unsere Interpretation ist lediglich das, was wir als Menschen machen können und tun sollten – und dadurch ist das vollkommen unvollkommen. Gleichzeitig sind Interpretationen unumgänglich, wenn wir in dieser Welt leben wollen.

Wer mit offenen Augen in der Welt unterwegs ist, beschreibt Dinge, die er unterwegs sieht. Nur wer ständig mit einer Ferienbroschüre vom Reiseziel vor Augen läuft, übersieht die aktuelle Landschaft. Die Bibel ist keine Ferienbroschüre vom Reiseziel allein, sondern sie schenkt uns in dieser Welt ein Zeugnis mit Ausblick. Wer auf dem Wanderweg nicht stolpern will, muss lernen, immer wieder dort hinzuschauen, wo man die Füsse setzt. Wer so läuft, interpretiert den Weg. Interpretation ist unerlässlich.

Im Rahmen der Theologie ist Dogmatik der Versuch, die Bedeutung (etwa von Themen der Bibel) herauszuschälen und zusammenzufassen. Dogmatik ist Interpretation. Damit ist die Dogmatik nicht fehlerhaft, sondern nur menschlich. Sie ist wichtig, aber auch suchend, verwerfend, annehmend, gestaltend. Dogmatik ist dem Wesen nach, und in bestem Sinne, Ausdruck einer Lernkultur.

Dogmatik ist dem Wesen nach, und in bestem Sinne, Ausdruck einer Lernkultur.

Problematisch werden Interpretation und wird Dogmatik dann, wenn sie mit dem Verständnis der Wahrheit verschmilzt. Dann nämlich wird Dogmatik zur Wahrheit erhoben und die Wahrheit selbst wird auf die Interpretation begrenzt.

Viele Kirchen und Gemeinschaften haben eine ausgeprägte Dogmatik oder zumindest ein Wahrheitsverständnis. Damit wird gemeint, dass sie Interpretationen haben. Verschmelzen diese mit den Wahrheitsvorstellungen, dann werden die Glaubensvorstellungen rigide und lassen sich nicht mehr prüfen. In diesem Fall werden Dogmatik (Interpretation) und Wahrheit munter verwechselt und es kommt zu Entgleisungen.

Beispiel: Eine Aussage wie «Wenn du nicht an der Dreieinigkeit glaubst, bist du kein richtiger Christ», ist eine dogmatische Behauptung, als «Wahrheit» getarnt. Hier werden Dogmatik («Dreieinigkeit») mit einer neutralen Wahrheit verwechselt. Die Bibel soll zwar in der Regel eine verbindliche Quelle der Wahrheit darstellen, aber gerade darin fehlt jeden Hinweis auf eine Dreieinigkeit. Als Resultat wird in der genannten Aussage das Dogma zur Wahrheit erhoben. Deshalb geht es nicht um die Wahrheit, sondern um das Dogma, um die Interpretation, die als Wahrheit durchgesetzt wird. Warum geht es also? Es geht um Macht. Die Frage zur Wahrheit geht in einem selbstgerechten Machtanspruch unter.

Auch hier, auf dieser Website, bemühe ich mich um Interpretation. Die ist selbstverständlich unvollkommen. Man gewinnt viel Freiheit im Denken, wenn man Interpretation und Wahrheit trennt. Darin ist auch Nüchternheit enthalten, weil man die eigenen Schlussfolgerungen (und die anderer Menschen) nicht als absolute Wahrheit hinstellt.

Eine lebendige Interpretation führt zu einer Lernkultur

Trennt man im Verständnis die Interpretation vom Wahrheitsbegriff, kann man Spielraum gewinnen. Dieser Spielraum ist eine ernste Sache. Es geht darum, denken zu dürfen, prüfen zu können und nicht nur innerhalb bekannter Pfade laufen zu dürfen. Wer sich der Mangelhaftigkeit eigener Gedanken bewusst ist, kann sich neugierig und lernend auseinandersetzen. Eine Lernkultur bedarf solcher Freiheit. Im Rahmen einer christlichen Lernkultur geht es um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glaubensgut, den verinnerlichten Vorstellungen, ebenso wie um die Auseinandersetzung mit der Bibel und in lebendiger Konsequenz auch um die Auseinandersetzung mit der Welt, worin wir leben.

Eine Lernkultur ist nicht gefährlich. Wenn ich das so sage, dann denke ich an vielen Gesprächen, worin Menschen eine direkte Angst vor einer offenen Lernkultur ausgesprochen haben. Es sind dieselben Menschen, die gerne eine «absolut verbindliche Wahrheit» für sich in Anspruch nehmen, weil diese das Leben vereinfacht. Ich verstehe den Wunsch zur Vereinfachung. Die Welt ist jedoch komplex. Es bedarf deshalb auch Menschen, die sich neugierig der Komplexität zuwenden. Das gilt in Glaubensfragen ebenso wie bei allen anderen Fragen. Eine Lernkultur ist mutig und nötig, auch wenn nicht jeder mitmacht.

Mut zur Interpretation ist wichtig, ebenso wie das Abwägen jeder Schlussfolgerung. Wer abwägt, der interpretiert erneut. In einer guten Kommunikation kann man versuchen, die Ausgangspositionen zu skizzieren und dabei zu erwähnen, aus welchen Gründen man zu dieser oder jener Ansicht kommt.

  • Habe ich eine feststehende Lehrmeinung (was bedeutet das?)?
  • Möchte ich die Bibel in meinen Überlegungen einbeziehen? (Wie?)
  • Welche (sprachliche/archäologische/logische/usw.) Argumente nutze ich?
  • Verstehe ich die Argumente, welche mein Gegenüber im Gespräch benutzt?
  • Kommuniziere ich meine Grundlagen und Voraussetzungen meinem Gegenüber?

Menschen tendieren dazu, ihrer Ansicht sicherer zu sein, desto weniger sie wissen (Dunning-Kruger-Effekt). Eine differenzierte Sicht wird sich deshalb kaum als «die Wahrheit» präsentieren, sondern eher dazu einladen, weiter darüber nachzudenken.

Dogmatik, Dogmen, Glaubensvorstellungen und «die Wahrheit»

Mann kann nicht immer für alles offen sein, denn wir können nicht alle Lebens- und Glaubensfragen jeden Tag von Neuem stellen. Logischerweise bauen wir unser Verständnis der Welt in vielen kleinen Einzelschritten. Diese Einzelschritte sind das Beste, was wir gerade erkennen. Es sind so etwas wie Arbeitshypothesen, die wir im Alltag erproben. Das gilt, meine ich, auch für Glaubenserkenntnisse.

Dogmatik, Dogmen und Glaubensvorstellungen sind hilfreich auf unserem Weg, führen unsere Gedanken in bestimmte Richtungen, helfen uns Dinge zu erkennen. Ist es aber «die Wahrheit» oder doch eher eine «menschliche Interpretation»? Das klar zu unterscheiden ist eine gesunde Fähigkeit. Was ich mit dieser Website und diesen Beiträgen vor Augen habe, ist eine offene Lernkultur. Natürlich präge ich diese Texte mit meinen Interpretationen. Ich knüpfe ganz bewusst bei evangelikalen Vorstellungen an. Das mache ich aus drei Gründen:

  1. erstens, weil ich diese gut kenne und
  2. zweitens, weil es vielen Menschen beschäftigt und
  3. drittens, weil Brückenbauer nötig sind.

Ich möchte als Brückenbauer dazu ermutigen, sich selbst auf den Weg zu machen, eigene Interpretationen zu machen, selbst die Bibel zu lesen, neu über verinnerlichten Glaubenssätzen nachzudenken. Denn damit erfüllen wir nicht nur unser Menschsein, sondern ebenfalls unser Christsein, unseren Glauben.

Paulus ruft zu einer Differenzierung auf, wenn er den Philippern schreibt:

«Und dafür bete ich,
dass eure Liebe noch mehr und mehr in Erkenntnis und allem Feingefühl dazu überfliesse,
dass ihr prüft, was wesentlich ist,
damit ihr auf den Tag Christ aufrichtig und unanstössig seid,
erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit,
die durch Jesus Christus ist, zur Verherrlichung und zum Lobpreis Gottes.»

Phil 1,9-11

Paulus beschreibt einen Prozess sowie Beweggründe und Merkmale einer differenzierten Auseinandersetzung. Dem dürfen wir Raum geben. Erklären wir unsere Sicht jedoch als «die Wahrheit», dann bezeugen wir, dass wir noch unbekannte Landschaften entdecken dürfen, die in unserer Ferienbroschüre gefehlt haben.

Gespräch

  • «Jede Glaubensvorstellung ist eine Arbeitshypothese.» Diskutiere.
  • Nenne 5 Dinge, worauf Dein Glauben basiert (nicht: woraus Dein Glaube besteht!). Diskutiere.
  • Lege dieselbe Liste (hier oben) einem Nichtgläubigen vor. Höre, was er sagt. Ist etwas dran?
  • Woraus besteht der Wert der Bibel für Dich? Beschreibe in zwei Sätzen.
  • Was willst Du als Nächstes interpretieren?