Ist das Wort «bibeltreu» wichtig in Deiner Gemeinschaft? Dann hast Du eine bestimmte Prägung erhalten. Diese Prägung entspringt einer Begriffsverwirrung, denn der Ausdruck hat mit der Bibel oder mit dem, was die Menschen in der Bibel beschreiben, wenig zu tun. Versuchen wir den Knoten etwas zu entwirren, um dadurch zu einem differenzierterem Verständnis zu gelangen.

Bibelverständnis

Das Wort «bibeltreu» gibt es in der Bibel nicht. Wir sprechen damit also nicht von einem «biblischen Tatbestand», sondern von einer Interpretation. Es ist eine Sichtweise, die sich durch diesen Begriff ausdrückt. Wer sich etwas länger in solchen – meist evangelikalen – Kreisen aufhält, merkt vielleicht, dass dieser Begriff nicht etwa auf die Bibel begrenzt ist. Vielmehr geht es um bestimmte Vorstellungen. Man betrachtet die Welt, den Glauben, Gott, die anderen Menschen auf eine bestimmte Art. Man meint, dass die Bibel diese Art so lehrt. Es geht um eine bestimmte Glaubenskultur. Übernimmt man diese Sichtweise, kann man sich das Prädikat «bibeltreu» aufkleben und man gehört dazu. Was heisst: Man gehört zu dieser einen Subkultur, die eine bestimmte Sicht anhängt, die man als «bibeltreu» deklariert.

Diese Sichtweise ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Das grösste Problem ist wohl dieses, dass die Bibel selbst nicht von «bibeltreu» spricht. Das ist nicht einfach eine Wortklauberei, sondern Menschen in der Bibel gehen anders mit Glauben um. In der Bibel versucht niemand «bibeltreu» zu sein. Man hat einen anderen Fokus. Darüber reden wir hier in diesem Beitrag.

Christen landen heute nicht selten in einer «bibeltreuen» Subkultur, welche die Bibel auf eine bestimmte Art auslegt und die meint, dies sei die einzig richtige Sicht. Logischerweise höre ich in einer solchen Umgebung Aussagen wie «Ich will richtig glauben». Jeder, der einfach nur das Richtige tun will, wird in einem solchen Biotop zuerst gedeihen. Es vereinfacht die Sicht auf den Glauben. Die Komplexität der Welt ist reduziert. Die Folgen solcher Annahmen werden häufig erst nach längerer Zeit deutlich, wenn man arglos und vielleicht auch unkritisch den Gedanken folgt.

Diese Sicht, und nicht die Bibel, soll «bibeltreue» ausdrücken. Das betrifft demnach Meinungen über gewisse Themen. Man definiert zuerst, was die Bibel sagt und verwechselt dann die menschliche Definition mit der Bibel selbst. Salopp ausgedrückt: «Gott meint, was ich denke».

Man definiert, was die Bibel sagt und verwechselt dann die menschliche Definition mit der Bibel selbst.

Das ist jedoch nicht das einzige Problem. Das Wort «bibeltreu» hat auch etwas mit der Sicht auf die Bibel selbst zu tun. Offensichtlich ist es die «Treue zur Bibel», die als besonders wichtig eingestuft wird. Was aber heisst das genau? Die Verwirrung geht hier noch einen Schritt tiefer. Es gibt nicht nur eine Verwechslung von menschlicher Lehre mit der Bibel, sondern ebenso um eine Verwechslung zwischen der Bibel und Gott selbst. Kurzgefasstes Selbstverständnis: Wir tun und glauben, was Gott will, und Gott will genau das, was wir tun. Die dazwischen liegende menschliche Interpretation wird ausgeblendet. Wer sagt, bibeltreu zu sein, sieht sich auf einer Ebene mit Gott selbst.

Wer «bibeltreu» sagt, meint in der Regel «linientreu» und spricht über die verinnerlichten Lehren seiner religiösen Gemeinschaft.

Evangelikale Aussteiger

Diese Idee von «Bibeltreue» gedeiht vorwiegend in evangelikalen Kreisen. Sie äussert sich oft in rigiden Vorstellungen über Gott und die Welt. Die Problematik führt dazu, dass viele Menschen in dieser Enge nicht mehr leben wollen und können. Sie verabschieden sich aus der evangelikalen Welt und werden zu Ex-Evangelikalen oder zu Post-Evangelikale. Der Ex-Evangelikale wird zum bekennenden Ungläubigen. Wer sich als post-evangelikal bezeichnet, wirft zwar die Subkultur über Bord, aber will den Glauben behalten. Der Post-Evangelikale versucht das Kind des Glaubens nicht mit dem Badewasser der evangelikalen Lehren auszuschütten.

Nun gibt es zwei Arten, wie Menschen zu Aussteigern werden:

  1. Lehre: Man erkennt die mangelhafte Grundlage der Lehren
  2. Kultur: Man erkennt die rigiden Auswirkungen der Lehren

Eine dieser Dinge ist für den Ausstieg in der Regel ausschlaggebend. Ich selbst habe zuerst die mangelhafte Grundlage der Lehren erkannt. Damals habe mich auf den Weg gemacht, die Bibel nach besseren Antworten zu untersuchen, als mir bis dahin geboten wurden. Aussteigern der zweiten Gruppe werden oft von der Engstirnigkeit und Lebensfeindlichkeit der Lehren und Gemeinschaften abgestossen. Sie halten für sich selbst fest, dass man so nicht leben und glauben kann, wie manche das leben. Man sucht nach einem anderen, mehr lebendigen Ausdruck. Lehre und Kultur sind beide wichtig. Wer sich ernsthaft damit auseinandersetzt, stellt alsbald fest, dass beide zusammengehören. Eine nachhaltige Reflexion über diese Dinge wird deshalb sowohl die Lehre wie die daraus hervorkommende Kultur reflektieren und berücksichtigen.

Aussteigern der zweiten Gruppe werden oft von der Engstirnigkeit und Lebensfeindlichkeit der Lehren und Gemeinschaften abgestossen.

Neuorientierung

Wer zum Aussteiger aus evangelikalen Gedanken wird, nicht jedoch den Glauben aufgeben will, der muss sich ein neues Weltbild, Menschenbild und Gottesbild zurechtlegen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, in vielen Aspekten vergleichbar mit dem Ausstieg aus einer Sekte. Ich selbst habe zuerst die Mängel der Lehren erkannt und mich deshalb auf der Suche nach besseren Antworten gemacht. Dort hat es für mich angefangen. Für andere beginnt es an einem anderen Ort.

Dasselbe kann man auf dieser Website beobachten. Die meisten Zugriffe gibt es auf Beiträge zu den Themen Hölle und Allversöhnung. Das zeigt, dass diese Beiträge einem Bedürfnis entsprechen.

Viele Jahre habe ich mich intensiv mit Fragen über etwa Himmel und Hölle auseinandergesetzt, bis ich sie mit besseren Antworten aus der Bibel beantworten konnte. Du hast richtig gelesen: «aus der Bibel». Ein Abschied von rigiden Lehren heisst noch lange nicht, dass man die Bibel nicht mehr lesen sollte. Es war geradezu die Bibel selbst, die so manche Lehre als «absurd» entlarvte. Mir wurde klar, dass die Bibel nicht rigide ist. Nur menschliche Meinungen sind es. Thema nach Thema meldete sich an. Es war und ist eine spannende Reise.

Man kann sich diese Reise als konzentrische Ringe vorstellen. Im Zentrum kann eine klare Frage zu einem Dir wichtigen Thema stehen. Darauf kann man eine Antwort suchen und vielleicht auch finden. Als Nächstes erkennt man, dass es nicht nur um isolierte Fragen geht – es handelt sich um ein bestimmtes Denken, um eine bestimmte Lebens- und Glaubenshaltung. Der äussere Kreis betrifft die Auswirkung dieses Denkens, also die Folgen von «Himmel und Hölle», «kein Sex vor der Ehe», «Gott hasst Scheidung» und dergleichen mehr.

Je klarer mir wurde, dass nicht nur einzelne Lehren ein Problem hatten, sondern eine Subkultur gesamthaft problematische Züge hatte, desto mehr konnte ich verstehen, weshalb Menschen diese Kreise verliessen. Evangelikale Kreise, ebenso wie institutionalisierte Gedanken oder Sekten binden Menschen an sich selbst, an ihren eigenen religiösen Vorstellungen und Interpretationen. Zwar ist das menschlich und deshalb verständlich, aber die Ausprägung kann lebensfeindlich und glaubensfeindlich sein. Mit Gott oder der Bibel hat das in der Regel nichts zu tun, sondern vielmehr nur mit Ideen über Gott und die Bibel.

Eine Neuorientierung tut Not. Wer aussteigt, wird oft durchgeschüttelt. Aufbruchstimmung braucht Mut zum Umdenken.

Bibeltreu – geht das auch anders?

Das typische frei-evangelische Gedankengut, welches ich über viele Jahrzehnte kennenlernen durfte, hat sich über den Begriff «bibeltreu» positioniert. Alle Lehren und Vorstellungen passten dort rein. Bibeltreu war so etwas wie ein Überbegriff für das Sammelsurium an Vorstellungen, was man in den Gemeinden pflegte. Man wollte nahe bei Gott sein, und über diese verinnerlichten Vorstellungen sollte das möglich sein, so die Überzeugungen.

Geradezu beängstigend ist hier die Vorstellung, dass man «nur so biblisch unterwegs» sei. Wer ein differenzierteres oder anderes Verständnis hat, wird schnell in den Topf «liberal» geworfen, was einer klaren Ablehnung gleichkam. Ein typisches Schwarzweiss-Denken. Hat man dies aber einmal verinnerlicht, dann ist es nicht leicht auszusteigen. Das würde nämlich heissen, dass man dann zu den gefürchteten «Liberalen» gehörte, welche «die Bibel nicht ernst nehmen».

Entweder sei man also bibeltreu, genauer gesagt linientreu, oder man gehörte in der Gruppe der Ungläubigen, allenfalls fehlgeleiteten Christen, für die man beten sollte, dass sie zur Umkehr kommen.

Die Spannung, die aus solchen Vorstellungen erzeugt wird, ist grausam. Es wird bald klar, dass man in den Gemeinden nicht zum Wachstum angeleitet wurde, sondern eher zur Abhängigkeit. Was als «Freiheit in Christus» gepredigt wurde, war oft Unfreiheit in den rigiden Vorstellungen der Gemeinschaft. Es fand eine unheilvolle Verknüpfung von Evangelium und rigider Weltanschauung statt. Das ist ein mächtiger Knoten, der nur schwer entwirrt werden kann.

Entweder sei man also bibeltreu, genauer gesagt linientreu, oder man gehörte in der Gruppe der Ungläubigen, allenfalls fehlgeleiteten Christen, für die man beten sollte, dass sie zur Umkehr kommen.

Wer sich jedoch auf den Weg in eine neue Freiheit macht, wird sich vielleicht fragen, wie man besser mit der Bibel umgehen kann. Ich war mir bewusst, wie viel Reichtum ich aus der Bibel empfangen hatte. Ich wurde mir auch bewusst, wie vermeintliche Bibeltreue mein Denken auf eine falsche Fährte gesetzt hat. Das musste korrigiert werden.

Obwohl ich die Auseinandersetzung nie gescheut hatte, war es eine grosse Aufgabe, mein Verständnis, mein Glaubenshorizont, mein Umgang mit der Bibel auf eine gesündere Grundlage zu setzen. Das ist ein Prozess. Ich schätze mich so ein, dass ich diesen Prozess noch lange nicht abgeschlossen habe.

Zentral in dieser Entwicklung stand und steht die Frage, wie ich denn glauben und wie ich dabei die Bibel betrachten darf? Ich habe mittlerweile gelernt, dass ich einige alte Muster loslassen muss. Das entstandene Vakuum konnte ich ausfüllen. Die Bibel ist mir ein Zeugnis und ernährt mein Gottvertrauen, mehr als je zuvor – aber anders, nicht mehr rigide. Das Evangelium der Gnade ist die Grundlage. Ich habe nichts Wesentliches weggeworfen, aber vieles neu ausgerichtet. Man könnte von einer «Neukalibrierung» sprechen.

Ich bin mir heute bewusst, dass der Begriff «bibeltreu» eher von einer Subkultur als von der Bibel spricht. Die Subkultur habe ich losgelassen und von neuen Dingen ersetzt. Einhergehend damit habe ich auch diesen Begriff «bibeltreu» neu definiert. Etwa so: Geist ist wichtiger als Buchstabe. Ich erkenne die Bibel als getreu in der eigenen Aussage. Die Bibel ist ein Zeugnis. Sie wurde gegeben, damit ich daraus lerne. Es ist Gottes Wort, aber das ist nicht dasselbe wie die Vorstellung, dass jeder Buchstabe eine göttliche Qualität hat. Die göttliche Qualität kommt nämlich nicht aus den Buchstaben allein, sondern aus dem Geist, der durch die Seiten weht (2Tim 3,16-17).

Entscheidend ist dies: Die Bibel nährt meinen Glauben an Gott. Dies skizziert das Verhältnis zwischen beiden. Denn es ist nicht umgekehrt, also etwa, dass es Gott ist, der meinen Glauben an die Bibel ernährt. Diese Verwechslung von Gott und Bibel habe ich aufgegeben. Die Realität ist ganz einfach: Die Bibel führt zu Christus hin und Christus führt zu Gott. Dann stehe ich plötzlich viel näher zum Zeugnis und zum Verständnis der Bibelschreiber, wie ich das in der Bibel nachspüren kann. Diese Art von Bibeltreue führt in die Beziehung und in die Freiheit von Christus hinein. Ich lerne Glaube neu zu denken.