Jeder hat das Recht auf die eigenen Verirrungen. Wer jedoch ganz stark in einem Richtig-oder-Falsch-Schema denkt, wird fest bei der eigenen Wahrheit bleiben wollen. Zu gefährlich ist es, am Begriff «Wahrheit» zu rütteln. Oft wird darauf verwiesen, dass Jesus sagte: «Ich bin die Wahrheit» (Joh 14,6), als könne man damit jede Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff bereits im Keim ersticken.

Was ist Wahrheit?

Als Jesus vor Pilatus erschein und von Pilatus befragt wurde, reagierte Jesus mit dem schlichten Hinweis «Du sagst es», wobei die Betonung auf «Du» liegt. Pilatus reagiert darauf mit der rhetorischen Frage «Was ist Wahrheit?». Zu dieser Aussage gibt es bereits einen Beitrag auf dieser Website, den ich hier gerne zur Lektüre empfehle.

Es gibt jedoch noch weitere Aspekte zum populären Verständnis von Wahrheit. Es gibt philosophische Annahmen, dass Wahrheit nur persönlich sein kann und nie absolut ist. Dagegen kann viel eingebracht werden, zumal keine Gemeinschaft oder Gesellschaft ohne allgemein anerkannten Werten bestehen kann. Das ist jedoch eine andere Diskussion. Hier möchte ich nur festhalten, dass einige Menschen Wahrheit als subjektiv auffassen. Obwohl es Subjektivität gibt, macht man hier den Umkehrschluss, dass es «also» keine absolute Wahrheit gibt.

Andere jedoch pochen auf «absolute» Wahrheit, womit in der Regel bloss das eigene Verständnis gemeint ist. Das gilt insbesondere auch dann, wenn auf die Bibel Bezug genommen wird. «Wahr ist das, was ich selbst oder was meine Gemeinschaft mit der Bibel begründet.» Das ist ein begrenztes Verständnis, woraus Allgemeingültigkeit angenommen wird, der zuerst darauf projiziert wurde. Das ist ein Zirkelschluss.

Buchstäblich wahr?

Infolge der Lehre der Verbalinspiration wird oft behauptet, dass die Bibel «buchstäblich» zu lesen sei und «buchstäblich» wahr sei. Das ist Unfug, denn das geht oft gar nicht. Man projiziert diese Sicht auf die Bibel und meint dann, dass dies bestätigt wird vom Text. Das tut es jedoch nicht, was sich leicht feststellen lässt.

In Richter 9 wird eine Parabel von Bäumen erzählt. Es ist Jotams Parabel:

«Und man berichtete es Jotam. Da ging er hin und stellte sich auf den Gipfel des Berges Gerisim, und er erhob seine Stimme und rief und sprach zu ihnen: Hört auf mich, Bürger von Sichem, so wird Gott auf euch hören!

Einst gingen die Bäume hin, einen König über sich zu salben; und sie sprachen zum Olivenbaum: Sei König über uns! Und der Olivenbaum sprach zu ihnen: Sollte ich meine Fettigkeit aufgeben, welche Götter und Menschen an mir preisen, und sollte hingehen, zu schweben über den Bäumen? Da sprachen die Bäume zum Feigenbaum: Komm du, sei König über uns! Und der Feigenbaum sprach zu ihnen: Sollte ich meine Süssigkeit aufgeben und meine gute Frucht, und sollte hingehen, zu schweben über den Bäumen? Da sprachen die Bäume zum Weinstock: Komm du, sei König über uns! Und der Weinstock sprach zu ihnen: Sollte ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut, und sollte hingehen, zu schweben über den Bäumen? Da sprachen alle Bäume zum Dornstrauch: Komm du, sei König über uns! Und der Dornstrauch sprach zu den Bäumen: Wenn ihr mich in Wahrheit zum König über euch salben wollt, so kommet, vertraut euch meinem Schatten an; wenn aber nicht, so soll Feuer von dem Dornstrauch ausgehen und die Zedern des Libanon verzehren.»
Richter 9,7-15

Die Frage ist jetzt, was Wahrheit ist. Reden Bäume? Muss diese Geschichte aus der Bibel «buchstäblich» gelesen werden, als wird hier das Pflanzenreich korrekt beschrieben? Wohl kaum. Diese und viele andere Geschichten benutzen Bildsprache, um eine Wahrheit zu transportieren, jedoch ist das Bild nie das Thema. Dies zeigt als Beispiel, wie Wahrheit mit Worten immer nur umschrieben werden kann. Es geht nicht um die Buchstaben, sondern um den Geist (2Kor 3,6). Wenn wir sogar Sprache nicht deuten können, wie können wir die Aussage verstehen?

Wahrheit wird von der Sprache berührt, aber darf mit der Sprache nicht verwirrt werden, sowenig wie Wahrheit mit meinem persönlichen Verständnis verwirrt werden darf. Was es hier benötigt, ist eine gesunde Differenzierung und Bescheidenheit. Solches kann man in einer gemeinsamen Lernkultur erarbeiten.

Falsche Sicherheit

Es gibt oft den Wunsch nach Zuverlässigkeit. Wer glaubt, will Sicherheit. Ich kenne das zumindest von mir selbst in dieser Weise. Ich musste darüber jedoch nachdenken lernen. Nicht selten kämpft man um eine falsche Sicherheit. Man spricht von Wahrheit, meint aber Sicherheit. Es ist eine unheilige Verknüpfung von Sehnsucht nach Sicherheit und einer vermeintlich absoluten Wahrheit. Ich kann das verstehen, aber beide Dinge sind verschieden.

Wahrheit in absolutem Sinne muss nicht das sein, «was ich selbst für wahr halte». Dann wäre Wahrheit nämlich bloss die Funktion meines Gehirns. Ein Merkmal der Wahrheit wäre aber gerade Allgemeingültigkeit, die nicht von Zustimmung abhängig ist. Diese Allgemeingültigkeit jedoch steht ausserhalb von mir. Ich bin Teil der Wirklichkeit, nicht «die» Wirklichkeit. Meine Erkenntnis ist bestenfalls ein Bruchteil und deshalb subjektiv. Damit ist die Idee absoluter Wahrheit und Zuverlässigkeit nicht entkräftet, sondern mein Verständnis ist bruchteilhaft.

Wenn ich mein begrenztes Verstehen mit absoluter Wahrheit verwechsle, habe ich ein Problem. Das gilt auch dann, wenn ich die Bibel als absolute Wahrheit vorschiebe und diese zu Feuer und mit dem Schwert verteidige. Das ist ein Ausweichmanöver. Hier kaschiere ich dann lediglich mein Unverständnis mit der Bibel und behaupte, die Bibel sei absolut und deshalb sei meine Einschätzung korrekt. Das ist so ähnlich wie wenn man ständig ruft «Der Herr sagt! Der Herr sagt!», wobei dieser nichts gesagt hat und man lediglich die eigene Unsicherheit überspielt – super fromm getarnt.

Es kann sehr bedrohlich sein, sich seine Begrenztheit im Verstehen bewusst zu werden. Nur wer den Mut aufbringt, hinzuschauen, lernt daraus. Das nennt man Demut. Es ist der Mut, sich und sein eigenes Verständnis nicht als absolute Wahrheit in der Mitte zu stellen, sondern sich ehrliche und offene Fragen zu einem besseren Verständnis zu erlauben.

Hier ist die echte Sicherheit: Erlaube Dich nicht alles zu wissen, und Dich gleichzeitig als von Gott geliebt zu erfahren. Vielleicht in etwa so, wie es Paulus beschreibt:

«Freut euch in dem Herrn allezeit! Nochmals will ich betonen: Freut euch! Lasst eure Lindigkeit allen Menschen bekannt werden: Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern lasst in allem eure Bitten im Gebet und mit Danksagung vor Gott bekannt werden. Dann wird der Friede Gottes, der allem Denksinn überlegen ist, eure Herzen und eure Gedanken wie in einer Festung in Christus Jesus bewahren.»
Phil 4,4-7

Mit dieser Aufforderung bezeugt Paulus, was er versteht. Es ist ganz praktisch, weil es im Denken beginnt. Seine Lebenshaltung ist die Glaubenshaltung, womit er vorwärtsgeht. Es ist nicht, dass er alles als «sicher» einstuft, aber er hat Gottvertrauen, dass Er es wohl macht. Sicherheit entsteht aus der Beziehung, nicht aus einer falschen Gewissheit. Es ist ein Verstehen, womit Er vorwärtsgeht, keine Liste von absoluten Fakten, worin er stehenbleibt. Es gibt sogar eine Verheissung in diesen Worten, nämlich, dass der Friede Gottes, der allem Denken überlegen ist, unsere Herzen und Gedanken wie in einer Festung in Christus Jesus bewahrt. Das ist ein Verständnis, wonach alles von Gott und Seinem Christus abhängt.

Wir erkennen hier, worum es bei Paulus geht: Eine positive Glaubensausrichtung, getragen von Gott und Seinem Christus, nicht von vermeintlicher Überlegenheit eigener Erkenntnisse.

Glaube ist immer subjektiv

Glaube ist Vertrauen und deshalb persönlich und subjektiv. Mein Verstehen ist bruchstückhaft, auch wenn es die Realität nicht ist. Differenzierung ist der Weg hinaus aus dem Schlamassel falscher Sicherheiten. Entdecke, was heute für Dich stimmt, im Wissen darüber, dass Dein Verständnis Dich in dieser Welt weiterführt und die Wahrheit hinter allen Dingen davon nie betroffen ist.

Man kann sich von der Bibel auf diesen Weg begleiten lassen, Du kannst Dich nach mehr Bibelverständnis ausstrecken und daraus Tag für Tag wertvolle Erkenntnisse schöpfen. «Die Wahrheit» ist das, was Du untersuchst, aber das eigene Verständnis ist damit nicht zu verwechseln, als könnte man selbst alles umfassen. Könnte ich das, wäre ich Gott gleich. Deshalb: Bescheidenheit ist angesagt. Ich bin subjektiv im Verstehen. Gott ist davon nicht berührt, was immer man von Gott zu verstehen meint.

Deswegen kann man mangelhafte Glaubensvorstellungen getrost hinter sich lassen. Man hat dann bloss hinzugelernt. Reflexion hilft dabei zu erkennen, weshalb man weiterzieht. Altes kann man loslassen, ohne dass man die Bibel, Gott oder Jesus über Bord werfen muss. Das Buch ist schlicht das, was es ist: Ein Zeugnis. Das Gottesverständnis und das Verständnis von dem, was Jesus ist, ist unser persönliches Verständnis oder das Verständnis der Gemeinschaft, worin ich stehe. Es sind menschliche Erkenntnisse. Sie sind vollkommen unvollkommen.

Vorwärts leben

Man kann weitere Schritte in diesem Leben gehen, ohne dafür «Wahrheit» einzubüssen, denn diese wird immer da sein. Man kann jedoch «das eigene Verständnis» revidieren, wenn man die Begrenztheit erkannt und eine bessere Variante der Begrenztheit gefunden hat.

Offen gesagt kann ich auch nicht behaupten, alles zu wissen. Ich möchte aber neugierig und lernbereit in dieser Welt stehen. Meine Finger habe ich an absoluten Vorstellungen verbrennt. Diese Erfahrung versuche ich heute zu vermeiden, auch wenn ich Tag für Tag mich in diesem Wettkampf sehe und mich ausstrecke nach dem, was vor mir liegt. So, wie es Paulus beschreibt:

«Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, es ergriffen zu haben. Eins aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. So jage ich dem Ziele zu, nach dem Kampfpreis der Berufung Gottes in Christus Jesus. Alle von uns nun, die gereift sind, mögen darauf bedacht sein; und wenn ihr in etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dieses enthüllen. Indessen, worin wir andere überholen, sollte man gleich gesinnt sein, um nach derselben Richtschnur die Grundregeln zu befolgen.»
Phil 3,13-16