Mit der Bibel lässt sich nichts beweisen. Es lässt sich nur etwas bezeugen. Der Unterschied ist bedeutsam. Den Unterschied wahrzunehmen, ist auch ein Werkzeug, womit sich bisherige Glaubenssätze dekonstruieren und rekonstruieren lassen. In diesem Beitrag geht es um Werkzeuge, womit wir unsere Annahmen prüfen und neu ausrichten können.

In der Bibel finden wir keine Beweise, sondern Zeugnisse. Es wäre etwas vermessen, würden wir unsere Lesart der Schrift als alleinige und «absolut richtige» Ansicht deklarieren. Trotzdem tun es viele Leute so. Auch ich stand einst an diesem Ort. Es ist unglaublich ernüchternd, wenn ich feststelle, dass das Einzige, was ich an der Bibel ablesen kann, dieses ist: Es steht in der Bibel.

Damit wird die Bibel nicht relativiert, sondern meine Einschätzung. Als Zeugnis mag sie besondere Qualitäten haben, aber die Absicht ist keine Beweisführung, sondern sie ist ein Zeugnis. Damit ist die Anwendung gemeint. Die Bibel ist eine Zusammenfassung vieler Zeugnisse. Darunter sind geschichtliche, poetische und seelsorgerliche Zeugnisse, sowie viele andere Arten. Sie werden als Zeugnis mit dem Ziel gegeben, dass andere Menschen – Du und ich – daraus lernen.

Beispielsweise wird die Auferstehung Jesu in der Bibel nicht bewiesen. Sie wird bezeugt. Das Zeugnis sehe ich als zuverlässig, aber es ist kein Beweis. Die Apostel wurden «Zeuge Seiner Auferstehung» (Apg 1,22). Zeugnis und Beweis sind zwei Dinge, die sich zwar nicht gegenseitig ausschliessen, jedoch etwas anderes beabsichtigen. Bei einem Zeugnis geht es um die Bedeutung von dem, wofür Zeugnis abgelegt wird. Da schwingt der Kontext mit und der Grund, ebenso wie das Ziel. Bei einem Beweis geht es um die Frage «Kann ich das heute empirisch beweisen?». Das ist etwas anderes. Ein Zeugnis will beim Zuhörer etwas bewirken, ihn sozusagen in die Geschichte hineinnehmen.

Kann ich also etwas mit der Bibel «beweisen»? Nein. Ich kann aber sagen, dass die Bibel dieses oder jenes «bezeugt». Was dieses Bezeugen dann beinhaltet, muss in jedem Kontext sorgfältig abgewogen werden.

Dichtung und Wahrheit

Was ich glaube, hat einen Grund. Der Grund liegt vielleicht in der Bibel. Ist das dann ein Beweis? Nein, auch das ist kein Beweis. Es begründet jedoch mein Verständnis. Wenn ich diese Bibel vertraue, dann drücke ich damit aus, dass ich dem Zeugnis vertraue. Dass ich dies tue, hat mit meiner Erfahrung zu tun, die mir die Worte als sinnig erscheinen lässt, und – wenn man dem Raum geben will – mit dem Wirken von Gottes Geist, der in mir die Worte der Bibel verständlich macht und mich in die Gottesbeziehung einlädt.

Nun gibt es aber auch viele Annahmen über die Bibel und über die Bedeutung von Christus, über die Gemeinde, über den Glauben. Davon ist vieles auch blanker Unsinn. Nicht jede religiöse Regung ist der Definition nach göttlich. Nicht jedes fromme Verhalten ist gottgewollt und nicht jede Tradition hat etwas mit der Bibel zu tun. Das trifft auch dann nicht zu, wenn man staunend hört, dass manche Dinge zwar nicht in der Bibel stehen, sie aber zwingend geglaubt werden müssen.

Wer sich ernsthaft mit der Bibel auseinandersetzen will, kann ein Interesse daran haben, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Dichtung wäre dann die Sammlung menschlicher Ideen über die Bibel, während Wahrheit schon klar in biblischen Aussagen begründet sein müsste. Dabei geht es nicht darum, den Wert von Traditionen zu schmälern, sondern nur kritisch hinzuschauen, wenn diese mit einem Absolutheitsanspruch über die Gläubigen gestülpt wird. Wahrheit nenne ich hier die Grundlage. Sie soll nicht mit «Interpretation» verwechselt werden.

Dichtung und Wahrheit also, oder: Was steht in der Bibel und was nicht? Es geht um eine Unterscheidung. Diese ist jedoch bloss eine Hilfe dazu, das Wesentliche auf die Spur zu kommen. Will ich die Bibel verstehen, soll ich zuerst die Bibel kennen und danach auch imstande sein, der Spreu vom Weizen zu trennen, nämlich Gedanken «über» die Bibel von Gedanken «aus» der Bibel zu trennen.

Was geschrieben steht

Im ersten Korintherbrief schreibt Paulus:

«Dies aber, Brüder, habe ich als Redefigur um euretwillen auf mich selbst und Apollos angewandt, damit ihr an uns lernt, nicht auf Dinge zu sinnen, die über das hinausgehen, was geschrieben steht, damit ihr nicht aufgeblasen werdet.»
1Kor 4,6

Das, was geschrieben steht, sollen wir betrachten. Beginnen wir aber, darüber hinaus irgendwelche Fantasien zu pflegen, dann begeben wir uns auf Glatteis. Wer sich dennoch auf die Brust schlägt wegen vermeintlicher «speziellen Erkenntnissen», der wird «aufgeblasen». Glaube ist immer nüchtern. Die Bibel ist nüchtern.

Bereits ein Kapitel zuvor hat der Apostel gewarnt:

«Der Herr kennt die Schlussfolgerungen der Weisen, dass sie nichtig sind.»
1Kor 3,20, vgl. Ps 94,11

Es ist kein Zeichen von Stärke, wenn man in Fantasien abdriftet. Im Römerbrief schreibt Paulus zur Gemeinde wie folgt:

«Nehmt euch aber des Schwachen im Glauben an, doch nicht zur Beurteilung von Folgerungen.»
Röm 14,1ff

Nun ist es natürlich so, dass es viele christliche Gemeinschaften und Kirchen gibt, die auf die Tradition bauen. Hier ist Bescheidenheit angesagt: Ganz ohne Tradition, bzw. Interpretation, kommt keiner davon. Wir können uns aber die Frage stellen, wie sich Tradition und Bibel zueinander verhalten. Einige werden sagen, dass die Bibel bloss der Startschuss war und seitdem die Kirche die Aussagen weiterentwickelt. Wieder andere betrachten Tradition und Bibel gegenseitig als Ergänzung. Man kann also die Bibel nicht ohne die Tradition interpretieren. Wieder andere – wozu ich auch mich selbst zähle – versuchen, die Bibel im eigenen Licht zu sehen. Die Bibel hat dann ein eigenes Zeugnis, was nicht durch die Tradition getrübt werden soll. Wenn ich selbst eine Diskrepanz zwischen Bibel und Tradition oder Lehre feststelle, dann versuche ich immer die Aussagen der Bibel anzunehmen, während ich Tradition und Lehre vorerst mal in Quarantäne setze.

Die Herausforderung, speziell für evangelikal geprägte Christen, liegt darin, Wahrheit und Dichtung voneinander zu unterscheiden, also biblische Aussagen von Meinungen trennen zu können. Warum ist das eine Herausforderung? Weil viele Lehrmeinungen als «biblische Wahrheit» verkauft werden, obwohl es sich um «menschliche Dichtung» handelt. Wer sich auf die Bibel abstützen will, soll sich die Unterschiede bewusst sein, und feststellen können, wo bestimmte Lehren davon abweichen.

Begründung und Folgerung

Eine nüchterne Bibelbetrachtung verlangt also ein Unterscheidungsvermögen. Wie aber erreicht man das? Wenn ich mich so manche Predigt und so manches Bibelstudium vor Augen führe, dann wurde oft auf die Bibel Bezug genommen, aber selten etwas im Kontext erklärt. «Ein Zitat hier, ein Zitat dort» sollte die «biblische Sichtweise» begründen. Oft tat es das nicht.

Wer die Bibel besser verstehen will, muss zwischen Begründung und Folgerung unterscheiden lernen. Die beiden werden gerne vertauscht. Eine Folgerung wird als Begründung verkauft. Das passiert zum Beispiel so:

  • Die Aussage «Beim Sterben geht die Seele in den Himmel»
  • wird begründet mit «der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat» (Pred 12,7)

Das ist keine Begründung. Das ist eine Folgerung. Wer eine Annahme hat, dass «die Seele beim Sterben in den Himmel geht», sollte das mit einer entsprechenden Bibelstelle begründen. Die zitierte Bibelstelle sagt jedoch etwas ganz anderes aus. Es wird nicht von der Seele, sondern vom Geist gesprochen. Dieser kehrt zu Gott zurück, aber vom Himmel ist keine Rede. Die Bibelstelle begründet die Aussage nicht. Sie ist nicht nur ungenau, sondern grundlegend falsch.

Ich habe viele solche «Begründungen» gehört und gelesen. Man hat eine Idee im Kopf und sucht dazu dann eine Bibelstelle «die es oberflächlich gesehen so sagt, wie ich das meine». Das ist ein Problem. In Bezug auf das vorgenannte Beispiel muss deutlich sein: Es gibt nirgendwo eine biblische Bestätigung dafür, dass «die Seele beim Sterben in den Himmel geht». Es gibt so etwas nicht in der Bibel.

Möchte ich das prüfen, muss ich einfach nur die Kombination «Seele» und «Himmel» in einer Suche eingeben. In der Elberfelder-Übersetzung gibt es dann zwei Treffer, die beide nicht das aussagen, was die Behauptung war.

Was wollen wir genau? Das ist hier zu klären. Suche ich lediglich meine Ansichten über die Bibel zu rechtfertigen oder will ich verstehen, was die Bibel selbst sagt? Unterscheiden wir deshalb Folgendes:

Begründung

Die Begründung einer Ansicht muss mit einer Aussage der Bibel getroffen werden. Wenn ich diese nicht finde, entstammt meine Ansicht vermutlich einer anderen Quelle, d.h. es steht nichts dazu in der Bibel. Ausserdem soll ich jeden Text im eigenen Kontext verstehen, und nicht einfach Texte aus dem Zusammenhang reissen. Demnach: Irgendein Text zu zitieren, ist noch keine Begründung.

Eine Begründung zu geben heisst, dass man eine biblische Aussage zu diesem Thema findet, stimmig nach Kontext und Grundtext, worin man die Wörter und Ausdrücke im Kontext kennt und deuten kann, ohne Folgerungen aufzustellen.

Folgerung

Eine Folgerung ist eine fantasievolle Idee über das, was die Bibel meint, auch wenn sie es nirgendwo sagt. Die Dreieinigkeit ist unter anderem eine Folgerung, etwas, das nirgendwo klipp und klar in der Bibel gelehrt wird. Die Ausschmückung der Hölle ist eine Verballhornung von dem, was Jesus über die Gehenna gesagt hat. Es gibt viele weitere solcher Folgerungen.

Gesunde Worte

Nicht jeder steht am gleichen Ort. Meine Hinweise hier müssen nicht die Lösung für Deine Fragen sein. Wer seine bisherigen Annahmen hinterfragt, kann das – wie gesagt – aus ganz verschiedenen Gründen tun. Die Ansätze, die ich hier teile, betreffen meine eigenen Erfahrungen und richten sich an die Menschen, die nach wie vor die Bibel ernst nehmen wollen und danach suchen, die Bibel mehr für sich sprechen zu lassen. Es geht um die Frage «Wie kann ich die Bibel neu lesen lernen?».

Auch wenn ich mich direkt nach der Bibel richten möchte, so darf ich verstehen, dass keiner der Menschen in der Bibel eine Bibel hatten, wie wir sie kennen. Es dürfte für die Menschen in der Bibel recht seltsam anmuten, würden sie sehen, wie manche heute mit der Bibel umgehen. Zur Zeit des Neuen Testaments war nicht einmal die Tenach (das Alte Testament) kanonisiert, geschweige denn das Neue Testament als «Bibel» festgelegt. Wir lesen also von Menschen, die mit weniger Schriften Ihr Glaube gelebt haben. Sie haben das bestens gemeistert. (Siehe auch: «Abrahams Bibel».) Wir können jedoch nach Hinweisen suchen, wie sie dazumal mit den Aussagen Gottes umgegangen sind. Diese können wir sorgfältig und vorsichtig versuchen zu interpretieren.

Einen Hinweis finden wir beispielsweise bei Paulus, der an seinen Mitarbeiter Timotheus schreibt:

«Habe ein Muster gesunder Worte, die du von mir gehört hast, im Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus sind.»
2Tim 1,13

Gesunde Worte, gesunde Lehre – diese Dinge verdienen Beachtung. In dem Beitrag «Gesunde Worte» wird dieser Text weiter kommentiert. Es sind Worte, die Timotheus von Paulus gehört hat. Diese soll er vor Augen haben, und zwar kombiniert mit Glauben und Liebe. In einem einfachen Vergleich könnte es sein, dass jemand anders mit ganz anderen Aussagen an Timotheus herangetreten war, worauf Paulus nun sagt «halte Dich an die gesunden Worte, die du von mir gehört hast». Lasse Dich nicht ablenken, Timotheus! Bleibe gesund in deinem Denken! Mit anderen Worten: Kenne Deine Quellen und gehe vorsichtig mit Annahmen und Aussagen um. Interpretierend: Bleibe bei den Worten der Bibel, wenn du verstehen und sagen willst, was die Bibel formuliert.

Machen wir es wie Timotheus, dann können wir die gesunden Worte von Paulus vor Augen halten.

Spreu vom Weizen trennen

Fragt man verschiedenen Christen, was sie glauben, dann hört man überdurchschnittlich oft Dinge wie diese:

  • Dreieinigkeit
  • Beim Sterben geht man in den Himmel
  • Beim Sterben wird man bei Jesus sein
  • Endlosigkeit («Ewigkeit»)
  • Himmel und Hölle
  • Freier Wille
  • Unsterbliche Seele
  • Wer glaubt, wird gerettet, die anderen gehen verloren
  • Auferstehung des Körpers
  • usw.

Erstaunlich ist, dass keines dieser Dinge in der Bibel auch nur erwähnt ist. Nichts von dieser Liste steht in der Bibel. Es sind alles Folgerungen. Ich finde es erschreckend, wenn Christen angeben, Ihr Vertrauen aus der Bibel begründen zu wollen, aber ein Kartenhaus an menschlichen Folgerungen mit der Bibel verwechseln. Auf dieser Website wurden viele dieser Aussagen bereits kommentiert und widerlegt – wer also zu einem dieser Themen mehr wissen möchte, findet hier weitere Beiträge.

Meine Wahrnehmung ist diese: Es gibt eine Diskrepanz zwischen Dichtung und Wahrheit und die Dichtung ist einfach beliebter. Möchte man jedoch die Spreu vom Weizen trennen, braucht es ein besseres Verständnis für das, was die Bibel selbst sagt. Sucht man danach, bekommt man auch Antworte und es lassen sich alte Sichtweisen von neuen ersetzen.

Werkzeuge zur Dekonstruktion und Rekonstruktion

Wenn ich erwähne, dass ich mein Glaubensverständnis dekonstruiert habe, meine ich damit zu sagen, dass ich manche Annahmen über die Bibel geprüft und als falsch entlarvt habe. In dem Mass, wie diese Annahmen mein Glaubensverständnis begründeten, wollte ich diese Annahmen loslassen und verlor damit so etwas wie ein «bisheriges Verständnis». Es hat Platz gemacht für ein neues Verständnis, das m.E. viel besser aus der Bibel abzuleiten ist.

Die Bibel selbst ist mein bevorzugtes Werkzeug, womit ich Lehrgebäuden hinterfrage. Es ist auch das Werkzeug, womit ich mein Gottvertrauen neu ausrichten kann. Die Bibel ist für mich das Werkzeug für Dekonstruktion, ebenso wie für Rekonstruktion.

Ist die Bibel das einzige Werkzeug? Nein! Seitdem ich mich aber selbst auf den Weg mache, erweitere ich meinen Horizont. Ich lese nicht mehr nur Schriften «der eigenen Richtung». Auch das schafft sehr viel mehr Raum im Denken. Ich durfte vieles dazulernen. Die Welt muss ich nicht schwarzweiss wahrnehmen. Es gibt nicht mehr nur richtig oder falsch. Seit 40 Jahren bin ich dran. Der Prozess ist nicht abgeschlossen, aber ich habe viel Zuversicht gewonnen.

Manchmal stören sich Leute daran, dass ich mich auf die Bibel abstütze und trotzdem bestimmte Lehren kritisiere. Das passt so gar nicht in die gängigen Vorstellungen. Dort nämlich ist die eigene Lehre die «biblische Sicht», während alle anderen «liberal» sind und «die Bibel nicht ernst nehmen». Nehme ich aber die Bibel ernst und entlarve ich so manche Vorstellung als «Bibel-fremd», wird mir das oft nicht in Dank abgenommen. Das ist nicht weiter befremdlich, zeigt aber, dass man es eher mit Ideologien als mit biblischer Lehre zu tun hat.

Es geschieht jedoch immer wieder auch etwas anderes, nämlich die Begegnung mit Menschen, die ebensolche Wege gegangen sind, mit Menschen, die ebenso ein befreites Christsein leben und teilen. Mündigkeit sieht so aus. Und dann können wir frei werden, diesen Rat von Paulus zu befolgen:

«Wenn wir aber wahr sind, sollten wir in Liebe alles zum Wachsen bringen, hinein in Ihn, der das Haupt ist, Christus.»
Eph 4,15