Gott sei Dank gibt es Geschichten. Einige meinen, dass auch Gott bloss eine Geschichte ist. Darüber will ich hier jedoch nicht schreiben. Es erscheint aber wichtig, über Geschichten zu schreiben. Denn Geschichten gehören zu unserem Menschsein. Wir erzählen Geschichten, glauben Geschichten und lassen uns von Geschichten motivieren.

Wenn Geschichten verpönt sind

Ich habe dies aus nächster Nähe miterlebt: Geschichten waren verpönt. Denn, so sagte man, nur die Bibel ist Wahrheit und alles andere ist deshalb Unwahrheit. Geschichten von ausserhalb der Bibel sind deshalb nicht nur nicht interessant und haben keine Botschaft, sondern sind immer weniger gut und wertvoll als die biblischen Geschichten. Wenn ich das noch etwas negativer formuliere: Geschichten ausserhalb der Bibel sind unwahr, wenn nicht gleich vom Teufel.

So mancher Christ hat ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit. Die Verkündigung in den eigenen Reihen ist nicht selten von dieser Gegenüberstellung Wahr/Unwahr geprägt. Deshalb erscheint alles, was nicht von der Kanzel gepredigt wird, suspekt. Weil man sich jedoch auch im alltäglichen Leben bewähren muss, das ganz offensichtlich nicht so schwarzweiss funktioniert, gibt es eine Spannung zwischen dem Leben und dem Glauben.

Erkennst Du das?

Nur in der eigenen Interpretation leben

  • In manchen Gemeinschaften dürfen keine Märchen erzählt werden (unbiblisch und gefährlich!)
  • Nur die Bücher der eigenen Lehrer verdienen Beachtung, andere nicht (andere sind Ketzer!)
  • Ich lehne jede Person ab, die nicht das glaubt, was ich glaube (ich habe die Wahrheit gepachtet)
  • Ich kann keine Gemeinschaft haben mit Menschen, die anderen Geschichten glauben, einer anderen Kirche oder gar einer anderen Religion anhängen (alles teuflische Ansichten!)

Diese und weitere Ansichten zeigen, dass man nur innerhalb der eigenen Interpretation, der eigenen Vorlieben, der Gleichgesinnten und des eigenen «Bubbles» lebt. Wer an einer anderen Leitgeschichte glaubt, gilt zuerst einmal als suspekt. Was aber, wenn man das Fenster aufstossen kann und verschiedene Arten von Geschichten erst einmal wertfrei als «Geschichten» betrachten lernt? Man müsste dafür nicht alles sofort bewerten, sondern zuerst einmal wertfrei betrachten lernen. Man kann sehen und erkennen, dass andere Menschen – wie ich selbst – von Geschichten getragen werden. Dadurch könnte man andere Menschen begegnen oder Menschen anders begegnen.

Ich kann das auch christlich formulieren: Gott liebt alle Menschen. Wie soll ich dann andere Menschen begegnen? Sollte es nicht ohne heimliche Bekehrungsabsichten und ohne Verurteilungen sein? Jeder folgt einer eigenen Geschichte. Ich muss mit Deiner Geschichte nicht einverstanden sein, wenn ich sie als «Deine Geschichte» honorieren will. Vielleicht habe ich ganz bewusst eine bestimmte Geschichte gewählt. Vielleicht bin ich nur innerhalb einer bestimmten Geschichte aufgewachsen. Alle Menschen leben nach den Geschichten im eigenen Kopf. Wir haben Sichtweisen verinnerlicht. Das Wort Wahrnehmung zeigt im Deutschen auch gut auf, dass wir etwas als «wahr» annehmen. Unsere Wahrnehmung richtet sich nach einer Geschichte. Welche ist die Geschichte des Gegenübers?

Wer aus sektenähnliche Strukturen aussteigen will, oder die Unfreiheit fanatischer Strukturen erlebt hat, kann sich bewusst werden, dass eine neue Geschichte erzählt werden muss. So kann eine Richtungsänderung stattfinden.

Wir erzählen einander Geschichten

Jede Lehre oder Lehrmeinung, jede Betrachtungsweise der Theologie, erzählt eine Geschichte. Geschichten sind also nicht nur die biblischen Geschichten selbst, oder Geschichten, die Menschen sich ausserhalb der Bibel erzählen, sondern es sind auch Geschichten über die Bibel und darüber, was sie aussagt. Wir erzählen einander diese Geschichten, weil sie uns im Leben weiterhelfen und einen Ausblick verschaffen.

Geschichten transportieren eine Botschaft. Das Wort «Evangelium» heisst buchstäblich «Wohl-Botschaft» oder «Gute Nachricht». Das zeigt genau, warum es geht: Eine Geschichte, die Aufmerksamkeit schafft, weil sie «gut» ist. Dem gegenüber stehen etwa «Hiobsbotschaften» als «Schlechte Nachrichten». Ob Evangelium oder Hiobsbotschaft, beide Ideen stammen aus der Bibel. Selbstverständlich gibt es noch weitere Geschichten, die in der Bibel erzählt werden.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Gott selbst spricht. Wenn es heisst «Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht» (1Mo 1,3), dann ist das ein sprechender Gott. Ebenso ist diese Aussage Teil einer erzählten Geschichte. Diese Geschichte schildert eindrücklich, dass gesprochene Worte etwas erschaffen und das Erste, das hier erschaffen wird, ist Licht. Was kann man daraus alles lernen?

Wir können auch denken an der Geschichte von Elisa, worin er Folgendes erzählt: «Und er ging von dannen hinauf nach Bethel; und als er auf dem Wege hinaufging, da kamen kleine Knaben aus der Stadt heraus, und verspotteten ihn und sprachen zu ihm: “Komm herauf, Kahlkopf! Komm herauf, Kahlkopf!” Und er wandte sich um und sah sie an und fluchte ihnen im Namen Jahwes. Da kamen zwei Bären aus dem Walde und zerrissen von ihnen zweiundvierzig Kinder.» (2Kön 2,23-24). Was soll man jetzt von einer solchen Geschichte halten? Was immer man davon hält, es ist eine erzählte Geschichte. Das ist keine Wertung, sondern gerade eine wertfreie Feststellung. Damit wäre ein erster Schritt hin zu mehr Verständnis gemacht. Diese Geschichte ist nach heutigem Verständnis nicht gut, aber es bleibt eine erzählte Geschichte. Welche Aspekte kann man aus dieser Geschichte herausschälen? Warum und wozu wurde die Geschichte aufgeschrieben und erzählt? Solche Fragen kann man nachgehen. Das gilt auch, oder insbesondere dann, wenn sie auf den ersten Blick etwas seltsam erscheint.

Wir erzählen einander Geschichten, weil wir durch Geschichten lernen. Es ist ein Leichtes, aus der Geschichte von Elisa hier oben eine moralisierende Interpretation zu erstellen. Vielleicht geht es jedoch um etwas anders. Darüber kann man nachdenken. Geschichten dürfen und sollen zum Denken anregen. Das gilt auch für die Geschichten und Ideen, die man von der Kanzel hört.

Wenn wir das Schwarzweiss-Denken etwas beiseitelassen, können wir vielleicht erkennen, dass «Geschichten erzählen» zu unserem Menschsein gehört. Kann dies einen Grund sein, dass auch die Bibel in Geschichten erzählt?

Geschichten als Werkzeuge

Es ist auffallend, wie gerne Menschen Geschichten zuhören. Wer eine gute Geschichte hat, kann fast immer mit Zuhörern rechnen. Geschichten werden auf viele Arten erzählt. Predigten gehören dazu, Bücher, Filme. Jede Kunstart erzählt auf die eigene Weise. Gute Geschichten erzählen Botschaften, die man nicht weiter erklären muss. Die Erklärung ist Teil der Geschichten. Das Thema kann man erarbeiten, indem man sich mit den Geschichten auseinandersetzt. Geschichten sind Werkzeuge zum Fördern von Verständnis.

Sogar die Bibel erzählt und nutzt Geschichten, die ausserhalb der biblischen Geschichte stehen. So etwa erzählt Jesus die Geschichte vom Reichen Mann und Lazarus. Dies ist ein Gleichnis und wird fälschlicherweise oft als Beschreibung der Hölle genutzt. Die ganze Geschichte ist eine Volkserzählung, wobei die selbstgerechten Schriftgelehrten sich selbst im «Schoss von Abraham» wähnten, während die Menschen, wofür sie eigentlich zuständig wären, ihrem Los überlassen werden. Jesus dreht die Bedeutung um und rüttelt damit am Selbstverständnis so mancher religiösen Zeitgenossen. Die Geschichte ist ein Gleichnis, keine journalistische Reportage aus der Hölle. Die Bibel hat mehrere solcher Kulturverweise, die keinesfalls als «biblische Wahrheit» genutzt werden können, dafür umso wichtiger sind als Werkzeug, um eine Botschaft zu übermitteln.

Religion und Politik

Religion kann auch zur Manipulation missbraucht werden. Das kann etwa in der Politik passieren. Auch die Politik selbst lebt von Geschichten, die wir einander erzählen (das Parteiprogramm). Manche Menschen sind offener für Religion als für Politik. Wenn man Politik als Religion verkauft, ist das nichts anderes als eine Ideologisierung bestimmter Ideen zum Zweck der Manipulation. Der amerikanische Evangelikalismus etwa ist stark von einer Verknüpfung von Politik und Religion geprägt. Die Ideologisierung hat die Religion zweckentfremdet. Dem kann man natürlich entgegenhalten, dass solches mit Glauben nichts mehr zu tun hat. Das stimmt natürlich. Hier, in diesem Beitrag, geht es jedoch um ein Verständnis für die Bedeutung von Geschichten. Geschichten sind menschlich. Deshalb funktionieren sie in zweckentfremdeter Religion und ebenso in der Politik.

Man kann Menschen danach fragen, welche Geschichten ihr Leben prägen. Vielfach verweisen sie an die Kirche, die Partei, die Religionsgemeinschaft, die als sinnstiftend angesehen werden. Das reicht als Antwort jedoch nicht. Man kann an dem Punkt weiterfragen, welche Geschichten dahinterliegen. Welche Geschichten prägen die Kirche, die Partei und die Religionsgemeinschaft? Die Frage nach Motiven und Beweggründen gibt einen interessanten Einblick.

Es sind die Geschichten, die wir einander erzählen, die Zugehörigkeit, Identität, Ausblick und Selbstverständnis schenken. Deshalb gehören viele gerne einer Kirche an, andere aber einem Fussballklub oder gehen ganz in der Familie auf. Sie kennen ähnliche menschliche Mechanismen, auch wenn die Situationen, worin das erlebt wird, grundverschieden sind. Dies kann erkannt werden: Jede Gruppe pflegt und erzählt eine eigene Geschichte.

Geschichten können uns erklären, weshalb oder wozu wir etwas glauben und tun. Unser Leben wird in einen grösseren Zusammenhang gestellt. Es ist hilfreich zu verstehen, welche Geschichten wir glauben wollen und was das mit uns macht. Ich habe neulich einen Film gesehen, der diese Mechanismen eindrücklich vor Augen führt.

«Die Fundamentalisten im Süden»

In diesem Jahr erschien der zweite Teil einer neuen Verfilmung von «Dune» vom kanadischen Regisseur Denis Villeneuve. Der Film basiert auf dem Kultroman «Dune» von Frank Herbert, der 1965 erstmals veröffentlicht wurde. Es wurden mehrere Bücher, mittlerweile schon Dutzende Bücher, und es gab bereits verschiedene Verfilmungen. Diese neue Reihe schreibt aus mehreren Gründen Kinogeschichte.

Weshalb erzähle ich das hier? Kino ist eine von vielen Methoden, eine Geschichte zu erzählen. Sie ist voller eigener Ästhetik, Philosophie und befasst sich mit vielen Aspekten des Zusammenlebens. Im zweiten Teil werden insbesondere Religion und Politik und ihre Verknüpfung herausgearbeitet. Ich kann etwas aus solchen Geschichten lernen, sogar dann, wenn ich nicht alles glaube oder meine folgen zu müssen. Das ist der Unterschied zu einer Ablehnung von allem, was nicht in der Bibel beschrieben ist.

Die Hauptfigur Paul Atreides ist in diesem Film so etwas wie ein weisser Messias in einer multikulturellen Umgebung. Er wird zur Projektionsfläche religiösen Fanatiker hochstilisiert. Sie werden die «Fundamentalisten im Süden» genannt. Sind die gut oder nicht gut? Das wird nicht beantwortet, aber man erhält einen Einblick in die Funktionsweise religiöser Leitbilder und darin, wie Menschen sich religiösen Vorstellungen hingeben. Eindeutig ist, dass diese Fundamentalisten im Süden eine Glaubenskraft haben, welche sie verbindet. Die Bezeichnung «Fundamentalist» ist keine Auszeichnung. Es ist eher problematisch. Politisch ist diese Gruppe jedoch von beachtenswerter Grösse, weshalb die Manipulation der Fundamentalisten besonders wertvoll wird. Welche sind die Ideen, womit diese Menschen erreicht werden?

Über die philosophischen Aspekte dieses Films gibt es bereits viele Videos. Einige Einblicke:

Geschichten erzählen

Was dieser Film hervorragend zeigt, ist die ideologische und manipulative Seite von Religion und Politik. Dahinter stecken sehr viel einfachere Mechanismen wie der Hunger nach Macht. Es geht jedoch auch in positivem Sinne um mehr als nur die Erfüllung von Hollywood-Fantasien. Gut und Böse sind Themen, aber es wird als Entwicklung skizziert, worin Personen fortlaufend Entscheidungen machen müssen. Es werden zahllose andere Themen berührt, wie Ökologie, Religion, Politik, Macht, Gewalt, Liebe und vieles mehr.

Durch all diese Dinge ist der Film nicht «gut» im Sinne eines evangelikalen Schwarzweiss-Denkens. Der Film ist dafür zu komplex. Es ist jedoch aussergewöhnliche Geschichtenerzählung. Der Film passt in unsere Zeit hinein, obwohl das Buch vor 60 Jahren geschrieben wurde. Bereits das ist erstaunlich. Es geht nicht um Theologie, aber es geht um das Erleben, um Ideen, um Gesellschaftsstrukturen und um eine Sicht auf die Zukunft. Es gibt erstaunlich viele Parallelen zu Theologie und Glaube.

Hier ist ein Gedankenspiel: Wenn wir unser Leben in dieser Welt, unsere Aufgaben zu anderen als Geschichten auffassen, wie möchten wir diese Geschichten gestalten?

Vertiefung

  • Was ist mit unserer eigenen Geschichte – aus welcher Perspektive möchtest Du die eigene Geschichte wahrnehmen?
  • Was ist mit der Geschichte der Menschen in unserem Umfeld – aus welcher Perspektive möchten wir damit interagieren?
  • Welche Art von Geschichten möchtest Du selbst weitererzählen – und weshalb?