Einige Male im Monat erreichen mich Zuschriften von Christen, die entschieden anderer Meinung sind als ich. Hier in diesem Beitrag nenne ich die Mechanismen, die ich dabei über die Jahre beobachtet habe. Eines möchte ich von Anfang an klarstellen: Meine Meinung spielt hier keine Rolle.

Widerspruch ist etwas Normales. Es kann aber auch die falsche Reaktion sein. Widerspruch kann schmerzhaft sein. Widerspruch hat nicht immer mit dem Widersprochenen zu tun, sondern mit demjenigen, der widerspricht. Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, spiegelt manchmal nur sich selbst. Darüber geht es in diesem Beitrag.

Zuspruch und Widerspruch

Es ist erstaunlich, was man auslöst, wenn man mit seinem Verständnis nach aussen tritt, wenn man mit Text oder Videos oder auf andere Art «öffentlich» wird. Das trifft für jeden zu, der das macht – egal mit welchem Thema. Das muss nicht auf einer Website sein. Wer etwa im persönlichen Gespräch dem Pastor seiner Gemeinde heikle Fragen stellt, kann schon mal direkten Gegenwind erleben. Wer sich kritisch über wahrgenommenen Missbrauch äussert, wird gerne sofort blockiert. Sogar, wer vielleicht nur andere Ideen evaluiert als in der Gemeinschaft stillschweigend akzeptiert werden, kann den Wind von vorn spüren. Plötzlich wird man Referenzpunkt für alle mögliche Reaktionen. Was mir andere Menschen berichten, deckt sich mit meiner eigenen Erfahrung: Der Widerspruch kommt oft «wie aus heiterem Himmel». Die Erkenntnis dabei: Menschen werden nicht gerne im eigenen Denken gestört.

Reaktionen sind einerseits gewollt und wunderbar, denn man ist bewusst nach aussen getreten. Wird man mit Schweigen begegnet, wäre das viel schlimmer. Natürlich gehört das Risiko dazu, dass man nicht verstanden wird. Und: Wer nach aussen tritt, muss nicht im Recht sein. Auch ich selbst verstehe nicht jeden auf Anhieb – leider. Wer eine Meinung äussert, wird sich unmittelbar von anderen Meinungen infrage gestellt sehen. Mit meiner Darstellung kann ich jemandem unbeabsichtigt unrecht tun. Dieses Risiko will ich jedoch eingehen, denn ich freue mich des Lebens und der Gnade Gottes und ich möchte mich darüber austauschen – ganz ohne Anspruch auf göttliche Fehlerfreiheit.

Einige der Reaktionen:

1. Zuspruch

Hier, auf dieser Website, teile ich bewusst, womit ich selbst gerungen habe. Es ist nicht mehr nur im persönlichen Gespräch, sondern von jedem nachzulesen und deshalb auch von jedem zu prüfen. Ich erhalte viele positive und dankbare Reaktionen, gerade von Menschen, die ähnliche Dinge erlebt haben und mit ähnlichen Fragen ringen.

Das sind aber nicht die einzigen Reaktionen.

2. Widerspruch

Selbstverständlich gibt es Menschen, die mit mir nicht einig sind. Das ist normal und gut und an sich kein Grund zur Sorge. Wir denken unterschiedlich. Darin ist viel Bereicherung. Dadurch können wir lernen. Wir sind einander geschenkt, und im besten Fall ist es so, wie man im Buch Sprüche liest:

«Eisen wird durch Eisen geschärft, und ein Mann schärft das Angesicht seines Nächsten.»
Sprüche 27,17

Nur ist es auffällig, wie viele mir das Angesicht schärfen wollen, in der vollen Überzeugung, sie sind die richtige Korrektur für meine «irrige Auffassungen». Wer mit persönlichen Fragen nach aussen tritt, macht oft dieselben Erfahrungen. Es folgt oft postwendend Widerspruch, insbesondere von Menschen, die sich selbst als «rechtgläubig» erachten, die anderen aber als «falschgläubig» einschätzen.

Nur ist es auffällig, wie viele mir das Angesicht schärfen wollen, in der vollen Überzeugung, sie sind die richtige Korrektur für meine «irrige Auffassungen».

Aus dieser Ecke kommen dann Verketzerungen, Unterstellungen, ebenso wie hilflose Ablehnung, Abgrenzung oder gar Ausschluss von Gemeindeaktivitäten oder der Gemeinde selbst. Gelegentlich entartet das: Mir wird der Glauben abgesprochen, mir wird eine dämonische Besessenheit unterstellt und weitere solche Dinge. Warum? Es ist Hilflosigkeit. Sobald man versucht, Dinge beim Namen zu nennen, rüttelt man damit offenbar an der Weltsicht anderer.

Einige fühlen sich durch eine kritische Auseinandersetzung in ihrer Weltsicht persönlich angegriffen. Andere meinen gar, die Welt vor mir beschützen zu müssen – man wird Zeuge der Geburt eines modernen Kreuzritters. Besonders schnell passiert das dort, wo man in Schubladen, in Kategorien von richtig/falsch denkt. Da diese Art von Schwarzweiss-Denken in evangelikalen Kreisen am meisten ausgeprägt ist, geraten Menschen in diesen Kreisen bei ernsthaften Fragen am ehesten in Not und Widerspruch. Was sind mögliche Auslöser für diese Art der Reaktion? Wir schauen uns das nachfolgend näher an. Für den Moment kann festgehalten werden:

Zuspruch und Widerspruch liegen ganz nahe beieinander. Beide sind real.

Mitstreiter und Kreuzritter

Es gibt noch weitere Reaktionen:

3. Mitstreiter gesucht

Da gibt es Menschen, Brüder und Schwester im Glauben, die Mitstreiter suchen. Nicht selten haben sich diese Menschen in die Vereinsamung gestürzt, weil sie sich in Sonderlehren oder besonderer Frömmigkeit und extravaganten religiösen Handlungen festgebissen haben. Als Reaktion wenden sich Bekannte, Freunde und Familie vermehrt von ihnen ab, während diese Menschen sich immer weiter in die eigene religiöse Welt zurückziehen. Das entnehme ich dann aus den E-Mails und Zuschriften.

Es ist darin eine Tragik enthalten. Doch verstehe ich das gut. Wie schön wäre es, könnte man einen Mitstreiter finden! Jeder möchte Verständnis und Akzeptanz erfahren. Deshalb werden mir manchmal Ideen und Gedanken unterbreitet, in der stillen Hoffnung, ich könnte mich davon begeistern lassen. Ich kann das nachvollziehen, auch wenn ich die Begeisterung nicht teile oder den Folgerungen nicht nachvollziehen kann. Ich bin oft zu nüchtern für solche Lehren. Es heisst so schön: «Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht». Keiner kann in allem mitgehen, was an ihn herangetragen wird.

Mut zur Lücke braucht es also, in Liebe und mit Verständnis für die Andersartigkeit des Gegenübers. Wir müssen nicht alles gutheissen und sind deshalb noch lange nicht mit selbstgerechter Haltung unterwegs. Manchmal braucht es eine klare Abgrenzung, insbesondere dann, wenn übergriffig reagiert wird. Sektiererisches Denken darf und soll man beim Namen nennen.

4. Moderne Kreuzritter

Eine vierte Art von Reaktion kommt nochmals aus einer etwas anderen Ecke. Ich nenne es mal die Ecke der Kreuzritter. Wer aus dieser Ecke kommt, bläst zum Frontalangriff. Man kennt mich nicht, sieht in mir aber den Grossen Feind, und beginnt eine E-Mail mit der Feststellung, dass ich völlig falschliege, unmittelbar gefolgt von der «richtigen Version der Wahrheit». Alles wohlverstanden «nur als Anregung», was eine Art Offenheit signalisieren soll, aber zutiefst missbräuchlich ist.

Wer sich bei diesen zwei Reaktionen wehrt, also kein Mitstreiter wird und der nicht selbstständig nach der ersten Drohung auf das Schafott klettert, der erfährt sofortigen Widerspruch, Verleumdung und all den anderen Dingen, die hier oben bereits genannt werden. Da wird das selbstsüchtige Ziel der Aktion schnell sichtbar. Man wird nicht selten umgehend in die Reihe der «unechten Christen» eingeordnet, weil man die hehren Zielen nicht unterstützt.

Diese Dinge passieren natürlich nicht allein im Internet. Nur scheinen dort die Schwellen niedriger zu sein, als wenn man jemand in einem Gespräch direkt gegenübersitzt. Die krassesten Reaktionen erhalte ich von Menschen, die ich nicht kenne und die mich auch nicht kennen.

Weil sich diese Erfahrungen endlos weiterziehen, bin ich mittlerweile nicht mehr zimperlich im Blockieren von Twitter-Konten, dem Sperren von YouTube-Kommentaren und Ähnliches. Manche erlauben es sich, Leute ungefragt auf eine Mailingliste zu setzen, um sie dann täglich mit ungebetenen Nachrichten zu bombardieren. Da wird dann der ganze Frust nach aussen projiziert und erstaunlicherweise reagieren diese Menschen auf keine persönlichen Anfragen. Sie sind persönlich nicht mehr erreichbar, trotz mehreren Anfragen, was äusserst tragisch ist. Auch diese Reaktionen werden von mir radikal abgestellt. Ich habe dafür ein E-Mail-Filter mit dem Titel «Reli-Spam» eingerichtet.

Andere halten es für unerhört, dass Sie keine Kommentare schreiben dürfen und versuchen, mich via Chatdienste oder anderweitig herauszufordern. Es kommt mir fast so vor, dass einige Zeitgenossen sich selbst nur spüren können, wenn Sie in massloser Selbstgerechtigkeit über andere herziehen können. Auch hier gibt es dann kurze Blockgeräusche, bis wieder Ruhe einkehrt. Die Ruhe, worin sich wieder mit anderen Menschen richtig austauschen lässt – auch bei unterschiedlichem Verständnis.

Leben mit Widerspruch

Das Leben ist anspruchsvoll. Oft ist es nötig, sich eine Meinung zu bilden, damit man den nächsten Schritt machen kann. Wer auf Lebens- und Glaubensfragen Antworten versucht zu finden, kann nicht nur in Fragen hängen bleiben. Es braucht bei einer fruchtbaren Auseinandersetzung auch den Mut, etwas – sei es nur als vorläufige Hypothese – als Antwort anzunehmen. Befindet man sich jedoch in einem schwarzweiss-denkendes Umfeld, dann gerät man schnell in Teufels Küche – gerne auch christlich getarnt.

Ein klein wenig Mut zu einer eigenen Meinung reicht bereits, von anderen Ablehnung zu erfahren. Wer in seinem Leben in schwierigsten Situationen den Mut aufbringt, sich neu zu orientieren, wer Missbrauch in einer der vielen Formen erlebt hat und sich daraus befreit, wird automatisch mit Widerspruch konfrontiert werden. Man hätte vor lauter Begeisterung klatschen können, tut es aber nicht. Stattdessen wird aus Angst reagiert, werden Gefahren gewittert und Warnungen ausgegeben. Je konservativer die Sicht, desto stärker die Reaktion. Für alle, die solche Entwicklungsprozesse bisher nicht durchlaufen haben, sind neue Überlegungen zuerst einmal «extreme» Sichtweisen, die schnell auf Ablehnung stossen.

Widerspruch erfährt man auch dort, wo man alte Strukturen aufbricht und zur Diskussion stellt, was nicht sein darf. Widerspruch ist hier bloss der Versuch, auf keinen Fall eine ernsthafte Auseinandersetzung zuzulassen, weil diese die Gefahr einer Änderung mit sich bringt. Besser sei es, alles beim vertrauten Weltbild zu belassen.

Der Widerspruch erzählt deshalb zuerst von der Abwehr des Sprechers, mehr als von der Sache, die widersprochen wird.

So verschieden die Reaktionen sind, spiegelt sich darin auch die Vielfalt unseres Menschseins. Wir denken nicht alle gleich, und müssen das auch nicht. Widerspruch ist primär eine Reaktion des Widersprechenden. Der Widerspruch erzählt deshalb zuerst von der Abwehr des Sprechers, mehr als von der Sache, die widersprochen wird.

Der Umgang mit anderen Meinungen

Seit etwa 40 Jahren setze ich mich aktiv mit einigen theologischen Themen auseinander. Diese Themen sind mir wichtig. Natürlich sind es nicht die einzig wichtigen Themen – es sind keine Steckenpferde. Die Auseinandersetzung hat mich dazu gebracht, alles zu lesen und zu vergleichen, was mir in die Finger kam. Ich habe verschiedenste Auslegungen und Argumente betrachtet, Texte nach dem Grundtext und dem Kontext ausführlich untersucht. Trotzdem bleibt alles, was ich denke, nur mein eigenes Verständnis.

Witzig kommt es mir mittlerweile vor, wenn Leute mir widersprechen, mit Argumenten, denen ich bereits vor 30 oder mehr Jahren auf den Grund gegangen bin. Nicht selten meint man, ich habe die Bibel nicht richtig gelesen. Man kann sich nicht vorstellen, dass die eigene verinnerlichte «biblische Lehre» vielleicht bei näherer Betrachtung gar nicht so biblisch ist. Überheblichkeit ist das Resultat – man meint mich schnell korrigieren zu müssen, verkennt aber die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung. Der Umgang mit anderen Meinungen muss gelernt sein. Das geht nur mit Demut und ehrlichen Fragen.

Leben mit Widerspruch ist deshalb anspruchsvoll. Ein Beispiel: Wenn jemand etwa meint, die Bibel lehre, dass der Mensch eine «unsterbliche Seele» hat, dann widerspreche ich dieser Ansicht mit dem Hinweis, dass der Gedanke in der Bibel nicht gefunden wird. Das ist keine Meinung, sondern eine Feststellung. Ich habe das festgestellt, indem ich mir die Mühe gemacht habe, alle über 800 Bibelstellen nachzuschlagen und im Kontext zu prüfen. Eine unsterbliche Seele wird nirgendwo erwähnt. Im Gegenteil wird von «toten Seelen» und dergleichen gesprochen. Mein Widerspruch ist das Resultat einer ernsthaften Auseinandersetzung.

Wenn wir widersprechen, kann das einen stichhaltigen Grund haben. Das heisst jedoch noch lange nicht, dass jemand anders diese Sicht teilen muss oder kann. Vielleicht fehlen die Steckdosen für den Stecker, den ich reiche. Vielleicht auch fehlen mir selbst die Steckdosen, um die mir gereichten Stecker einordnen zu können. Das Letzte ist mir öfter passiert. Ich habe manchmal Jahre gebraucht, Ansichten als wertvoll und «wahr» zu erkennen. Das gilt auch für Zusammenhänge in der Bibel. Ich habe Zeit gebraucht.

Nicht jedoch müssen wir auf Biegen und Brechen in allem übereinstimmen. Hören wir, was Paulus zu unterschiedlichen religiösen Einschätzungen sagt:

«Habe du den Glauben, den du hast, für dich selbst angesichts Gottes! Glückselig, wer nicht sich selbst zu richten braucht in dem, was er für bewährt hält.»
Röm 14,22

«Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, es ergriffen zu haben. Eins aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. So jage ich dem Ziele zu, nach dem Kampfpreis der Berufung Gottes droben in Christus Jesus. Alle von uns nun, die gereift sind, mögen darauf bedacht sein; und wenn ihr in etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dieses enthüllen. Indessen, worin wir andere überholen, sollte man gleich gesinntsein, um nach derselben Richtschnur die Grundregeln zu befolgen.»
Phil 3,13-16

Ist es also wichtig, recht zu haben? Natürlich nicht! Ist es wichtig, sich selbst kritisch zu hinterfragen? Selbstverständlich! Es gehört einfach dazu, dass wir – jeder für sich – eine eigene Meinung, ein eigenes Verständnis bildet. Das gilt auch für Glaubensfragen.

Im Umgang mit unterschiedlichen Meinungen geht es nicht darum, etwas entweder abzulehnen oder gutzuheissen. Paulus weist darauf hin, dass wir unseren Glauben vor Gott haben, und zwar nur vor ihm. Es braucht keine Projektionen auf andere Menschen. Entspannung ist angesagt. Er selbst schätzt sich so ein, dass er, der Apostel (!), es bisher nicht ergriffen hat. Er streckt sich aber danach aus, weil er ergreifen will, wozu er berufen wurde. Das ist die Glaubenshaltung, die nicht im Schwarzweiss-Denken steckenbleibt, sondern demütig dem Wirken Gottes Raum lässt. Paulus hat immer wieder klar Stellung bezogen, betont aber nicht seine Erkenntnis, sondern verweist auf Christus.

So möchte ich es auch handhaben.

Vertiefung

  • Man sagt, man ist weiterhin nicht frei, wenn man nicht herzlich über sich selbst und seine Erkenntnisse lachen kann. Wie siehst Du das?