Von Oskar Wilde stammt die Aussage «Ich bin nicht jung genug, zu meinen, dass ich alles weiss». Dieses Nichtwissen ist Begleiterscheinung vom Älterwerden. Man wird vorsichtiger mit Aussagen, hat auch eher schon mal gegensätzliche Dinge gehört und ist vielleicht nicht mehr ganz naiv. Man ändert sich, lernt dazu, und muss manchmal Dinge grundsätzlich neu überdenken. Wenn das mit Annahmen über die Bibel und dem Glauben geschieht, ist das vor allem für Evangelikale eine harte Nuss. Eine Wegleitung.

Bei mir hat es mit der vermeintlich biblischen Lehre angefangen. Es entstanden kleine Risse in das verinnerlichte Lehrgebäude. Immer noch fand ich sehr viele gute Dinge in meinem evangelikalen Umfeld, jedoch gab es ein Problem mit der Lehre. Dinge wurden als «biblisch» hingestellt, für die es keine Bestätigung in der Bibel gab. Es wurde viel über die Bibel und den Glauben gefolgert, ohne in der Schrift verwurzelt zu sein. Diese Diskrepanz sah ich immer deutlicher und an immer mehr Orten. So bröckelte mein Vertrauen auf das Lehrgebäude.

Was dann geschieht, nannte man vor 50 Jahren vielleicht eine Berichtigung dieser Bibellehre. Falsche Lehre wurde durch richtige Lehre ersetzt. Das trifft es heute jedoch nicht mehr. Heute geht es um mehr. Es geht nicht nur um Bibelverständnis, sondern auch um ein breiteres Glaubensverständnis. Dazu gibt es immer mehr auch Gemeinschaftsformen, die ausserhalb von Kirchen und Gemeinden entstehen. Nicht zuletzt geht es darum, eine rigide und mangelhafte Glaubensvorstellung loszulassen, um es durch etwas Besseres und Lebendigeres zu ersetzen. Heute spricht man oft von Dekonstruktion, wenn althergebrachte Annahmen abbröckeln, bis vielleicht nichts mehr da ist.

Wie gehen wir damit um?

Dekonstruktion und Rekonstruktion

Vor dem «Nichts» wird natürlich gewarnt. Gerade in evangelikalen Kreisen. Dann verliere man den Glauben, habe ich öfter gehört. Was tatsächlich geschieht, ist jedoch etwas anders: Man hinterfragt, was als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Da möchte ich manchmal laut rufen: «Die Risse in der Lehre – seht Ihr die nicht?».

Bei mir hat es mit der Lehre angefangen, bei anderen an anderen Orten, etwa bei rigiden Eingrenzungen oder Ausgrenzungen. Wenn eine Dekonstruktion beginnt, ist das auch Zeichen einer Neuorientierung. Manche verlassen nicht nur die Lehre, sondern auch die Gemeinde. Sie steigen aus. Einige werden Ex-Evangelikal, sind nicht mehr Christ und verlassen jede Glaubensvorstellung. Das ist aber bei Weitem nicht für jeden zutreffend. Dekonstruktion kann auch in Rekonstruktion weitergeführt werden. Dann spricht man eher von Post-Evangelikal.

Der Anlass für meine Dekonstruktion war die Auseinandersetzung mit der Bibel. Ich erkannte, dass so manche Lehre von der Bibel nicht bestätigt wird, sondern dem diametral gegenüberstand. Ich habe deshalb zwar eine Dekonstruktion erlebt, aber anhand der Bibel auch eine Rekonstruktion. Bewusst habe ich mir ein neues Glaubensverständnis erarbeitet. Das hat viele Jahre gebraucht und ich denke nicht, dass dieser Prozess je abgeschlossen sein wird. Denn nicht nur lerne ich, sondern ich werde älter, reflektiere anders und stelle fest, dass auch die Erde sich ein paar Mal gedreht hat. Ausserdem wandeln sich Gesellschaft, Kirche und viele weitere Dinge. Wir bleiben in einem Prozess begriffen. Heute stelle ich eher Fragen wie: Ist mein Glaubensverständnis offen für Änderungen? Hat mein Gottvertrauen Platz für Andere, auch wenn sie nicht so denken wie ich?

Viele Annahmen einer typischen evangelikalen Theologie teile ich nicht mehr. Das heisst jedoch nicht, dass ich etwa die Bibel nicht mehr ernst nehme. Vielmehr geht es darum, dass ich die ehemaligen Lehrgebäude nicht mehr ernst nehme. Es gibt weit lebendigere Sichtweisen, die m.E. viel besser auf die Bibel abgestützt sind.

Heute möchte ich andere dazu ermutigen, die Bibel mit neuen Augen lesen und verstehen zu lernen. Mein Bibelverständnis hat sich geändert, nämlich vertieft. Mein Glaubensverständnis hat sich geändert, nämlich erweitert. Ich bin nicht mehr in allem naiv und meine nun auch, dass ich nicht jung genug bin, alles zu wissen.

Herausforderungen meistern

Dekonstruktion ist oft anspruchsvoll. Manche Leute ringen ein Leben lang mit den verinnerlichten Lehren der Vergangenheit. Einige sind traumatisiert von rigiden und seltsamen Vorstellungen. Das soll man ernst nehmen. Nicht jeder kommt gelöst und befreit aus einer Dekonstruktion hervor. Gerade dafür lohnt es sich jedoch, sich einzusetzen. Es braucht dann weit mehr als nur bessere Antworte auf biblische Fragen. Es braucht ein neues Glaubensverständnis, das das Leben berührt.

Menschen, die eine Dekonstruktion wagen, wären für die Gemeinden eine kostbare Quelle guter Anregungen – wenn man sie ernst nimmt. Menschen, die aussteigen, wagen es, Glaube neu zu denken (Siehe den Beitrag: «Ausbruch aus starren Glaubensstrukturen»). Sie sind es, die Erneuerung von innen heraus vorantreiben können. Wenn sie jedoch die Gemeinschaft verlassen, gab es für einen solchen Prozess keinen Raum. Das hat in der Regel mit der Kultur der jeweiligen Gemeinschaft zu tun.

Wer eine Dekonstruktion wagt, kann das aufgrund verschiedener Fragen tun, beispielsweise:

  • «Hey, diese Lehre stimmt nicht – ich muss das mal angehen»
  • «Diese Enge in der Gemeinde ertrage ich nicht.»
  • «Diese Ausgrenzung Anderer nehme ich nicht mehr hin.»
  • «Warum sollte ich die Gemeinde ernst nehmen, die mich nicht ernst nimmt?»
  • «Gottes Liebe gegen seine Gerechtigkeit ausspielen? Nicht mit mir!»
  • «Glaube ist nüchtern und dadurch nicht das, was ich am Sonntag erlebe.»
  • «Religiöse Bevormundung? Nein, danke.»

Welcher Grund für Dich ausschlaggebend ist, spielt keine Rolle. Irgendetwas kann der Anstoss dazu sein, dass Du Dich mit dem bisherigen Glaubensbild auseinandersetzt und Althergebrachtes infrage stellst. Das ist in Ordnung und Du bist nicht allein mit solchen Überlegungen.

Es gibt zwei Seiten an einer Neuorientierung. Einerseits gibt es etwas, das man nicht mehr will. Andererseits gibt es etwas, das man positiv will. Es reicht nicht, nur eine Seite zu reflektieren. Will man gut durch die Dekonstruktion hindurchkommen, braucht es beide Dinge, vor allem aber ein Verständnis davon, was man positiv will.

Dekonstruktion bedeutet Abenteuer. Es ist, wie wenn man mit einem Schiff losfährt, ohne zu Wissen wann und wo man ankommt. Das kann man nur mit einem gesunden Selbstbewusstsein und/oder einem gesunden Gottvertrauen meistern. Hilfreich kann es dabei sein, wenn man realisiert, dass Gott nicht an die Lehren der Menschen gebunden ist. Nicht unser Verständnis ist ausschlaggebend, sondern Sein Wirken. Psalm 23 liest: «Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen». Das hat mich immer zuversichtlich gestimmt.

Grundlagen erarbeiten

Eine Rekonstruktion kann man auf verschiedene Arten angehen. Manche fangen an Theologie zu studieren, andere tauchen erst einmal in anderen Religionen unter. Wieder andere machen Gemeinde-Pause oder beginnen, konkrete Fragen anhand der Bibel zu untersuchen und kommen so zu einem neuen Verständnis. Rekonstruktion ist ein Prozess.

In diesem Prozess kann man selbst bewusst Weichen setzen. Wer die Lehre loslässt, – oder diese eine Form von Frömmigkeit, die man erlebt hat –, der kann nach Alternativen suchen. Wer eine Alternative suchen will, braucht dazu klare Fragen. Nur mit klaren Fragen kann es auch klare Antworte geben. Mit welcher Haltung und mit welchem Ziel wir danach suchen, ist nicht egal. Paulus gibt einen Rat in Form eines Gebets:

«Und dafür bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr in Erkenntnis und allem Feingefühl dazu überfliesse, dass ihr prüft, was wesentlich ist.»
Phil 1,9

Wer seine bisherigen Annahmen infrage stellt, ist in einem Umbruch begriffen. Das kann man sich wie eine Baustelle vorstellen. Einiges wird weggebrochen, anderes neu aufgebaut. Vorübergehend sieht es auf den ersten Blick etwas chaotisch aus. Manchmal fliegen da die Funken! Das sind nur Momentaufnahmen. Ein Prozess dauert länger und bedeutet Entwicklung.

Eine besondere Herausforderung gibt es für evangelikale Christen, die sehr bewusst die Bibel ernst nehmen, jedoch mit den Lehrmeinungen nicht mehr übereinstimmen. Schwierig ist das deshalb, weil oft die Lehrmeinung mit der Bibel gleichgesetzt wird. Es ist ein doppelter Befreiungsschlag, wenn man den Mut hat, einerseits die Lehrmeinung loszulassen und andererseits die Bibel trotzdem ernst zu nehmen (nun losgelöst vom Lehrgebäude und offen für neue Einsichten).

Ein neues Glaubensverständnis aufbauen

Im zweiten Teil dieser Mini-Serie wird es darum gehen, wie wir die Bibel mit neuen Augen lesen können. Die lehrmässige Prägung, die man erlebt hat, kann so stark in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass eine Renovation nicht möglich ist, sondern eine Rekonstruktion nötig wird. Man braucht Werkzeuge sowohl zur Dekonstruktion als auch zur Rekonstruktion. Genau wie das auf einer Baustelle vor Augen geführt wird.