Aufrichtigkeit schützt vor Irrtümern nicht. In diesem Beitrag möchte ich auf ein Phänomen hinweisen, dass ich selbst gelebt und an vielen Orten auch erlebt habe. Meine eigene Aufrichtigkeit hat mich nicht davor bewahrt, die Dinge etwas eng zu sehen. Dass ich vieles als «geistlichen Reichtum» erfahren habe, tut dem keinen Abbruch. Einiges war wirklich gut, anderes aber auch richtig schräg. An einem gewissen Punkt in meinem Leben waren die hier genannten Ansätze hilfreich. Später jedoch nicht mehr. Wie vertieft man den Glauben?

Was ist Vertiefung des Glaubens?

Ich arbeitete einmal für eine reformatorische Kirche. Hier beschrieb mir jemand in ansehnlicher Position fast klagend, dass einige immer eine Vertiefung des Glaubens anstrebten. Das hat ihn befremdet, denn er konnte sich dabei nichts vorstellen. Kirchengänger, welche nur aus Tradition zur Kirche gehen, dort vielleicht ein paar gute soziale Aspekte loben, jedoch selbst keinen Glaubensbezug haben, stehen Ausdrücken wie «Vertiefung des Glaubens» manchmal etwas hilflos gegenüber. In Freikirchen jedoch gehört das zum guten Ton. Dort nämlich steht ein persönlicher Glaubensbezug voran. Logisch, dass man sich dann auch eher darum kümmert.

In Freikirchen ist man dabei, weil genau dieser persönliche Bezug von Bedeutung ist. Eine «Vertiefung des Glaubens» ist dann wie selbstverständlich. Man sollte sich um den eigenen Glauben kümmern, und den Glauben pflegen, so wie man die eigene Gesundheit pflegt. Eine Vertiefung des Glaubens gehört dann zu dieser Glaubenskultur. Vertiefung und Pflege gehören zusammen. So habe ich das selbst immer verstanden. Glaube und biblische Inhalte interessieren mich, beflügeln mich und ich befasse mich gerne damit. Sie helfen mir, in meinem Leben eine positive Ausrichtung zu finden. Die frohe Botschaft der Gnade Gottes, verbunden mit einem klaren Ziel, hilft mir, mein Leben dankbar zu leben und regelmässig neu auszurichten.

Der Anfang: Mehr vom Gleichen

Die Richtung der Vertiefung scheint zuerst einleuchtend. Kurz beschrieben geht es um «mehr vom Gleichen». Man vertieft dort, wo man bereits gelandet ist. Hier merkt man auch, womit man sich bis dahin am ehesten auseinandergesetzt hat. Stehen etwa christliche Ideologien und Subkulturen im Vordergrund, dann geschieht die Vertiefung wahrscheinlich genau in diesen Bereichen. Es heisst nicht automatisch, dass man seinen Horizont erweitert, noch, dass man die biblischen Grundlagen eigener Annahmen prüft. Es ist eine Nabelschau. Die Verführung dazu ist besonders gross und keiner ist vor dem gefeit. Es erscheint eine menschliche Reaktion, zuerst nach Bestätigung für die eigenen Annahmen zu suchen. Je enger die Gemeinschaft, desto enger gedacht sind auch die Vertiefungsmöglichkeiten.

Das Selbstverständnis: Biblisch oder traditionell?

Immer mehr vom Gleichen ist in evangelikalen Kreisen besonders prägend, weil ein starkes Schwarzweiss-Denken vorherrscht, worin zwar die Bibel über alles gestellt wird, die Praxis jedoch bezeugt, dass man vor allem Ideologien («erstarrte Leitbilder») anhängt. Das äussert sich in moralisierenden Forderungen nach einem bestimmten Lebensstil, nach ausgesprochenen Meinungen darüber, was richtig und was falsch ist. Es gibt auch lehrmässige Steckenpferde, etwa Dinge wie «Hölle», «Freier Wille»,«Unsterbliche Seele» und dergleichen mehr, die unbedingt als «biblisch» geglaubt werden müssen, wenn man «richtig» glauben möchte.

Wer solche Dinge propagiert, hat die Bibel darauf noch nie darauf untersucht, sondern steht in einer bestimmten Tradition. Warum? Diese Begriffe fehlen in der Bibel, werden dort weder genannt noch erklärt. Ausserdem wurden sie weder von den Propheten noch von Jesus, noch von den Aposteln je gelehrt. Sie entstanden oft erst Jahrhunderte nach Abschluss des Neuen Testaments. Richtigerweise müsste man bekennen, dass man «traditionellen Vorstellungen anhängt». Mit «biblisch» hat das nichts zu tun. Mit dieser Unterscheidung geht es mir nicht um eine Beurteilung der jeweiligen Aussagen, sondern darum, dass man sich selbst und seinen Hintergrund realistisch einschätzt. Jeder darf von mir aus glauben, was er will, aber es hilft im Gespräch, wenn man passende Etiketten für die eigenen Annahmen verwendet.

Hier nun meine Hypothese:

«Die Vertiefung des evangelikalen Selbstverständnisses darf nur innerhalb der eigenen vier Wänden stattfinden.»

Die Betonung sei also auf «Vertiefung», «dürfen» und «die eigenen vier Wände» gelegt. Dabei ist das Bild der Vertiefung, dass man stärker in der eigenen Tradition hineinwächst. Viele realisieren das jedoch nicht und erfahren es als «Vertiefung des Glaubens». Dabei ist es oft nur eine Bestätigung des bisher Gelernten. Steht man ganz am Anfang, ist alles Lernen ein grosser Reichtum. Das soll unbedingt anerkannt werden. Dabei ist es egal, in welche Tradition man hineinwächst. Überall lässt sich etwas lernen. Wenn man lernt, dass etwas «biblisch» ist, so gehört das vorerst zum Gelernten. Man hat das selbst weiterhin nicht erprobt.

Die Falle der Rechtgläubigkeit

Richtig gegenüber falsch. Schwarz gegenüber Weiss. Dazwischen keine Schattierungen. So prägt sich enges Denken, worin für Entwicklung oder Differenzierung kein Platz ist. Eng denkende Gemeinschaften sind häufig legalistisch (gesetzlich) unterwegs und definieren, was in ihrem Verständnis richtig und verbindlich ist. Manchmal ist es nur für die Gemeinschaft eine Forderung. Es kann jedoch auch als Forderung gegenüber einer Gesellschaft ans Licht treten (etwa Ideen über Ehe oder Abtreibung, die mit Protestaktionen durchgesetzt werden sollen).

Rechtgläubigkeit verharrt nun in solchen Annahmen von richtig und falsch und verteidigt diese nicht selten gegen aussen, d. h. gegenüber Menschen, die nicht unbedingt in schwarzweissen Vorstellungen glauben und die eine andere Prägung haben. In einer solchen erstarrten Umgebung ist es nicht möglich, den Glauben zu vertiefen. Dort werden jedoch oft Bibellehrer hochgejubelt, die genau das aussagen und «vertiefen», was alle schon immer gedacht haben. Das ist die Falle der Rechtgläubigkeit.

Wie erkennt man eine solche selbstgerechte Haltung?

  • Aggression gegenüber jede vermeintliche Verletzung des Ideals
  • Verketzerung anderer.

Ein neues Selbstverständnis

Was man glaubt und weshalb man etwas glaubt, ist erlernt. Einiges kommt aus den ganz persönlichen Lebenssituationen, manchmal auch direkt aus traumatischen Erlebnissen heraus. Jeder hat eine bestimmte Prägung. Bei mir war es die Suche nach einem zuverlässigen Gott, die meine Ausrichtung prägte. Bei jemand anders ist es vielleicht etwas anderes. Einmal gefunden, habe ich dies selbstverständlich vertieft. Die Vertiefung des Glaubens fand in die Richtung statt, in der ich meine Fragen hatte. Das Selbstverständnis und Glaubensverständnis wuchs aus diesen Erkenntnissen. Das Wachstum dauerte aber nur solange, bis ich an die Grenzen des jeweiligen Verständnisses, der jeweiligen Lehre, stiess.

Einmal bei den Grenzen des Lehrverständnisses angekommen, geschah Folgendes: Ich erhielt Gegenwind und einige ermutigten mich, mich wieder einzufangen und innerhalb der anerkannten Vorstellungen der Gemeinschaft zu bleiben. Ich hatte einige dieser Vorstellungen aber als Ideologie und Tradition entlarvt und war mehr interessiert nach dem, was sonst noch in der Bibel zu mir wichtigen Themen genannt wurde. Ich wünschte mir einen ergebnisoffenen Austausch. Der Wunsch danach, auch mal über den eigenen Tellerrand zu schauen, wurde mir nicht immer mit Dank abgenommen. Ich erkannte, dass das Stehen in einer bestimmten Tradition den Blick für einen breiteren Horizont trüben kann.

Ein neues Selbstverständnis musste her. Dazu wurde ich durch die Bibel selbst ermutigt, die mir nirgendwo als eng oder einengend begegnet war. Wie konnte ich meinen Glauben vertiefen, ohne in die Falle der Selbstgenügsamkeit zu fallen und ohne auf die vier Wände vom Lehrgebäude meiner Glaubensgemeinschaft begrenzt zu sein? Aufrichtigkeit schützt vor Irrtümern nicht, erkannte ich. Deshalb musste ein anderes Verständnis her, damit es weiterging.

Eine neue Betrachtungsweise

Ein neues Selbstverständnis, dadurch eine wahre Vertiefung des Glaubens, kommt nicht durch mehr vom Gleichen, sondern gerade durch etwas anderes. Die Sicht muss breiter werden, um tiefer zu werden. Eine Vertiefung erhielt ich durch eine neue Betrachtungsweise meiner Anliegen. Dazu gehörte selbstredend eine bessere Erkenntnis von mir selbst, aber auch etwas anderes. Dies war die Sicht, dass alles wirkliche Leben Begegnung ist (Martin Buber, in «Ich und Du»). Ich begann alle Themen der Bibel, das Anliegen der Schrift, aus dem Anliegen der Begegnung heraus zu begreifen.

Ich habe angefangen, mein Verständnis der Bibel, meine Fragen und mögliche Antworten aus dem Blickwinkel der Begegnung zu formulieren. Eine Vertiefung des Glaubens kann, verstehe ich heute, nur durch Begegnung stattfinden. Dabei erkenne ich, dass Gott einmal «alles in allen» sein wird (1Kor 15,28), was auf eine Begegnung hin ausgelegt werden kann. Er wird nicht «etwas in wenigen», sondern «alles in allen» sein, was auf eine besondere Qualität dieser Begegnung hinweist. Das ist die Richtung. So erhielten viele Bibelworte eine gemeinsame, klare Ausrichtung.

Wie ist das jetzt mit einer Vertiefung des Glaubens? Wie gelingt das? Das Verständnis, das Herz, muss weit werden. Nur so kommt es zu einer Vertiefung. Wer eng denkt, muss weit werden. Paulus hält den Korinthern etwa vor «Werdet weit!» (2Kor 6,13).

«Unser Mund ist zu euch aufgetan, ihr Korinther; unser Herz ist weit geworden. Ihr seid nicht verengt in uns, sondern ihr seid verengt in eurem Innern. Zur gleichen Vergeltung aber (ich rede als zu Kindern) werdet auch ihr weit.»
2Kor 6,11-13

Wer im Herzen weit wird, vertieft seinen Glauben. Paulus hat das Anliegen, Dinge zur «Förderung und Freude im Glauben» beizusteuern (Phil 1,25). Damit hat eine Vertiefung im Glauben zu tun. Mehr Freude gehört dazu. Fehlt die Freude, bleibt die Förderung auf der Strecke und ebenso die Stärkung des Glaubens.

Nirgendwo liest man in der Bibel von einer «Vertiefung des Glaubens». Dort liest man eher Dinge wie dies:

«Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und allem Frieden im Glauben, damit ihr überreich seid in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.»
Röm 15,13 Elberfelder

Eine Vertiefung des Glaubens, wenn man so will, misst man nicht an mehr Wissen, sondern an Freude und Frieden im Glauben sowie einer konkreten Erwartung. Eine Vertiefung des Glaubens hat demnach mehr mit einem «Erwachsen werden» als mit spezieller Erkenntnis zu tun (vgl. Eph 4,11-14). Man könnte auch sagen: «Wozu müsste ein vermehrtes Bibelstudium führen? Worauf sollte man als Frucht achten?» Das wäre dann ein Gradmesser für die Vertiefung des Glaubens. Es geht demnach nicht um ein Gefühl, nicht um spezielle Erkenntnisse, nicht um eine Checkliste mit Errungenschaften, sondern um Freude und Frieden, sowie einen zuversichtlichen Ausblick. Wir sollten weit im Herzen und im Denken werden, um tiefer gehen zu können. Das äussert sich nicht in Besserwisserei, Überheblichkeit und Abschottung, sondern in Freude, Frieden und Ausblick.