In diesem fortlaufenden Studium zum Römerbrief stehen wir am Beginn eines neuen Abschnitts. Bei Kapitel 9 wechselt Paulus das Thema. Sprach er bislang über das Evangelium und über die Bedeutung für uns persönlich, wechselt das Blickfeld jetzt nach Israel. In den Kapitel 9–11 geht es um Israel aus nationaler Perspektive.

Christen haben ein Problem mit Israel

Der grösste Teil der Bibel richtet sich an Israel, an Israels Propheten und auch Jesus und alle Apostel waren Juden und demnach Teil des Volkes Israels. Wer als Nichtjude an den Gott der Bibel glaubt, liest also ständig über Israel, aber wer ist jetzt damit gemeint? Spricht Gott tatsächlich von Israel oder meint er «eigentlich» etwas anderes, nämlich «mich»? Thematisiert wird Israel jedoch selten. Dabei könnte man aus der Entwicklung der biblischen Geschichte viel lernen. Denn, sowohl Israel wie die übrigen Nationen haben ihren eigenen Platz in der biblischen Narrative.

Hier ein paar typische Reaktionen zum Thema Israel im christlichen Umfeld:

  1. Israel wird ausgeblendet
  2. Stellenweise sieht die Kirche sich immer noch als das «wahre Israel»
  3. Israel wird gehypt als «das Zeichen Gottes in der Welt»
  4. Israel soll als erstes Volk missioniert werden

Dies sind alles sehr problematische Sichtweisen. Warum? Der Reihe nach:

  1. Blendet man Israel aus, versteht man nicht, was die heutige Kirche ist.
  2. Ist die Ersatztheologie ein verkappter Antisemitismus?
  3. Wer Israel auf dem Podest stellt, zelebriert nicht die Bibel, sondern nur seine eigene Frömmigkeit
  4. Missionierung ist ein Problem, weil es das Evangelium für heute missachtet

Als Resultat all dieser Sichtweisen hat man ein Bild von Israel, das mit der Wirklichkeit oder mit der Bibel vermutlich wenig übereinstimmt. Die Hilflosigkeit ist jedoch nicht neu. In den ersten Gemeinden hatte man bereits damit zu kämpfen. Dies ist der Grund, dass Paulus das Thema im Römerbrief aufnimmt. Wie ist das jetzt mit Israel?

Sehen, Fühlen, Tasten – Israel als Projektionsfläche

Ein konkretes Problem mit dem Christentum ist, dass vieles sehr abstrakt ist. Das gilt zumindest für die Strömungen, die aus der Reformation hervorkamen, aber lässt sich auch andernorts beobachten. Glaube ist etwas, das im Denken stattfindet, im «Für-Wahr-Halten». Glaube ist damit etwas völlig anderes geworden, als es in der Bibel beschrieben wird. Das Resultat ist, dass viel christliche Theologie so abstrakt ist, dass der Kontakt mit der Welt etwas verloren ging.

Dem kann man natürlich entgegenwirken, wenn man nach «sichtbaren Zeichen Gottes in der Welt» sucht. Bietet sich dafür Israel nicht perfekt an? Israel wird sowohl in der Bibel erwähnt, als ist es auch eine existierende Nation im eigenen Land. Aussergewöhnlich, dass die Nation wieder aufgerichtet wurde und Israel heute als Land existiert. «Das ist Gottes Werk!» Und möge es so sein, es wird dadurch auch eine perfekte Projektionsfläche für alle mögliche (und unmögliche) Meinungen.

Sollte diese Beobachtung stimmen, dann führt der Mangel an «Sehen, Fühlen, Tasten» in der Christenheit dazu, dass man andere Projektionsflächen sucht. Israel bietet sich dafür an. Nüchtern ist das natürlich nicht, aber wem stört das schon? Einige beginnen, die alttestamentliche Regeln zu beachten, oder Äquivalenten aus der heutigen jüdischen Kultur: koscher essen, das Halten vom Sabbat, das Feiern jüdischer Feste und dergleichen mehr. Es sind Dinge, die (strikt genommen) nie den Nationen gegeben wurden. Israel scheint in für manche Christen schon fast die bessere Kirche zu sein. Ich möchte das hier nicht zur Diskussion stellen, aber halte fest, dass Israel ein ganz besonderer Anziehungspunkt für viele Christen ist.

Es gibt für extreme Israel-Fokussierten sogar einen Begriff. In Kontrast zu Antisemiten nennt man sie Philosemiten. Natürlich gibt es hier noch weitere Varianten. Zusammenfassend möchte ich festhalten: Christen haben oft eine wenig nüchterne Sicht auf Israel. Es mangelt auch auf breiter Front an einer aktiven Auseinandersetzung und es ist selten Teil der Gemeindekultur darüber nachzudenken, auch wenn es hervorragende theologische Auseinandersetzungen gibt (sowohl von jüdischer, wie von christlicher Seite).

Die Auseinandersetzung im Neuen Testament

Die Auseinandersetzung beginnt jedoch nicht in unserer Zeit. Sie lässt sich bereits im Neuen Testament nachvollziehen. Dort liest man bereits im ersten Kapitel vom ersten Buch:

«Sie wird einen Sohn gebären, und du sollst Ihm den Namen “Jesus” geben; denn Er wird Sein Volk von ihren Sünden retten.»
Mt 1,21

Dies ist die Ankündigung von der Geburt von Jesus. Sein Name Jesus entspricht dem hebräischen Yeshuah, dessen Wortstamm «retten» bedeutet. Er wird Sein Volk von ihren Sünden «retten». Das ist bereits im Namen enthalten. Sein Volk, das ist Israel. Die Kirche ist noch ausser Sichtweite. Es geht um Israel und nur um Israels Erwartung (vgl. Röm 15,8).

Danach passieren sehr viele Dinge. Jesus wird geboren und von vielen als Messias erkannt. Die Geschichte nimmt seinen Lauf. Viele langen Jahre ist die heutige Gemeinde aus allen Nationen kein Thema im Neuen Testament. Es gibt keine Kirche in den Evangelien. Das kommt erst später.

Wenn viel später Paulus als «Apostel der Nationen» (Röm 11,13, Römer 1,1 u. 1,5, vgl. Eph 3,2-3 u.a.) berufen wird und infolge seiner Arbeit viele Menschen aus den nicht jüdischen Völkern zum Glauben kommen, entsteht eine neue Situation. Liest man mit der Geschichte des Neuen Testaments mit, dann merkt man, dass es einerseits eine jüdische Gemeinde in Jerusalem gibt, und andererseits viele nicht jüdische (oder gemischte) Gemeinden ausserhalb von Israel. Dies wird immer wieder thematisiert.

Erstaunlich ist nämlich, dass die Verheissungen an Israel davon sprachen, dass die übrigen Nationen via Israel (durch Israel) gesegnet werden. Mit Paulus jedoch werden alle Unterscheidungen zwischen Israel und den Nationen für die Gemeinde aufgehoben und Neues entsteht. Nationen-Gläubige hätten ohne Vermittlung von Israel direkten Zugang zu Gott. Paulus schreibt eindringlich darüber in Epheser 2,13-18).

Wer aufmerksam liest, erkennt den Wandel in der Geschichte. Im Römerbrief weist Paulus darauf hin, wenn er schreibt:

«Denn wenn ihre jetzige Verwerfung der Welt Versöhnung ist, was wird ihre Wiederannahme sein, wenn nicht Leben aus den Toten?»
Röm 11,15

Das ist eine radikale Abwendung von den Annahmen der Propheten, dass via Israel das Heil, die Rettung, die Erlösung kommt. In diesem Beitrag werden wir diese Aussage nicht weiter erklären. Wir kommen später darauf zurück. Was jedoch auffällt, ist diese Änderung in der Beziehung von der Position Israels gegenüber den Nationen. Das war nicht von Anfang an so, aber es hat sich so entwickelt. Paulus spricht das an. Paulus versucht zu klären, was in den Gemeinden unklar ist.

Unklar ist die Position von Israel im Vergleich mit den übrigen Nationen. Unklar ist auch die Beziehung zwischen Israel einerseits und den Glaubenden aus allen Nationen andererseits. Das muss auf den Tisch kommen. Paulus macht das ausführlich in den nächsten Kapiteln vom Römerbrief. Römer 9 bis Römer 11 spricht er ausführlich über Israel.

Paulus und Israel

An mehreren Orten im Neuen Testament finden wir ausführliche Einschätzungen vom Apostel Paulus zu Israel. Hier, im Römerbrief, beginnt das neunte Kapitel mit folgenden Worten:

«Wahrheit rede ich in Christus (ich lüge nicht, mein Gewissen bezeugt es mir in heiligem Geist):
Grosse Betrübnis ist in mir und unablässiger Schmerz in meinem Herzen – denn ich wünschte, selbst von Christus hinweg verbannt zu sein – für meine Brüder, meinen Stammverwandten dem Fleische nach, die Israeliten sind …»
Röm 9,1-4

Paulus ist betroffen. Er möchte hier seine Sicht darlegen, erklären, wie es mit Israel und mit den Nationen ist. Davon sprechen die nächsten Kapitel. Es ist eine sehr spannende Geschichte, in der mit vielen Meinungen über Israel radikal aufgeräumt wird. In diesem Sinne ist es eine heilsame Geschichte, mit gutem Ausblick, sowohl für Israel, als auch für die Nationen und die gesamte Welt.

«Denn Gott schliesst alle [Juden und Nichtjuden] zusammen in Widerspenstigkeit ein, damit Er Sich aller erbarme.»
Röm 11,32