Immer wieder bin ich erstaunt, mit welcher Überzeugung Menschen von der Richtigkeit des eigenen Denkens überzeugt sind. Nicht selten führt diese Haltung zu kuriosen Feststellungen, etwa dass Jesus es genau so sieht, wie man das selbst gerade gesagt hat. Da bin ich kurz sprachlos und steige schnell aus dem Gespräch aus. Man wäre versucht noch einmal zu rufen «Schön, dass Jesus es wie du siehst!». Besser, ich unterlasse das.

Nicht jeder ist sich bewusst, dass die liebgewonnene Ansicht bloss eine Interpretation ist, die man der Aura der Unfehlbarkeit zumisst. Man verwirrt Interpretation mit biblischer Aussage und meint, die Aussage müsse wohl dieses oder jenes ausdrücken, nämlich genau das, was man selbst denkt. Es ist ein religiöser Kurzschluss, eine Projektion eigener Gedanken auf die Worte der Bibel, die dann plötzlich Allgemeingültigkeit erlangt.

Ich verstehe jedoch auch, dass jedes Rütteln an liebgewonnenen Ansichten als Bedrohung wahrgenommen wird. Das verunsichert. Vielleicht könnte man daraus ableiten, dass viele Menschen in ihren Glaubensvorstellungen eine Sicherheit suchen, die sie sonst nicht haben. Selbstreflexion hat mich zu dieser Aussage gebracht.

Die Suche nach Zuverlässigkeit

Meine Suche nach Gott war einmal eine Suche nach Zuverlässigkeit. Ich hatte als Teenager entdeckt, dass mein Verständnis begrenzt war. Ich erkannte gleichzeitig, dass dies für alle Menschen zutraf. Wo finde ich Zuverlässigkeit? Das war der Startschuss dazu, mich auf die Suche nach Gott zu machen. Gäbe es einen Gott, der diese Bezeichnung verdient, wäre es vielleicht ohne die menschliche Unvollkommenheit und Begrenztheit. Ich war mir dessen nicht sicher, aber es wäre einen Versuch wert, das mal zu fragen.

Sicherheit oder Zuverlässigkeit waren wichtig für mich selbst und ich erkenne eine ähnliche Thematik bei vielen anderen Menschen. Kaschiert Glaube nun bloss die eigene Unsicherheit? Einige machen den Umkehrschluss, dass Glaube bloss die Kaschierung der eigenen Unsicherheit wäre, um damit Glaube zu diskreditieren. Das wäre jedoch eine fast naive Vereinfachung. Menschen entwickeln sich. In dieser Entwicklung gibt es Themen von Bedeutung. Sie haben mit uns selbst zu tun, wie wir ticken und was wir bislang an Erfahrungen gesammelt haben. Die Auseinandersetzung gehört zum Menschsein, und alle Erfahrungen spielen dort eine Rolle. Damit man ein Umdenken wagt, gibt es häufig einen Startschuss, einen Anlass, eine Ausgangsfrage. Das gilt m. E. bei jeder neuen Ausrichtung des Lebens, bei jeder «Bekehrung».

Unsicherheit ist bei vielen Menschen ein Thema. Nicht selten wird das kaschiert, etwa mit Überheblichkeit, Narzissmus, Besserwisserei und dergleichen mehr. Jesus etwa hatte immer wieder mit den selbstgerechten religiösen Führern seiner Zeit zu tun. Auch heute gibt es Menschen, die meinen, sie sind besser, richtiger, sündloser und heiliger als andere. Sie werden am ehesten dazu verführt, zu denken, dass «Jesus es genauso sieht wie ich».

Denkt Jesus wie ich selbst?

Wohl kaum, lautet die Antwort. Diese Fehleinschätzung zeigt bloss Ignoranz. Es ist eine Ignoranz sowohl der Bibel als auch der eigenen Tradition gegenüber. Wer seine heutige Erkenntnis als Jesus’ Meinung und endgültige Wahrheit interpretiert, hat sich selbst zu Gott erhoben. Wer eine absolute Erkenntnis sucht oder vorgegaukelt bekommt, steht von dieser Erwartung unter Druck. Religiöse Anforderungen können Menschen in hohe Not versetzen.

Denken wir an der Unsicherheit, womit viele zu kämpfen haben, so ist es eine falsche Sicherheit, sich selbst oder sein eigenes Verständnis als Massstab aller Dinge zu sehen. Es heisst nicht, dass wir nichts wissen können, sondern die Erwartung absoluter Erkenntnisse ist weder realistisch noch hilfreich. Dagegen spricht auch, dass sektiererische und ideologische Ansichten nie hinterfragt werden dürfen. Deren grösste Attraktivität ist die Unfehlbarkeit, die vermeintliche Sicherheit. Tatsächlich ist das bloss eine Projektion.

Der Weg hinaus aus dieser Falle muss kein Abschied an den Glauben sein. Solange wir die Sicherheit in der Erkenntnis suchen, können wir die Erkenntnis nicht loslassen. Kann man stattdessen die Sicherheit in Gott selbst legen, dann muss die Erkenntnis nicht zwingend Teil davon sein. Man wäre frei, sein Verständnis anzupassen, ohne, dass dadurch das persönliche Glaubensverständnis tangiert wäre.

Es gibt noch einen dritten Weg: Wir akzeptieren unser Sein in dieser Welt als gottgegeben und gehen von unserer menschlichen Existenz aus, statt von übergestülpten religiösen Erwartungen. Wir sind Mensch, weil uns Gott so erschaffen hat. Wir können und dürfen unser Menschsein erfüllen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, wie wir hier leben. Das ist keine religiöse Sicht, sondern eine pragmatische Erkenntnis. Wie wir nun als Mensch auf und in dieser Welt leben, ist erst eine weitere Frage. Es ist nicht der Ausgangspunkt, sondern die Ausarbeitung vom Ausgangspunkt. Zuerst geht es darum, worin unser Leben verankert ist.

Diese drei Möglichkeiten sprechen von der Verankerung unseres Lebens:

  1. Verankerung in religiösen Annahmen, als Ideologe («etwas» glauben)
  2. Verankerung in Gott, als Gläubiger («jemand» vertrauen)
  3. Verankerung in dieser Welt, als Mensch (nüchterne Ausgangslage).

Viele Christen werden sagen, wir müssen Punkt 2 folgen. Wir sollten in Gott verankert sein. Ich kann dem zustimmen, aber denke, dass dies nie die Ausgangslage sein kann. Wir sind zuerst Mensch, bevor wir als Mensch etwas denken können. Auch Adam musste zuerst Mensch sein, bevor Gott ihn ansprechen konnte.

Die Reihenfolge dieser Punkten müsste vielleicht in umgekehrter Reihenfolge betrachtet werden. Wir sind zuerst Mensch, der erst dann als Mensch und vollkommen unvollkommen vertrauen, nämlich glauben kann. Wer sich dann festbeisst in Gegenüberstellungen wie richtig und falsch und bestimmten Ansichten, kann zum Ideologen werden.

Vielleicht liegt die Kunst darin, den letzten Schritt nicht zu machen, sondern stattdessen stets lernbereit zu bleiben. Kritisch ist dieser letzte Schritt, weil hier sektiererische Haltungen entstehen. Wer immer darin gefangen wird, lebt nicht aus Vertrauen, sondern aus der Zustimmung rigider Vorstellungen.

Ideologien entlarven

Mehrere Beiträge hinterfragen selbstgerechte Darstellungen und sektenähnliche Prägungen. Wie kann man das erkennen und wie den Weg hinausfinden? Einige weiterführende Links:

Sind Freikirchen Sekten?Religiöser Missbrauch ist traumatisierend