Muss ein Christ «fromm» sein? Die Frömmigkeit mancher Menschen kann andere Menschen vom Glauben abschrecken. Frömmigkeit wird mit Engstirnigkeit verknüpft, mit falscher Demut und dadurch auch mit Dingen wie «ich glaube nicht, dass du wirklich so bist, wie du vorgibst». Glaube hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, das wir ernst nehmen sollten. Ich traue mir das zu sagen, weil ich einst selbst eine falsche Frömmigkeit aufgesessen war. Ein guter Ausgangspunkt für eine Neuorientierung in Sachen Frömmigkeit findet man im Römerbrief. Christus starb nicht für die Frommen.

In Römer 5 schreibt der Apostel Paulus:

«Doch, als wir noch schwach waren, noch gemäss der jetzigen Frist, starb Christus für die Unfrommen. – Für einen Gerechten wird nämlich kaum jemand sterben.»
Röm 5,6-7

Das Ende religiösen Verhaltens

Christus starb für die Unfrommen, schreibt Paulus. Denn, fügt er hinzu, für einen Gerechten würde wohl kaum jemand sterben. Eine klare Sprache, die das Ende von allem religiösen Eifer bedeutet. Christus starb nicht für fromme Eiferer, nicht für Menschen, die peinlichst genau alle «Regeln» befolgten oder sich versuchten «Gott zu nähern». All das wird nicht mit dem «Tod von Christus belohnt». Das wäre irrsinnig. Christus starb nicht für Frommen, Er starb für die Unfrommen.

Er doppelt nach, wenn er schreibt, dass wohl kaum jemand für einen Gerechten sterben würde. Das wäre nicht nötig gewesen. Wer bereits gerecht ist, braucht keine Lösung für die Entfremdung von Gott, keine Erlösung. Es muss bei einem Gerechten nichts wiederhergestellt werden, nichts repariert werden. Ein Gerechter ist bereits gerecht, deshalb wird er so genannt! Wozu braucht ein solcher Mensch dann noch Gottes Gerechtigkeit, die Er am Kreuz bewirkt hat? Wer bereits gerecht ist aus eigener Anstrengung, hat keinen Bedarf für die Gnade Gottes.

Paulus ist nüchtern. Unglaublich nüchtern. Er hat bereits früher im Römerbrief festgehalten, dass kein Mensch gerecht ist (Röm 3,10). Es gibt auch keinen, der Gott ernstlich sucht (Röm 3,11). Alle Menschen sündigten, verfehlten das Ziel, und ermangeln der Herrlichkeit Gottes (Röm 3,23). Alle Menschen leiden an einer Mangelerscheinung. Das ist jedoch ein schroffer Kontrast zu den frommen Anstrengungen mancher Menschen, oder zu den Regelwerken menschlicher Religion.

Das Evangelium, die Frohe Botschaft, welche Paulus verkündigt, geht in eine ganz andere Richtung. Keiner ist zwar gerecht, aber jeder erhält Gottes eigene Gerechtigkeit umsonst (Röm 1,15-16, Röm 3,21-24). Diese Art der Predigt steht quer auf jede menschliche Anstrengung.

Nachdem der Apostel in Kapitel 3 und 4 diese Gerechtigkeit Gottes für jeden Menschen erklärt hat, entwickelt er in Römer 5 Gedanken über die Auswirkungen dieser Botschaft. Immer weitere Kreise werden gezogen. In diesen Versen schaut er zurück und skizziert einen Kontrast mit der Zeit, bevor wir zum Glauben kamen. Paulus erinnert uns daran, wie es vorher war und nachher wurde.

«Denn als wir noch schwach waren …»
Röm 5,6

Das schreibt er der Gemeinde in Rom. Er schreibt den Gläubigen. Sie sollen nicht vergessen, wie es vorher war. Paulus sagt: Dazumal, als ihr noch schwach wart, noch ohne Glauben in dieser Welt lebtet, da starb Christus für euch! Es gilt zu bedenken, dass Kreuzigung und Auferstehung erst wenige Jahren zuvor geschehen waren. Viele Menschen lebten bereits, als die Kreuzigung in Jerusalem vollzogen wurde. Paulus referierte daran, dass die Menschen in Rom dazumal nur ihr eigenes Leben gelebt haben und von all dem nichts wussten.

Dieser Umstand, dass Jesus starb, als die meisten Menschen nichts-ahnend ihr eigenes Leben lebten, nimmt Paulus nun zum Anlass über die Absicht Gottes zu reden. Erst später kamen die Römer zum Glauben. Eine falsche Frömmigkeit, die Paulus hier nicht erwähnt, kann schnell Einzug halten. Deshalb nun der Vergleich: Ihr wart noch ahnungslos, als Christus für Euch starb. Er starb also nicht wegen eurer guten Absichten, euer tadelloses Verhalten oder wegen eurer frommen Ansichten. All das traf nicht zu. Christus starb für Unfromme!

Gottes Handeln zentral

Paulus lehnt die Frömmigkeit nicht ab. An anderer Stelle schreibt er «Wohl ist die Frömmigkeit ein grosses Kapital …» (1Tim 6,6). Dort ist der Zusammenhang jedoch ein anderer. Hier im Römerbrief geht es um eine Klarstellung. Gottes Handeln fand statt, als du noch ahnungslos warst. Es hat nichts mit deiner oder meiner Anstrengung zu tun. Wir haben das Handeln Gottes nicht ausgelöst. Er tat das von Sich aus. Wir kommen erst später.

«Denn, als wir noch schwach waren, noch gemäss der jetzigen Frist, starb Christus für die Unfrommen. – Für einen Gerechten wird nämlich kaum jemand sterben; doch für die gute Sache würde jemand vielleicht noch zu sterben wagen.»
Röm 5,6-7

Paulus stellt immer Gottes Handeln zentral. Wir waren nicht gerecht. Dafür würde Gott wohl kaum Seinen Sohn senden. Es fangt ganz bei Ihm an. Daraus entspringt die radikale Kraft des Evangeliums der Gnade. Daran erkennen wir jedoch auch die Absicht Gottes und seine Liebe.

«Gott aber hebt uns gegenüber Seine Liebe dadurch hervor, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren.»
Röm 5,8

Gottes Liebe wird hervorgehoben, weil sie selbstlos und ohne Mitwirkung geschah. Gott liebt Selbst. Wir haben nichts damit zu tun. Das beweist Seine Liebe. Christus starb für die Unfrommen, nämlich für die Römer und jeden anderen Menschen, als sie noch Sünder waren. Gott braucht unsere Zustimmung nicht, dafür, dass Er uns liebt.

Gottes Liebe hat Folgen

Paulus baut seine Argumentation Schritt für Schritt auf. Nun fasst er diese Worte zusammen und leitet einen Zuspruch daraus ab:

«Wieviel mehr folglich
werden wir, nun in Seinem Blut gerechtfertigt,
durch Ihn vor dem Zorn gerettet werden!»
Röm 5,9, vgl. 1Th 1,10

Der Zorn Gottes hat Paulus bereits in Kapitel 1 erwähnt: «Denn enthüllt wird der Zorn Gottes vom Himmel her …» (Röm 1,18). Verwechseln wir den Zorn Gottes nicht mit dem Endgericht. Der Zorn Gottes ist das Gericht, welches Gott «vom Himmel her» über die Erde bringt. Davor werden wir jedoch gerettet, schreibt er hier. Was wird mit diesem Zorn Gottes gemeint?

Der Zorn Gottes

Paulus lebte aus einer Naherwartung. Die Propheten von Israel hatten von einem kommenden messianischen Reich gesprochen. Wenn auch die Gemeinde nicht Israel ist, wird doch ein Zorn Gottes erwartet, wie davon berichtet wurde. Es geht hier nicht um etwa um ein Endgericht oder um ein Jenseits, sondern um ein Gerichtshandeln Gottes hier auf dieser Welt. (Wer mit dieser Idee nicht vertraut ist, kann einfach alle Stellen in der Bibel nachschlagen, wo vom Zorn Gottes die Rede ist. Überall spielt sich das auf der Erde ab.)

Der Zorn Gottes wird beim Anbruch vom Tag des Herrn sichtbar, wenn die Aufrichtung des messianischen Königreiches unmittelbar bevorsteht. Es ist ein Gericht auf Erden, und es leitet hinüber in die messianische Verheissungen (Mt 24 und 25, vgl. Jes 13,9, Röm 2,5). Die Gemeinde wird diesen Zorn kommen sehen, aber nicht hineingeraten (Röm 5,9, 1Thess 5,9, 1Thess 1,10).

Vor dem Zorn gerettet

Paulus schreibt, dass wir «vor dem Zorn» gerettet werden, bzw. «aus des Zornes Kommen» (1Thess 1,10). Deshalb geht es hier um Zeit. Das ist wichtig, wenn wir den Text verstehen möchten. Wir werden nicht «vor dem Zorn» gerettet, sondern zeitlich «vor dem Zorn» gerettet. Das ist auch logisch, denn Paulus spricht hier von Rettung, nicht erklärt er hier Zorn (das tat er bereits im ersten Kapitel). Natürlich trifft beides zu, denn wer vor dem Zorn gerettet wird, wird ebenfalls vor dem Zorn gerettet.

Paulus ermutigt. Wenn Gott uns seine Liebe schon bezeugt, ist dadurch nicht klar, dass Er uns auch vor dem Zorn rettet? Bedeutsam ist, dass Paulus das persönliche Glaubensverständnis von den Menschen in Rom in einen weit grösseren Kontext stellt. Natürlich wussten die Gläubigen in Rom, dass Gott in der Welt wirkt, und nicht nur im persönlichen Leben (das geht heute oft etwas verloren). Paulus möchte, dass sie das persönliche Erleben auf der Grundlage von Kreuz und Auferstehung würdigen, jedoch daraus auch verstehen, welche Position sie in dem viel grösseren Plan Gottes haben. Als Erstes würde nach den Worten der Propheten weltweit ein Zorn Gottes sichtbar werden. Deshalb erwähnt Paulus das hier. Das entspringt der damaligen Erwartung und keiner hat gewusst, dass wir 2000 Jahre später diese Zeilen noch einmal lesen.

Am richtigen Ort «andocken»

Halten wir am Schluss noch einmal fest, warum es wirklich geht. Es geht um Gottes Wirken, das ohne unser Dazutun in Christus stattfindet. Er starb für die Unfrommen. Da kann ich «andocken», denn so bin auch ich gemeint. Wenn wir diese Erkenntnis «scharf halten», löst sich viel irreführende Frömmigkeit.