In diesem fortlaufenden Studium über den Römerbrief kommen wir zu einer Bibelstelle, die häufig ohne Kontext zitiert wird. Deshalb ist es sehr aufschlussreich, einmal genauer hinzuschauen.

Wie sollten sie nun Ihn anrufen, an den sie nicht glauben?
Wie aber sollten sie an den glauben, über den sie nichts hören?
Wie aber sollten sie von Ihm hören, ohne einen, der heroldet?
Wie aber sollten sie herolden, wenn sie nicht beauftragt werden?

So wie geschrieben steht: Wie lieblich sind die Füsse derer, die ein Evangelium des Guten verkündigen!

Römer 10,14-15

Was haben die ersten Zuhörer verstanden?

Immer wieder besteht die Gefahr, dass wir diese und ähnliche Texte aus ihrem Kontext herauslösen, um sie dann willkürlich zu interpretieren. Dieser Text wird gerne dazu genutzt, die Anliegen einer Mission zu begründen. Selbstverständlich lässt sich der Text so anwenden, solange wir uns bewusst sind, dass der Schreiber etwas ganz anderes vor Augen hatte.

Die erste Frage soll immer sein: Was hat der Schreiber gesagt und gemeint und mit welchem Zweck genannt? Dazu gehört die andere Seite: Was haben die Zuhörer verstanden?

Der Text im eigenen Kontext zu interpretieren, ist immer der erste Schritt zu einem Verständnis. Warum geht es hier? Der Text steht in drei Kapiteln (Römer 9–11), die ganz bestimmten Fragen gewidmet sind. Es geht um Israel, und um die Frage, wie es mit Israel weitergeht. Das war eine bedeutende Frage, denn in den Evangelien und im Anfang der Apostelgeschichte ging es um die Aufrichtung des Königreiches für Israel (Röm 15,8; Apg 1,6).

Eine Mission an alle Nationen fand nicht statt. Deshalb reden diese Verse vielleicht nicht von heutigen Interpretationen, sondern eher doch von den Menschen und Erwartungen damals. Es wird vielleicht gar nichts über die «ganze Welt» ausgesagt, sondern wir bewegen uns hier in einem bestimmten Kontext.

Um das festzustellen, müssen wir nicht nur wissen, was Paulus vorher im Brief schrieb, sondern wir müssen auch sorgfältig zuhören, wie die Dinge gesagt werden. Dies schrieb Paulus gerade zuvor:

«Denn die Schrift sagt: Jeder, der an Ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden. Denn es ist kein Unterschied zwischen einem Juden und einem Griechen; denn alle haben denselben Herrn, der Sich an allen reich erweist, die Ihn anrufen.»
Röm 10,11-12

Der Apostel verbindet die Glaubende aus Israel mit den Glaubenden aus allen Nationen. Er schreibt an die Gemeinde in Rom. In dieser Gemeinde sind beide Gruppen vertreten. Es sind alle Gläubige. Derselbe Herr, der sich an allen reich erweist – das betrifft eben Juden und Griechen. Dabei richtet sich der Apostel hier – in diesem Brief an die Gemeinde in Rom – an Gläubigen. Es ist keine Aussage über alle Juden und alle Nationen. Solches wird nur hineininterpretiert.

Die Juden hatten Eifer für Gott, jedoch nicht in rechter Erkenntnis, schrieb er vorhin (Röm 10,2). Sie strebten eine eigene Gerechtigkeit an, statt auf Gottes Gerechtigkeit zu bauen. Diese Problematik verschwindet nicht automatisch, wenn man zum Glaubenden wird und realisiert, dass Gott Seine Gnade durch Jesus sichtbar und wirksam macht. Aus den vielen Briefen von Paulus können wir entnehmen, dass er sich immer wieder mit religiöser Überheblichkeit in der Gemeinde auseinandersetzen musste, ebenso wie Jesus das in Seinem Dienst tat. Heute hätte er Seine Worte vielleicht an die Gläubigen aus den Nationen richten müssen, wegen der Selbstgerechtigkeit unter den Nationen-Gläubigen.

Der sich allen reich erweist

Der Weg zu Gottes Gerechtigkeit ist über Glauben. Dann nämlich könnten sie sehen, dass Juden wie Nationen denselben Herrn haben, der sich an allen reich erweist, die ihn anrufen, nämlich an sowohl Juden in der Gemeinde, wie an Nationen-Gläubigen in der Gemeinde.

«Denn jeder, der den Namen des Herrn anrufen sollte, wird gerettet.»

Röm 10,13

Oft wird dieser Vers auf Ungläubige angewendet, als geht es darum, etwas auszuschliessen (wie: «du rufst den Namen eben nicht an»). Man trennt, weil man über den Text hinaus folgert, was nicht da steht. Man folgert, dass die Betonung auf «jeder, der dies und das macht» liegt. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Betonung liegt auf «jeder» in Kontrast zu «einigen». Paulus war es ein Anliegen festzuhalten, dass jeder in der Gemeinde gleich steht vor Gott. Es gilt die gleiche Gnade, die gleiche Berufung. Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. Nicht: Einige von denen, die den Namen des Herrn anrufen, werden gerettet!

Lesen wir den Text so, wie hier aufgeführt, verschwinden viele Widersprüche. Es geht nicht um Ausschluss von Ungläubigen, sondern um Einschluss aller Gläubigen (und nicht nur ein Teil der Gläubigen). Die Rede ist von Gläubigen in der Gemeinde.

Aufforderung zu glauben?

Häufig werden diese Verse als Aufforderung interpretiert «zu glauben, damit man nicht verloren geht». Das wird aber mit keinem Wort erwähnt. Bei dieser Interpretation wird man aufs falsche Bein gesetzt. Es geht nicht darum, auszuschliessen, sondern geradezu einzuschliessen.

Die Betonung liegt auf «jeder, der den Namen des Herrn anrufen sollte», sodass sowohl die Juden wie die Griechen aus dem vorhergehenden Vers eingeschlossen sind. Sie werden sozusagen auf dieselbe Stufe gestellt. Paulus verbindet. Er stellt klar, dass Israel von jeher nur auf Gottes Wirken hätte vertrauen sollen. Das gilt auch für die Gläubigen aus den Nationen.

Der Ausblick auf die Wiederherstellung von Israel

Nun kommen wir zum eigentlichen Abschnitt. Er schreibt:

«Wie sollten sie [Israel!] nun Ihn anrufen, an den sie nicht glauben?
Wie aber sollten sie an den glauben, über den sie nichts hören?
Wie aber sollten sie von Ihm hören, ohne einen, der heroldet?
Wie aber sollten sie herolden, wenn sie nicht beauftragt werden?
So wie geschrieben steht: Wie lieblich sind die Füsse derer, die ein Evangelium des Guten verkündigen!»


Röm 10,14-15

Der Verweis ist nach Jesaja:

«Darum wird mein Volk meinen Namen erkennen, darum an jenem Tag erkennen, dass ich es bin, der da spricht: Hier bin ich! Wie lieblich sind auf den Bergen die Füsse dessen, der frohe Botschaft bringt, der Frieden verkündet, der gute Botschaft bringt, der Heil verkündet, der zu Zion spricht: Dein Gott herrscht als König! Horch! Deine Wächter erheben die Stimme, sie jubeln allesamt. Denn Auge in Auge sehen sie, wie der HERR nach Zion zurückkehrt. Brecht in Jubel aus, jubelt allesamt, ihr Trümmerstätten Jerusalems! Denn der HERR hat sein Volk getröstet, hat Jerusalem erlöst! Der HERR hat seinen heiligen Arm entblösst vor den Augen aller Nationen, und alle Enden der Erde sehen die Rettung unseres Gottes.»

Jes 52,6-10

Es ist der Ausblick auf die Wiederherstellung von Israel, wenn «der Herr nach Zion zurückkehrt», wenn «der Herr Sein Volk getröstet hat», wenn Er «Jerusalem erlöst». Dann werden alle Enden der Erde die Rettung unseres Gottes sehen. Paulus zitiert nun diesen Vers, der von der Zukunft Israels handelt.

Noch aber ist das nicht erfüllt. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen der Zukunft und dem, was geschah, als Paulus schrieb. Genau das aber beschreibt Jesaja, weshalb Paulus ihn gleich mehrfach zitiert. Jesaja schreibt nur wenige Verse weiter:

«Wer hat unserer Verkündigung geglaubt? An wem ist der Arm des HERRN offenbar geworden?»

Jes 53,1

Paulus hat diese Spannung bei Jesaja aufgegriffen, um damit die aktuelle Situation für Israel zu beleuchten:

«Jedoch nicht alle gehorchen dem Evangelium; denn Jesaja sagt: Herr, wer glaubt unserer Kunde?»
Röm 10,16

Glaube kommt aus der Verkündigung

So stand für Jesaja einerseits die Rettung für Israel als klare Verheissung da, und gleichzeitig aber auch der Unglaube. Diese extreme Gegenüberstellung erkannte Paulus jetzt ebenfalls für das Israel in seinen Tagen. Das «gehorchen» des Evangeliums spricht ja davon, dass man mit dem ganzen Herzen hört und das Gehörte umsetzt. Glaube ist kein «Für-Wahr-Halten» Dogmen jeglicher Art, sondern eine Hinwendung mit dem ganzen Herzen, und deshalb mit dem ganzen Leben. Gerade das aber hat bei einem grossen Teil von Israel damals laut Paulus gefehlt.

«Demnach kommt der Glaube aus der Kunde, die Kunde aber durch einen Ausspruch Christi.»

Röm 10,17

Das ist eine allgemeine Feststellung: So funktioniert Glaube. Glaube kommt aus der Verkündigung. Verkündigung kommt durch einen Ausspruch (Rede) Christi. Es ist die Verkündigung von dem, was Er gemacht und wie Gott durch Ihn Seine Gerechtigkeit erreicht hat.

Sofern es Israel betrifft, verweist Paulus einerseits auf die Verheissungen, aber andererseits auch auf das, was sie bereits hätten hören können – und doch nicht glaubten:

«Jedoch frage ich: Haben sie überhaupt nichts gehört? In der Tat! In das gesamte Land ging ihr Schall aus und bis zu den Enden der Wohnerde ihre Aussprüche. Jedoch frage ich: Hat Israel etwa überhaupt nichts erkannt? Als Erster sagt Mose: Ich werde euch zur Eifersucht auf die reizen, die keine Nation sind; über eine unverständige Nation werde Ich euch erzürnen (5Mo 32:21). Jesaja aber wagt es und sagt: Gefunden wurde Ich von denen, die Mich nicht suchen; offenbar wurde Ich denen, die nicht nach Mir fragen (Jes 65:1). Zu Israel aber sagt Er: Den ganzen Tag breite Ich Meine Hände aus zu einem widerspenstigen und widersprechenden Volk (Jes 65:2).»

Röm 10,18-21

Tatsächlich also hat Israel, trotz der Verheissungen und dem Gehörten, nichts erkannt. Mit Zitaten aus dem Alten Testament verweist Paulus ausserdem darauf hin, dass solche, die Ihn nicht kannten – die Nationen – Gott gefunden haben. Das ist ein klarer Hinweis auf die heutige Gemeinde, die ganz unverdient im Glauben gestanden ist. Wir sind, ohne eine Mittlerrolle Israels, in eine Beziehung zum lebendigen Gott getreten, und zwar nur durch Glauben.

Als Nationen haben wir das nicht einmal gesucht. Wir sollten nun Israel zur Eifersucht sein, nicht weil wir besser sind, sondern weil wir im Glauben stehen dürfen, wo Israel damals gesamthaft nicht sein wollte. Gott streckt Seine Hände zu Seinem Volk aus, aber andere haben Seine Einladung angenommen. Das ist die heutige Gemeinde, das sind wir – mit 2000 Jahren Geschichte mittlerweile.

Keine Verurteilung, sondern Ausblick auf Gottes Wirken

Bereits zeichnet sich ab, dass der Unglaube – in dem Israel als Volk steht –, nicht etwa als Überraschung kam, sondern von den Propheten vielfach genannt wurde. Nicht nur wurde sie genannt, sondern es sollte auch eine Funktion erfüllen. Eifersucht und Zorn sollten entstehen! Das ist bemerkenswert. Im nächsten Kapitel schreibt Paulus:

«Ich frage nun: Sie straucheln doch nicht, damit sie fallen sollten? Möge das nicht gefolgert werden! Sondern um sie zur Eifersucht zu reizen, wurde durch ihre Kränkung den Nationen die Rettung zuteil.»

Röm 11,11

Was andeutungsweise genannt wird, kann im nächsten Kapitel immer klarere Konturen annehmen: Auch bei diesen Widersprüchen von Glaube und Unglaube ist Gottes Wirken stets im Hintergrund.