Manchmal kommt es mir vor, dass einige Christen süchtig nach Leidensdruck sind. Man beschwört die Abgrenzung zur Welt herauf und versetzt sich selbst in eine Opferrolle, woraus man einst siegreich hervorgehen wird. Pflegt man eine solche Einstellung gemeinsam, dann entsteht eine ungesunde Gemeindekultur.

Eine solche Gemeinde- oder Glaubenskultur habe ich öfter erlebt. Heute empfinde ich die als sehr problematisch. Wer so denkt, lebt in einer starken Unfreiheit. Darüber will ich in diesem Beitrag etwas reden. Es sind persönliche Notizen einerseits, und ein Blick in den Römerbrief andererseits. Paulus schreibt im Römerbrief keine theologische Abhandlung, sondern spricht Menschen in ihrer alltäglichen Situation an. Er verkündet das Evangelium von Jesus Christus nicht gegen den Hintergrund theologischer Projektionen, sondern gegen den Hintergrund der Realität. Ist diese Realität ein Tal voller Tränen, eine, die wir fromm ertragen müssen, oder stimmt diese Interpretation nicht?

(Kein Witz: Manche meinen, dass, wer bisher nicht leidet, kein echter Christ sein kann. Das Leiden wird zur ultimativen Auszeichnung starrsinniger Frömmigkeit.)

Wir sind hier an einem weiteren Abschnitt des Römerbriefes angekommen. In Römer, Kapitel 8, fasst Paulus die Auswirkung des Evangeliums zusammen. In Römer 1 hat er über die Welt gesprochen. In den anschliessenden Kapiteln hat er das Evangelium erklärt. Nun geht es darum, dass wir die Beziehung zur Welt klären – vom Evangelium her. Als Erstes nimmt Paulus auf seine aktuelle Zeit Bezug:

«Denn ich rechne damit, dass die Leiden der jetzigen Frist nicht wert sind der Herrlichkeit, die im Begriff steht, in uns enthüllt zu werden.»

Römer 8,18

Solche Aussagen, wenn man den Kontext vorerst einmal ausblendet, scheinen die perfekte Projektionsfläche für die fromme Verherrlichung von Leiden unter den Christen. «Die Leiden der jetzigen Frist!» wird gerne sofort auf unsere aktuelle Zeit bezogen und unkritisch zu einem Drama umfunktioniert. Diesen Text werden wir deshalb etwas näher betrachten und schauen, ob Paulus eine Verherrlichung vom Leiden vor Augen hatte.

Denn ich rechne damit!

Das ist eine frohe Proklamation. Erneut spricht Paulus davon, mit etwas zu rechnen. Er rechnet damit, dass die Leiden der heutigen Zeit nichts sind im Vergleich mit der Herrlichkeit, die kommt. Er sieht diese Herrlichkeit zwar weiterhin nicht, aber er rechnet damit. Hier spannt der Apostel den Bogen von seiner Zeit hinüber in die Zeit der Erfüllung. Wir jedoch sind weder in der Position von Paulus, noch sind wir in dieser genannten Zukunft. Wir leben dazwischen. Ist es angebracht, sich nun in die Position von Paulus zu versetzen und seine Aussage auf die heutige Zeit zu projizieren?

Hier braucht es eine gesunde Differenzierung.

Wir leben mit dieser Spannung zwischen unserer Empfindung und dem Weitblick, den wir im Evangelium der Gnade Gottes erhielten. Diese Spannung gilt es auszuhalten, das eine wie das andere wahrzunehmen. Wir können nicht weltfremd leben, wir können aber auch nicht die zukünftige Realität ausblenden. Wir leben zwar in dieser Welt, aber auch ist «unser Leben zusammen mit Christus in Gott verborgen» (Kol 3,3). An die Philipper schreibt Paulus: «Unser Bürgertum jedoch ist in den Himmeln, woher wir auch den Retter erwarten, den Herrn Jesus Christus» (Ph 3,20).

Der ganze Abschnitt dient dazu, diesen Bogen zu spannen.

  • Nie ist unsere aktuelle Erfahrung massgeblich, sondern die Zusage Gottes im Licht Seines Handelns.
  • Nie geht es nur um unser eigenes Leben, sondern Paulus erweitert den Blick auf die ganze Schöpfung.

Er macht das, damit er klarstellen kann, wie sehr unser Erleben mit der ganzen Welt verknüpft ist. Er verankert sozusagen unser Erleben in der sichtbaren Welt, und unsere Erwartung ist die Vorahnung der ganzen Schöpfung.

Die Botschaft liegt demnach nicht im Leiden, sondern im Ausblick. Deshalb ist es unerheblich, ob der von Paulus beschriebene Leidensdruck für alle Christen heute gilt oder nicht. Es kann gut sein, dass wir frei von Leiden sind. Die Verheissung des Ausblicks gilt uns trotzdem. Die entscheidende Frage lautet: Warum geht es Paulus? Will er das Leiden verherrlichen oder den Blick auf Gottes Wirken und auf Seine Vollendung schärfen?

Der Apostel rechnet damit, dass es gut kommt – zur rechten Zeit, zu Gottes Zeit. Wer nur vom heutigen Leiden spricht, richtet sich auf das aktuelle Erleben. Paulus war mit unserer Situation aber unbekannt. Er sprach von seiner Zeit. Die Gläubigen in Rom musste verstehen, was er schrieb. Wir waren direkt nicht gemeint. Hier ist der Unterschied: Paulus schaut konsequent auf Gottes Handeln. Christen, die sich im Leiden ergötzen (die gibt es!), schauen jedoch nur fromm auf sich selbst. Das Letzte ist eine religiöse Verirrung oder der verzweifelte Versuch, der eigenen Realität zu entfliehen. Wer jedoch auf Gottes Wirken fokussiert ist, kann aus Seiner Gnade heraus leben lernen – auch dann, wenn Opferrollen radikal verlassen werden müssen.

Wird das Leiden nun ausgeblendet?

Ich höre bereits, wie einige jetzt auf die vielen verfolgten Christen verweisen. Das stimmt natürlich. Aber nicht nur das! Fast jeder Mensch hat einschneidende Erfahrungen im Leben. Viele Menschen leiden. Manche leiden auch wegen ihres Glaubens. Wenn Paulus das Leiden nicht zum Hauptthema macht, wird dadurch das Leiden ausgeblendet? Natürlich nicht. Es geht um etwas anderes. Paulus erwähnt gerade das Leiden, aber das Thema ist die Herrlichkeit, die in Kontrast dazu steht. Nicht das Leiden muss man ausblenden, sondern man muss nur den Mut haben, sich nicht selbst in alles hineinzuprojizieren. Paulus selbst hat viel gelitten. Er hielt es für unsinnig, darüber zureden (1Kor 11,23-33). Gerade wegen seinen Leiden und den Erfahrungen, die er gemacht hat, verweist Paulus auf das Wirken Gottes, das der aktuellen Erfahrung übersteigt.

Wer die Erfahrung des Leidens sucht, um sich selbst als besserer, als «wahrer» Christ herauszuputzen, hat sich selbst im Fokus, nicht Gottes Wirken. Das ist Religiosität. (Siehe auch: Gott ist nicht religiös und Glaube und Religiosität).

Leiden ist auch nicht gleich Leiden. Wer den Leidensdruck sehnsüchtig sucht, oder aktuelle Lebensherausforderungen mit gottgewolltem Leiden gleichsetzt, lebt in einer Scheinwelt. Leiden gehört zu dieser Welt. Das ist nüchtern. Religiöse Interpretationen passen oft nicht. Sie gaukeln eine tiefere Bedeutung vor, wenn keine da ist.

Der Tod beispielsweise ist ein echtes Problem. Das können wir nicht verherrlichen. Der Tod bleibt bis zuletzt ein Feind. Es ist auch der letzte Feind, der einst abgetan wird (1Kor 15,26), bevor Leben und Unvergänglichkeit definitiv ans Licht gebracht werden (2Tim 1,9-10). Heute ist nicht alles ohne Leiden zu haben. Daran ändert auch der Glaube nichts. Leiden ist inhärent an der Welt, worin wir leben.

Leiden ist real, aber deswegen nicht «super-geistlich». Was ich zu oft gesehen habe, sind ungesunde Beziehungen, worin ein Partner aus «Glaubensgründen» in einer katastrophalen Situation verharrt. Manche bezeichnen das gar als «Leiden für Christus». Das Leiden in der Beziehung wird zuerst verherrlicht, dann geduldet. Nicht selten findet eine Form des Missbrauchs statt, unter der ein gläubiger Partner dann tatsächlich leidet. Wird anschliessend unter Glaubensvorwand im Leiden verharrt, ist das nicht gesund, sondern schlicht verwerflich. Daran ist auch nichts geistlich. Wenn etwas falsch ist, muss es beim Namen genannt werden. Wenn Missbrauch vorliegt, muss man aussteigen. Wer Hilfe benötigt, muss Hilfe suchen. Seelsorge kann helfen, aber manchmal braucht es deutlich mehr. Die frommen Hürden sind hier jedoch oft unglaublich hoch.

Im Rahmen des Römerbriefes nutzt Paulus das bekannte Leiden, um gegen diesen Hintergrund die Notwendigkeit und Andersartigkeit des Evangeliums aufleuchten zu lassen. Dadurch wird nicht das Leiden bagatellisiert, sondern dem Apostel geht es um ein anderes Thema.

Die Zusage Gottes

Lesen wir nun noch einmal den gesamten Abschnitt:

«Denn ich rechne damit, dass die Leiden der jetzigen Frist nicht wert sind der Herrlichkeit, die im Begriff steht, in uns enthüllt zu werden. Denn die Vorahnung der Schöpfung wartet auf die Enthüllung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung wurde der Eitelkeit untergeordnet (nicht freiwillig, sondern um des Unterordners willen) in der Erwartung, dass auch die Schöpfung selbst befreit werden wird von der Sklaverei der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis nun mit uns ächzt und Wehen leidet. Aber nicht nur sie allein, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst ächzen in uns, den Sohnesstand erwartend, die Freilösung unseres Körpers. Denn auf diese Erwartung hin wurden wir gerettet. Erwartung aber, die erblickt wird, ist keine Erwartung; denn das, was jemand erblickt – erwartet er das etwa noch? Wenn wir aber erwarten, was wir nicht erblicken, so warten wir mit Ausharren darauf.»

Röm 8,18-25

Wie lässt sich ein solcher Text entschlüsseln? Dabei helfen die Ansätze des induktiven Bibelstudiums: Beobachten, interpretieren, anwenden. Im nächsten Abschnitt schauen wir deshalb den Text an, um die Zusage Gottes auf die Spur zu kommen, der in diesen Versen enthalten ist.

Warum geht es im Text?

Zuerst die Beobachtung von Strukturen und Themen. Der Apostel baut die Begründung immer weiter auf und leitet neue Abschnitte mit dem Wort «Denn» ein. Die zusammenhängende Aussagen habe ich hier farbkodiert, damit der Zusammenhang leichter aufzuspüren ist.

  • Grün = die Leiden der jetzigen Frist
  • Magenta = die künftige Herrlichkeit
  • Blau = Erwartung (das «aktuell-nicht-haben-aber-darauf-wartend»)
  • Orange = die Schöpfung

Text

Versuche die Zusammenhänge im Text zu erfassen:

Denn ich rechne damit, 
dass
die Leiden der jetzigen Frist 

nicht wert sind
der Herrlichkeit, die im Begriff steht, in uns enthüllt zu werden.

Denn die Vorahnung der SCHÖPFUNG wartet auf die Enthüllung der Söhne Gottes.

Denn die SCHÖPFUNG wurde der Eitelkeit untergeordnet (nicht freiwillig, sondern um des Unterordners willen) 
in der Erwartung, dass auch die SCHÖPFUNG selbst befreit werden wird 
von der Sklaverei der Vergänglichkeit 
zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.

Denn wir wissen, dass die gesamte SCHÖPFUNG bis nun mit uns ächzt und Wehen leidet. 
Aber nicht (nur) sie allein, sondern auch wir selbst, 
die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, 
auch wir selbst ächzen in uns, 
den Sohnesstand erwartend, die Freilösung unseres Körpers.

Denn auf diese Erwartung hin wurden wir gerettet. 
Erwartung aber, die erblickt wird, ist keine Erwartung; denn das, was jemand erblickt – erwartet er das etwa noch? 
Wenn wir aber erwarten, was wir nicht erblicken, so warten wir mit Ausharren darauf.


Röm 8,18-25

Obwohl Paulus etwas erklärt, das primär den Gläubigen betrifft, erwähnt er 4x die gesamte Schöpfung. Er stellt unser Leiden im Kontext des Leidens der ganzen Schöpfung. Dasselbe macht er mit unserer Erwartung.

Erwartung

Welche weiteren Parallelen lassen sich hier ziehen? Warum würde Paulus den Bogen von unserem Leben zur ganzen Schöpfung ziehen? Was möchte der Apostel hier bewirken? Diese Fragen helfen weiter, wenn wir den Text betrachten.

Ganz klar verweist Paulus auf etwas, das wir bislang nicht haben. Wir leiden, aber die Schöpfung auch (und zwar nicht freiwillig, sondern weil Gott das so gewollt hat – sagt Paulus!). Wir erwarten eine Erlösung und die Schöpfung hat eine Vorahnung auf das, was kommt.

Keine Höllendrohung also, sondern eine Vorahnung und Erwartung hin zur Befreiung «zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes». Was auffällt ist, wie nüchtern Paulus in dieser Welt steht, das ganze Leiden der Welt sogar einbezieht und eine Zukunft vor Augen stellt, die ganz anders aussieht. Es geht hier nicht um Vorbedingungen, die zu erfüllen sind, es geht nicht um «Glaube an Jesus oder Du bist für ewig verloren». Alle diese Ideen sind der Bibel fremd. Damit wir das korrigieren können, müssen wir jedoch hinschauen – wir müssen den Text wieder ernst nehmen.

In der aktuellen Welt ist «Erwartung» das Stichwort. Das prägt unser Sein hier. Wir leiden in der Welt, aber auch mit der Welt. Wir sind nicht besser als die Welt. Sie und wir leiden beide. Auch wir harren noch ein Teil der Erlösung, oder, wie es Paulus schreibt: «Wir ächzen in uns, den Sohnesstand erwartend, die Freilösung unseres Körpers». Und bevor jemand jetzt auf die Idee käme, der Körper sie «schlecht», ist es genau die Erfahrung unseres Körpers, die Erfahrung von Sterblichkeit und Unzulänglichkeit, die uns viele Probleme eingebrockt hat. Die Befreiung davon ist Teil eines weitaus grösseren Heilsplanes, worin der Mensch nicht plump «vom Körper befreit» wird, sondern unauflösliches Leben erhält, und einen neuen Körper.

Geistlich haben wir bereits eine Erlösung verstanden und sie darf sich in unserem Leben auswirken. Wir wurden mit jedem geistlichen Segen in Christus gesegnet (Eph 1,3). Trotzdem sterben wir noch und sehnen uns der vollständigen Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes entgegen – wie auch die gesamte Schöpfung.

Eine masochistische Sehnsucht nach Leidensdruck, etwa um den eigenen religiösen Projektionen mehr Gewicht zu geben, ist nicht nötig. Diese bringen uns nicht weiter. Wer unter Druck steht, sollte sich nicht dagegen auflehnen, oder in unmöglichen Situationen weiterhin verharren, sondern vielmehr versuchen, sich davon zu befreien. So wie es Paulus beispielsweise vom Status damaliger Sklaven festhält: «Bist du als Sklave berufen worden, so lass es dich nicht kümmern; wenn du aber auch frei werden kannst, mach umso lieber Gebrauch davon!» (1Kor 7,21).