Der Verweis von Paulus an den Zweigen eines Ölbaums ist eine Bildsprache. Was will der Apostel damit ausdrücken?

Gott ist fähig, das zu tun, was Er will

Ob Gott sein Volk verstösst? Diese Frage bewegte die ersten Gemeinden, worin sowohl Juden wie Nichtjuden einen Platz fanden. Die Art, worauf dies geschah, war anders als alles, worüber die Propheten von Israel je gesprochen hatten. Daraus entstand Verwirrung und Unsicherheit im Hinblick auf den Rest des Volkes. Die Klärung dieser Verwirrung ist das Thema dieser drei Kapitel (Röm 9-11).

Paulus hatte selbst geschrieben: «Wahrheit rede ich in Christus (ich lüge nicht, mein Gewissen bezeugt es mir in heiligem Geist): Grosse Betrübnis ist in mir und unablässiger Schmerz in meinem Herzen – denn ich wünschte, selbst von Christus hinweg verbannt zu sein – für meine Brüder, meine Stammverwandten dem Fleisch nach, die Israeliten sind …» (Röm 9,1-4). Er fühlt sich selbst betroffen. Er selbst ist Jude und die anderen sind seine Brüder und Stammverwandten. Er schreibt, als möchte er auch selbst gerne verstehen, wie es sich zuträgt. Die Fragen sind berechtigt.

Daraufhin hat der Apostel klargestellt, dass Gott Sein Volk Israel nicht beiseiteschiebt oder vergisst. Paulus ist von einer Auswahl ausgegangen, den Gott ganz klar nicht verstossen hat. Eine Auswahl von Israel (Paulus inklusive) hat in Jesus den Sohn Gottes erkannt, durch den Gott Seinen Plan ausführt. Durch Ihn kommt Rettung, eine Rettung aber, die Israel als ganzes Volk abgelehnt hat. Dadurch hat sich die messianische Erwartung, wie von den Propheten vorhergesagt, nicht erfüllt. Folgende Frage stand demnach noch in den Raum: Wie verhält sich nun die Auswahl zum Rest vom Volk? Geht es jetzt nur noch um die Auswahl, oder gibt es doch noch eine Hoffnung für den Rest des Volkes? Dann kehrt er die Argumentation um. War es zuerst nur eine Auswahl aus Israel, die übrig bleiben, so ist es gerade diese Auswahl, die bereits vom Ganzen spricht. Gottes Ziel in allem ist das Ganze. Darauf zielt der Apostel jetzt ab. Alles führt dorthin und es gibt keinen Grund für uns zu meinen, dass dies unser Verdienst sei:

«Wenn aber das Erstlingsbrot heilig ist, dann auch die Teigmasse, und wenn die Wurzel heilig ist, dann sind es auch die Zweige. Wenn nun einige der Zweige herausgebrochen wurden und du als wilder Ölbaumzweig unter sie eingepfropft und Mitteilnehmer an der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaums geworden bist, so prahle nicht gegen die anderen Zweige! Wenn du aber prahlst, bedenke, nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!
Du wirst nun erwidern: Die Zweige wurden herausgebrochen, damit ich eingepfropft würde. Schön; infolge ihres Unglaubens wurden sie herausgebrochen, du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich! Denn wenn Gott die naturgemässen Zweige nicht verschont hat, wird Er auch dich nicht verschonen.
Gewahre nun die Güte und die Strenge Gottes: an denen, die fallen, zwar die Strenge, an dir aber die Güte Gottes, wenn du in der Güte beharrst; sonst wirst auch du ausgehauen werden.»
Röm 11,16-22

Als Bildsprache werden hier eine Teigmasse, Wurzel und Zweige und dann ein Ölbaum genannt. Der Ölbaum symbolisiert Israel, oder vielleicht noch allgemeiner, die Familie des Glaubens, die es bereits seit Abraham und vorher gab. Aus diesem Baum wurden einige Zweige herausgebrochen (als Bild dafür, dass Israel kurz beiseitegestellt wurde), währende andere «wilde» Zweige eingepfropft wurden (als Bild für die Nationen-Gläubige). An diesem Bild ist alles klar. Es geht um die Frage, wer jetzt wie und wann Teil vom Baum des Glaubens ist. Paulus nennt dieses Bild, um damit die Fragen in der Gemeinde zu beantworten.

Wir tun gut daran, auch hier festzuhalten, dass Gott nicht verstösst – dies war die Ausgangsposition. Paulus geht es bei der Güte und Strenge Gottes nicht um Verurteilung von Menschen, sondern um den Hochmut und die Prahlerei von einigen, die sich über Israel erheben wollen.

«Aber auch jene, wenn sie nicht im Unglauben beharren, werden wieder eingepfropft werden; denn Gott ist imstande, sie wieder einzupfropfen. Denn wenn du aus dem naturgemässen wilden Ölbaum ausgehauen und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, wie viel mehr werden diese naturgemässen Zweige in den eigenen Ölbaum wieder eingepfropft werden!»
Röm 11,23-24

Ob Gott sein Volk verstösst? Nicht doch! Gott kann. Er ist fähig. Er wird zurechtbringen, wozu Er sich entscheidet. Wir müssen und können nicht für Gott denken. Er ist imstande, die heute noch im Unglauben beharren, wieder einzupfropfen, ebenso wie er uns – die aus den Nationen – einen unverdienten Platz gegeben hat. Unverdient! Wenn Gott mit Israel einen neuen Weg geht, ist das nicht mit der heutigen Situation vergleichbar. Wenn das geschieht, heisst das für Israel nichts weniger als ein «Leben aus den Toten» (Röm 11,15).

Wer sind die Zweige?

Gelegentlich stolpere ich über Auslegungen, die sehr abenteuerlich versuchen, die Zweige einer bestimmten Gruppe zuzuordnen. Paulus geht es hier nicht um eine Zuordnung der Zweige, sondern um etwas anderes. In einer Bildsprache ist die Bildsprache selbst nie das Thema. Es ist nicht hilfreich, sich in Details zu verlieren. Leicht verkennt man dabei die zentrale Aussage, die Paulus machen will. Hierum geht es: Alles gipfelt in der Aussage, dass Gott alle zusammen in die Widerspenstigkeit einschliesst, damit Er sich aller erbarme (Röm 11,32). Das ist das Ziel. Alle Argumente zielen darauf ab. Dies ist die Aussage, an der sich die vorhergehenden Verse messen müssen, weil sie alle führen dorthin.

Mit der Ölbaum und den Zweigen ist es recht einfach: Paulus spricht von einem Ölbaum. Israel ist der Ölbaum oder bildet in diesem Ölbaum einige Zweige. Gott ist der Gärtner, der einige Zweige herausschneidet und andere einpfropft. Wenn nun andere Zweige eingepfropft werden, dann sollte es für die Eingepfropften deutlich sein, dass sie von der Wurzel her getragen werden und nicht umgekehrt (Röm 11,16-18). Dieser Teil spricht von den Nationen-Gläubigen, die durch die Verkündigung von Paulus in den Baum (des Glaubens) neu mit aufgenommen wurden. Das ist ein Vorrecht.

Aus diesem Vorrecht sollten wir nicht ableiten, dass dies etwa aus unserer Kraft oder Weisheit geschah. Es ist nichts, womit wir uns brüsten könnten. Paulus korrigiert eine falsche Ansicht mit der Feststellung «Gott ist imstande, sie (Israel) wieder einzupfropfen» (Röm 11,23). Der Punkt ist dieser: Gott ist mächtig, uns, Dich, Israel stehenzulassen oder wieder einen neuen Start zu geben. Das ist das Vertrauen des Apostels. Ihm geht es nicht um eine hyperspezielle Auslegung, sondern darum, dass Gott alles zugetraut wird. Die Gemeinde in Rom soll verstehen, wie umfassend Gott Sein Heil aufrichten wird. Er macht das, weil Er es kann – Er ist Gott. Er ist imstande, das zu tun, wozu uns Kraft und Weisheit fehlt.

Es ist mit Israel also nicht fertig. Paulus sieht Israel in Gottes Händen. Das ist exakt so, wie auch wir, die aus den Nationen, in Gottes Händen sind. Es gibt keine Vorrechte für diese oder jene Gruppe, mit der sich jemand brüsten könnte. Selbstgerechtigkeit führt nirgendwo hin. Paulus sagt immer wieder, dass alles aus Gott ist. Er führt weiter.

Wenn beim Abschluss dieses Kapitels die Gedanken zusammengefasst werden, dann ist es die Erkenntnis, dass Israel wie die Gemeinde aus allen Nationen beide von Gottes Gnaden und Wirken abhängig sind.