Was schreibt Paulus im achten Kapitel vom Römerbrief? Der Apostel führt uns die Konsequenzen des Evangeliums vor Augen. Er ermutigt, ermahnt, erklärt und skizziert die Grundlagen des neuen Lebens. Er tut das aus dem Verständnis einer neuen Realität. Die ist nicht nur in Gottes Handeln begründet, sondern erschliesst dadurch auch eine befreite Sicht auf unser Leben.

«Denn ihr erhieltet nicht den Geist der Sklaverei, wiederum zur Furcht; sondern ihr erhieltet den Geist des Sohnesstandes, in welchem wir laut rufen: Abba, Vater! – Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.»

Röm 8,15-16

In der Familie aufgenommen

Gottes Geist wirkt in uns. Der Apostel beschreibt das so: Wir erhielten den Geist des Sohnesstandes, wodurch wir laut rufen: Abba, Vater! Das ist Realität, aber es ist eine Realität, die wir nicht sehen. Es ist eben «geistlich». Dieser Geist spricht von einer «Position als Sohn».

Der Sohn ist derjenige, der in die damalige Zeit das «Haus der Familie» weiterführt. Der Vater «baut» durch den Sohn sein Haus. Dieses Verständnis spiegelt sich in diesen Ausdrücken. Im Hebräischen ist das Wort für «Sohn» verwandt mit dem Wort für «bauen».

Wenn wir nun den «Geist des Sohnesstandes» erhalten, drückt der Apostel damit aus, dass wir in einer bevorrechteten Situation hineinversetzt wurden. Wir erhielten eine Position, welche mit Wert, mit Zukunft, mit Aufbau verknüpft ist. Wir gehören also nicht nur zur Familie, sondern erhalten darin die Position eines Sohnes. Damit sind Aufgaben und die Zukunft des Hauses verknüpft.

Selbstverständlich sind diese Ausdrücke mit einem patriarchalen Wertesystem verknüpft. Diese Weltsicht gehört zur damaligen Welt. Es sind Beispiele. Dabei geht nicht um die Festigung patriarchalen Verhältnissen, sondern darum, mit dem Bild etwas auszudrücken, was weit kostbarer ist. Es geht um den «Sohnesstand» als etwas Besonderes. Die Position steht im Zentrum der Überlegung. Damit verknüpft ist der Ausblick auf Aufbau und Fortbestand der Familie. Wir dürfen die Bibel lesen, mit dem Ziel der Aussagen vor Augen. Es geht also nicht darum, etwa die Töchter auszuschliessen, sondern darum, den Aufbau der Zukunft der Familie mit einer Bildsprache auszudrücken, entsprechend den Gepflogenheiten jener Zeit.

Gottes Geist

Zuvor hat Paulus geschrieben, dass wir «im Geist sind, wenn nämlich Gottes Geist in uns wohnt» (Röm 8,9). Das führt er hier noch einmal weiter aus, indem er betont, dass Gottes Geist mit unserem Geist bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind. Geist Gottes klärt uns über die Beziehung auf, worin wir aufgenommen wurden. Wir wurden in die Familie Gottes aufgenommen.

Diese Realität betrifft unsere heutige Situation. Wir wandeln hier im Glauben, nicht im Anschauen (2Kor 5,7). Es gibt also einen Unterschied zwischen dem, was wir jetzt haben und erleben, und was in der Zukunft noch folgt. Es ist die Spannung in uns zwischen der jetzigen Zeit und der Erfüllung aller Verheissungen in der Zukunft. Das ist das eigentliche Thema vom Rest des Kapitels.

Heinz Schuhmacher schreibt in seinem Buch «Der Römerbrief» zu diesem Abschnitt:

«Das Leben in zwei Welten, in zwei ganz verschiedenen Wirklichkeiten und Daseinssphären bringt Spannung, Sehnen und Seufzen mit sich (Röm 8,23). Auch die empfangene Erstlingsgabe, der Heilige Geist, hebt diese Spannung nicht auf, sondern verstärkt sie noch. Denn nun ist folgender Tatbestand gegeben: Wir haben den Heiligen Geist – aber noch nicht den entsprechenden Geistleib. Wir tragen den Geist der Sohnschaft in uns (Röm 8,15) – den Zustand der vollendeten Sohnschaft aber erwarten wir noch. Wir haben die Erlösung durch Sein Blut (Eph 1,7) – aber noch nicht die Erlösung unseres Leibes (Röm 8,23). Gott hat ein gutes Werk in uns begonnen – aber noch nicht vollendet 
(Phil 1,6). Wir besitzen im Geist schon das Neue, Christus gemäss – und zugleich in unserer Fleischnatur noch das Alte, Adamitische.»

In diesem Buch werden alte Ausdrücke und Formulierungen verwendet, die heute nicht mehr geläufig sind. Was jedoch deutlich wird, sind die Unterschiede zwischen dem, was wir geistlich «haben» und was einst tastbar «wird». Es ist der Unterschied zwischen «jetzt» und «Zukunft». Die vielen zitierten Bibelversen erläutern die Unterschiede. Sie werden direkt im Text erwähnt. Die Bibel ist nüchtern und die Schreiber beschwören keine Schein-Frömmigkeit hinauf, sondern stehen in der oft schmerzvollen Realität. Von dort gibt es jedoch auch einen Ausblick, getragen vom Glauben.

Ein geistlicher Schatz

Nun kommt Paulus dazu, diesen geistlichen Schatz in einem weit grösseren Kontext zu verankern. Wir haben einen «Schatz in irdenen Gefässen» (1Kor 4,7). Zerbrechlichkeit ist die tägliche Erfahrung unserer äusseren Hülle. Es geht aber um den Inhalt, um das, was wir in uns mittragen, was wir im Geist erhalten haben. Glaube ist nicht sichtbar. Gottes Gnade lässt sich jedoch erfahren und ebenso ausleben. Die Botschaft vom auferstandenen Christus ist zuerst eine Botschaft. Wer den Reichtum erkennt, trägt diesen Reichtum in sich.

Nicht nur unsere eigene Erfahrung im Hier und Jetzt ist wichtig, sondern es geht um weit mehr. Auch Bescheidenheit ist angebracht. Wir sind nur ein Teil von Gottes Wirken. Der erste Schritt, den der Apostel jedoch macht, ist unsere heutige Realität mit unserer künftigen Realität zu verknüpfen:

«Wenn aber Kinder, dann auch Losteilinhaber, und zwar Losteilinhaber Gottes; Losteilinhaber aber zusammen mit Christus, wenn wir nämlich mit Ihm leiden, damit wir auch mit Ihm verherrlicht werden.»
Röm 8,17

Heute wird uns durch Gottes Geist bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind. Wenn das so ist, dann geht es aber auch weiter, dann sind wir auch «Losteilinhaber» (gr. kleronomos, jemand, der nicht durch Eigenverdienst etwas erhielt, sondern durch Zuordnung). Wir erhielten einen Platz, einen Ausblick auch. Wir sind in die Familie Gottes hineingenommen, und damit in den Verheissungen und Segnungen Gottes hineingestellt.

Gott hat uns Segnungen geistlicher Art zugeteilt (Eph 1,3). Wir erhielten auch Verheissungen über zukünftige Segnungen. Er ist es, der uns diese Dinge zuordnet («Losteile»). Wir sind Losteilinhaber mit Christus, weil unser Leben mit Ihm verknüpft ist und wir einst dieses Losteils durch und mit Ihm antreten.

Paulus erwähnt in einem Atemzug mit dem Segen auch das Leiden mit Christus. Das soll nicht verwundern. Wohl wird er hier nicht meinen, dass wir leiden müssen, damit wir verherrlicht werden (Paulus fördert hier nicht eine fromme Selbstkasteiung), sondern vielmehr geht es darum, die aktuelle Erfahrung des Leidens einer Bedeutung zu geben.

Mit anderen Worten: Wenn wir Leiden spüren, dann ist das noch nicht das Letzte, was gesagt wird. Das Leiden in dieser Welt ist nicht das Schlusswort. Die Verheissung und die Erwartung schauen über die aktuelle Erfahrung hinaus und erwarten eine künftige Realität.

Der Stand eines Sohnes

Lesen wir nun noch einmal diese Worte von Paulus:

«Denn ihr erhieltet nicht den Geist der Sklaverei, wiederum zur Furcht; sondern ihr erhieltet den Geist des Sohnesstandes, in welchem wir laut rufen: Abba, Vater! – Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.»

Rö 8,15-16

Wer Gottes Gnade erkennen darf, erhält dadurch keine neuen Auflagen zur Erfüllung, keinen «Geist der Sklaverei, damit wieder aus Angst gelebt wird, ob man Gott vielleicht wohlgefällig lebt». Ganz im Gegenteil! Wir erhielten den «Geist des Sohnesstandendes, in welchem wir laut rufen: Abba, Vater!». Laut rufen! Da ist keine falsche Scheu angebracht, kein Zögern, kein «frommes Ducken» vor einem rachsüchtigen Gott, sondern ein frohes und zuversichtliches Bestätigen der neuen Realität. «Abba!» dürfen wir rufen, was «Vater!» bedeutet.

Wir sind durch Seine Gnade Teil der Familie. Wir erhielten sogar die Position eines Sohnes. Gottes Geist wirkt in uns und bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir «Kinder Gottes» sind. Es ist die Folge der frohen Botschaft, des Evangeliums der Gnade in Christus Jesus.