Kommunikation ist anspruchsvoll. In Gemeinschaften, worin Richtig und Falsch entscheidende Kriterien sind, wird Kommunikation nicht selten durch religiöse Annahmen geprägt. Eine Verketzerung anderer ist der ultimative Kommunikationsabbruch bei unterschiedlichem Verständnis. Oft ist es ein hilfloser Rückzug, nicht selten aus einer vermeintlichen Überlegenheit heraus. Das ist eine von mehreren möglichen Herausforderungen im Miteinander. Das alles ist nicht neu, sondern es gab diese handfesten Probleme bereits in den ersten Gemeinden. Wie ist man damit umgegangen?

Weshalb sollte man über «Verketzerung» nachdenken?

Verketzerung ist nur ein Wort. Das Wort verursacht jedoch Leid, Verunsicherung, Desorientierung. Wer andere verketzert, steht in einer Kultur der Abgrenzung und Ausgrenzung. Menschen, die dies erleben, werden nicht selten auf Jahre hinaus traumatisiert, insbesondere, wenn es die Haltung einer Gemeinschaft betrifft, von welcher man ausgegrenzt wird. Über «Verketzerung» nachzudenken, macht es möglich, die unterliegende Glaubenskultur neu zu denken. Das geschieht in dieser kurzen, zweiteiligen Serie. Dabei geht es um diese zwei Hauptthemen:

Teil 1: Gibt es im Neuen Testament so etwas wie «Verketzerung»?
Teil 2: Was benötigt es für eine gesündere Glaubenskultur?

Wer Glaube oder bestimmte religiöse Annahmen neu denken will, muss sich auch mit typischen Begriffen auseinandersetzen, welche diese Sicht prägen. Das Wort «Verketzerung» gehört dazu. Es gehört zu einem Glaubensverständnis, das von Abgrenzung lebt. Geht das auch anders? Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Eine Auseinandersetzung zum Thema «Verketzerung» gehört zu einem weit grösseren Thema: Wie können wir christliche Identität heute bewusst prägen, vielleicht sogar neu denken?

Ausgrenzung und Abgrenzung

Eine Verketzerung anderer ist eine üble Haltung. Ich habe gesehen, wie Menschen von einer Gemeinschaft zusammengestaucht wurden, nur weil sie nicht «linientreu» etwas gesagt, gedacht oder getan haben. Ich habe erlebt, wie eine offene Auseinandersetzung über wichtige Themen in der Gemeinde unterdrückt und ausgeblendet wurde. Sinnvoll erscheint mir das nicht, weil m. E. keine zwei Menschen gleich denken und «Glaube» nicht durch den Kontrast «richtig/falsch» genährt wird.

Selbstverständlich ist es in Ordnung, unterschiedlicher Meinung zu sein. Eine Verketzerung wird jedoch aus vermeintlicher Überlegenheit genährt, nicht selten aus der Bequemlichkeit heraus, dass «die Mehrheit der Christen» oder «die Tradition» wohl recht haben müssen. Es geht um richtig und falsch und darum, die Person mit einer abweichenden Meinung auszugrenzen («Ich bin OK, Du bist nicht OK»). Die Verketzerung anderer ist die ultimative Gesprächsverweigerung. Eine krasse Beobachtung: Nach meiner Erfahrung wird oft abgelehnt, was man selbst nicht untersucht hat.

Verketzerung ist die ultimative Gesprächsverweigerung. Es ist der Rückzug der Gemeinschaft in das Wohlvertraute und die Ausgrenzung aller Andersdenkenden. Ausgrenzung ist manchmal nötig, nämlich im Sinne einer guten Abgrenzung ungesunder Haltungen. Das ist jedoch etwas anderes als eine Ausgrenzung anderer Lehrmeinungen. Diese zwei Dinge gibt es, woraus es manchmal in einer Gemeinschaft nicht weitergeht:

  1. Ausgrenzung
    Die ungesunde Verteufelung anderer aufgrund einer Lehre, eines Verständnisses.
  2. Abgrenzung
    Die gesunde Abgrenzung von auffälligem Verhalten, manchmal auch zum Schutz der Gemeinschaft.

Dann gibt es zuletzt noch einen weiteren, mehr persönlichen Grund zur Abgrenzung. Einige grenzen sich ab, weil der Geldfluss in Gefahr ist. Wer nämlich eine vermeintlich «ketzerische Sicht» zulässt, steht in direkter Gefahr, von seiner Gemeinschaft verstossen, den Job oder die Gönner zu verlieren. Hier gilt wohl der Spruch «Dessen Brot man isst, dessen Wort man spricht». Das gilt primär bei Gemeinschaften, die auf eine vermeintlich «gleiche Sicht der Dinge» aufgebaut sind. Daran soll man nicht rütteln. Wer dort nicht mehr hineinpasst, geht am besten selbst. Und das geschieht tatsächlich – Gemeindemitglieder verlassen die Gemeinschaft, Pastoren wechseln den Beruf. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass es eine neue Art von Gemeinschaft benötigt. Vielleicht stellt man fest: Neuer Wein passt nicht in alten Schläuchen (vgl. Mt 9,17).

Müssen alle gleich denken?

Natürlich müssen und können nicht alle Menschen gleich denken. Leider schwingt der Wunsch nach gleichem Denken in Auseinandersetzungen religiöser Gruppen mit. Da sind zwei Seiten, die es im Gespräch zu bedenken gibt:

  1. Nicht jeder muss alles untersuchen
    In einem Gespräch müssen beide das Gespräch wollen. Wenn das nicht der Fall ist, lässt jeder am besten das Gegenüber in seinem eigenen Wert stehen. Nicht jeder glaubt dasselbe zur gleichen Zeit. Nicht jedes Thema ist für alle wichtig. Vielmehr scheint es wichtig zu sein, einander einen eigenen Denkraum einzuräumen: Sind wir nicht alle von unserem Gott und Vater abhängig, der allen zum Segen ist? Die Grundhaltung darf jederzeit sein: Wir teilen dieselbe Berufung, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.
  2. Nicht jede Gemeinschaft lässt Neues zu
    Eine Verketzerung vonseiten einer Gemeinde gründet ebenfalls nicht immer auf eine Auseinandersetzung. Mancher Pastor schützt mit einer Abgrenzung die Gemeinde. Man will keine Gemeindespaltung, keine Unruhe. Das ist ein ernst zu nehmender Entschluss. Wenn das nötig erscheint, schwingt selbstredend auch das Verständnis des Pastors mit. Er muss nicht das verstehen, was jemand anders will. Er entscheidet in eigener Verantwortung vor Gott, was der Gemeinde guttut. Eine Verketzerung ist aber auch dann unnötig. Hier ist der Trick: Abgrenzung muss nicht immer durch Entfernen bestimmter Menschen getan werden. Eine Gemeinde kann auch Resilienz in schwierigen Auseinandersetzungen gewinnen, wenn zur Mündigkeit angeleitet wird. Die Idee, dass der Pastor immer alle schützen müssen, weil «Schäfchen nicht denken können oder denken müssen», erscheint mir überholt und abwertend der Gemeinde gegenüber. Manchmal habe ich jedoch auch eine ganz gesunde und nötige Abgrenzung durch den Pastor erlebt, worin dieser seine Funktion mit Bravour erfüllte.

Falsche Entwicklungen in den ersten Gemeinden

Welche Herausforderungen gab es in der Zeit des Neuen Testaments? Dort gab es auch kritische Entwicklungen. Paulus etwa spricht zu Timotheus über eine falsche Entwicklung wie folgt:

«Befleissige dich, dich selbst Gott bewährt darzustellen,
als unbeschämten Arbeiter,
der das Wort der Wahrheit richtig schneidet.

Von den unheiligen, leeren Geschwätzen aber stehe abseits;

denn sie werden zu weiterer Unfrömmigkeit fortschreiten,
und ihr Wort wie kalter Brand um sich fressen,
zu welchen Hymenäus und Philetus gehören,
die von der Wahrheit abgeschweift sind und behaupten,
die Auferstehung sei schon geschehen,
und so den Glauben etlicher zerrütten.»
2Tim 2,15-18

Timotheus hat eine Verantwortung innerhalb einer Gemeinde. Paulus gibt ihm Hinweise für diese anspruchsvolle Aufgabe. In der Gemeinschaft denken nicht alle Menschen gleich und es gibt nebst gesunder Lehre – wofür Timotheus zuständig war (2Tim 2,15) – auch «unheilige, leere Geschwätzen» (2Tim 2,16). Diese Worte sollten wir nicht zu schnell mit bestimmten Inhalten füllen. Paulus nennt zwei allgemeine Eigenschaften, «unheilig» und «leer». Diese Begriffe sollten wir verstehen lernen, damit wir damit konkrete Situationen einschätzen können. Dabei können wir bedenken, dass Paulus die Begriffe nicht als Grund zur Verurteilung nennt, sondern er beschreibt ein Stück Realität. Es ist kein Grund für Timotheus «auf andere zu zeigen», sondern eher ein Grund «sich selbst besser auszurichten».

Es gibt zwei Haltungen, die Timotheus befolgen sollte:

  1. befleissige dich selbst, dich vor Gott zu bewähren
  2. halte dich fern von den unheiligen, leeren Geschwätzen anderer.

Das sind klare Worte und Anweisungen. Unmissverständlich sagt Paulus, was Timotheus tun sollte: Er sollte sich um seine eigene Glaubenshaltung kümmern und sich entschieden von ungesunden, unheiligen und leeren Geschwätzen anderer abgrenzen. Beides ist nötig, weil «unheiliges und leeres Geschwätz» meist nicht von selbst verschwindet, sondern eher die Gefahr hat, sich breitzumachen und «um sich zu fressen wie ein kalter Brand».

Ein kalter Brand (gr. gangraina, med. Gangrän) ist eine Krankheit, gekennzeichnet durch das Absterben von Gewebe, meist in den Extremitäten. Unbehandelt führt dies oft zum Tode. Als Bildsprache nennt Paulus hier also keine Lappalie, sondern etwas, das für eine Gemeinde zu einer kritischen Situation führen kann. Deshalb soll er zuerst sich selbst abgrenzen. Das ist wichtig, weil er selbst steht in einer Verantwortung für die Gemeinde.

Nicht aber sollte Timotheus diese Leute ausgrenzen, verketzern, aus der Gemeinde ausschliessen. Timotheus erhielt den Rat, sich zuerst um sich selbst zu kümmern, um sich nicht anstecken zu lassen. Das unheilige und leere Geschwätz erkannte Paulus unter anderem bei der Meinung zweier Gemeindemitglieder, die mit Namen genannt werden. Es betraf Hymenäus und Philetus, die der Ansicht waren, dass die Auferstehung schon vorbei sei und deshalb den Glauben vieler anderen «zerrütteten». Es gab hier falsche Behauptungen. Man kann sagen, es sei eine falsche Lehre.

Das war nicht das erste Mal, dass Paulus Timotheus eine solche Warnung gab. Bereits in seinem ersten Brief an Timotheus schrieb der Apostel:

«O Timotheus, bewahre das Anvertraute, kehre dich ab von unheiligen, leeren Geschwätzen und Gegenaufstellungen der fälschlich so benannten „Erkenntnis“, die einige als ihr besonderes Fach angeben, doch betreffs des Glaubens schweifen sie ab.»
1Tim 6,20-21

Auch heute begegne ich regelmässig Leute, die eine «spezielle Erkenntnis» vermitteln wollen, die sie als ihr «besonderes Fach» angeben. Es geht dabei nie um den Kern des Evangeliums, um Christi Werk, um Gottes Liebe und Gnade, sondern um alle mögliche andere Annahmen über die Bibel oder über die Welt. Als «besonderes Fach» lenken diese Ideen direkt vom Evangelium ab und tragen nichts zu einem gesunden Glauben bei.  Dabei können wir an diese Dinge denken, die Paulus bereits einmal Timotheus schrieb:

«Wie ich dir beim Abgang nach Mazedonien zusprach, so verharre in Ephesus, damit du gewisse Leute anweisest, nichts anderes zu lehren, noch auf Sagen und endlose Geschlechtsregister achtzugeben, die viel mehr Streitfragen verursachen als die Verwaltung Gottes fördern, die im Glauben besteht.
Die Vollendung aber der Anweisung ist Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben, von welchem einige abgeschweift sind und sich zu eitlem Geschwätz abgekehrt haben, die Gesetzeslehrer sein wollen, doch nicht begriffen haben, weder was sie sagen, noch worauf sie bestehen.»
1Tim 1,4-7

Weitere solche Annahmen erkenne ich in Lehren über eine hohle, flache oder wie immer betrachtete Erde, worauf wir laufen, als ginge es um ein «biblisches Weltbild», oder in Lehren der Anglo-Israel-Bewegung, wodurch Menschen sich als «die verlorenen Stämme Israels» betrachten. Diese Dinge führen zu nichts und lenken vom Evangelium ab. Das muss klar gesagt werden.

Was wird abgegrenzt, was nicht?

Paulus ist differenziert mit diesen Problemen umgegangen. Denken wir noch einmal an Hymenäus und Philetus, die der Meinung waren, die Auferstehung «sei schon geschehen».

Der Verweis auf diese Geschichte schreibt Paulus in seinem persönlichen Brief an Timotheus, wie oben aufgeführt. Die Auferstehung ist der Kern des Evangeliums für heute (1Kor 15,1-4). Sie verkündeten demnach nicht ein falsches Thema. Was bemängelt wurde, war ihre Aussage, dass diese Auferstehung bereits vorbei sei. Dadurch meinten offenbar etliche Menschen der Gemeinde, dass sie die Zukunft verpasst hatten. Ihr Glaube geriet ins Wanken. Nicht das Thema war demnach falsch, sondern die zeitliche Zuordnung. Die Folgen waren für einige katastrophal.

Man kann also über Themen der Bibel sprechen, diese aber falsch einordnen, und dadurch Schaden anrichten. Das will bei allen Lehrbemühungen überlegt sein. Lehrer haben eine grosse Verantwortung für das Wohl der Glaubenden. Was bei dieser Erwähnung von Hymenäus und Philetus jedoch auffällt, ist die Haltung von Paulus. Paulus erzählt Timotheus nicht, dass er diese Menschen jetzt aus der Gemeinde hinauswerfen sollte. Wenn Menschen unterschiedlich denken, ist das kein Grund zur Ausgrenzung aus der Gemeinschaft. Das kann nicht deutlich genug gesagt werden.

Wenn Menschen unterschiedlich denken, ist das kein Grund zur Ausgrenzung aus der Gemeinschaft.

Eine Frage bleibt jetzt unbeantwortet: Gibt es einen Grund, Menschen aus der Gemeinschaft auszuschliessen? Ja, einen solchen Grund gibt es. Auch das findet sich im Neuen Testament festgehalten.

In seinem ersten Brief an die Korinther, an diese chaotische Gemeinde in Griechenland, spricht Paulus sehr direkt eine ungesunde Situation an:

«Allgemein hört man von Hurerei bei euch,
und zwar solcher Hurerei, wie sie nicht einmal unter den Nationen genannt wird,
dass nämlich einer sich die Frau seines Vaters genommen hat.
Und da seid ihr noch aufgeblasen und trauert nicht vielmehr,
damit er wegen dieser Handlungsweise aus eurer Mitte genommen werde.
Denn ich, wiewohl dem Körper nach abwesend, im Geist aber anwesend,
habe über den, der dies so treibt, bereits gerichtet, als wäre ich anwesend,
um im Namen unseres Herrn Jesus Christus
(wenn ihr versammelt seid und mein Geist zusammen mit der Kraft unseres Herrn Jesus)
solchen dem Satan zum Ruin des Fleisches zu übergeben,
damit der Geist am Tage des Herrn Jesus gerettet werde.»

1Kor 5,1-5

Ein Fall von Inzest beschreibt Paulus als Hurerei, die nicht unbeachtet bleiben darf. Hier sagt er klipp und klar, dass ein solcher Mensch «aus eurer Mitte genommen werden» muss. Hier kann man sehen, dass nicht Lehre oder Lehrmeinung einen Grund zum Ausschluss ist, aber Lebenswandel. Ausschluss findet im Neuen Testament aufgrund des Lebenswandels statt. Es scheint der einzige Grund zu sein.

Ausschluss findet im Neuen Testament aufgrund des Lebenswandels statt.

In der Geschichte des Christentums lief das gerade umgekehrt. Verketzert wurde man nicht wegen des Lebenswandels, sondern wegen einer anderen als die offizielle Meinung. Gleichschaltung in der Sichtweise war das Kriterium und ist es heute oft noch. Der Lebenswandel jedoch führte selten zum Ausschluss. Das darf nachdenklich stimmen.

Paulus ist in seiner Beurteilung radikal. Er scheut sich nicht, «solchen dem Satan zum Ruin des Fleisches zu übergeben». Allerdings ist das keine Verdammung dieses Menschen. Sein Ziel ist zweierlei: Die Gemeinde sollte sich selbst abgrenzen und diesem Menschen sollte die Ausgrenzung und Haltung zur Rettung dienen. Paulus beabsichtigt einen positiven Effekt. Das will festgehalten werden. Der positive Effekt ist einerseits für die Gemeinde, die von einem solchen Verhalten entlastet werden sollte. Das Verhalten schadet der Gemeinschaft. Andererseits soll der positive Effekt für den Ausgeschlossenen gelten, der dadurch – vielleicht – zur Umkehr bewegt wird.

Dass dieser Umkehr auch stattfand, können wir aus dem zweiten Korintherbrief entnehmen. Dort schreibt der Apostel:

«Wenn aber jemand Betrübtheit verursacht hat,
so hat er nicht nur mich betrübt,
sondern zum Teil (damit ich nicht beschwere) euch alle.
Für einen solchen ist dieser Verweis genug, den ihm die Mehrzahl von euch erteilt hat,
sodass ihr im Gegenteil ihm nun vielmehr Gnade erweisen und zusprechen könnt,
damit ein solcher nicht etwa von übermässiger Betrübnis verschlungen werde.
Darum spreche ich euch zu, Liebe gegen ihn walten zu lassen.»

2Kor 2,5-8

Mit diesen Worten wird der Mann aus dem ersten Brief wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Etwas später schreibt Paulus von einem Lernprozess für die Gemeinschaft selbst:

«Denn wenn ich euch auch im vorigen Brief betrübt habe,
so bereue ich es nicht, wenn ich es auch bereute.
Denn ich sehe,
dass euch jener Brief, wenn auch nur für eine Stunde, betrübt hat.

Nun freue ich mich,
nicht weil ihr betrübt wurdet,
sondern, dass ihr zur Umsinnung betrübt wurdet.
Denn ihr wurdet nach dem Willen Gottes betrübt,
sodass euch in keiner Weise etwas durch uns verwirkt wurde.

Denn die Betrübnis nach dem Willen Gottes bewirkt Umsinnung zu einem unbereubaren Heil,
die Betrübnis der Welt aber bewirkt Tod.

Denn siehe, gerade dies, euer gottgemässes Betrübtsein,
wie viel Fleiss hat es in euch bewirkt,
sogar Verteidigung, sogar Entrüstung, sogar Furcht, sogar Sehnsucht, sogar Eifer, sogar Rache!
In allem habt ihr euch in dieser Sache als lauter erwiesen.
Wenn ich euch schrieb, so war es demnach nicht wegen des Unrechttuenden,
ja, nicht einmal wegen des Geschädigten,
sondern deswegen, damit euer Fleiss für uns bei euch vor den Augen Gottes offenbar werde.»
2Kor 7,8-12

Wenn man es umformuliert, geht es Paulus nicht um Schwarz und Weiss, nicht um Richtig oder Falsch, sondern um Wachstum. Zwar erkennt und benennt er falsche Dinge, aber nicht, um diese «auf ewig zu verdammen». Wachstum und Gesundung sind das Ziel, sowohl für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Diese Ausrichtung gilt es zu entwickeln.

Gemeindezucht soll Transformation bewirken

Religiöse Gemeinschaften sollten keine Festungen der Rechtgläubigkeit und religiöse Überheblichkeit sein, sondern Biotope für geistliches Wachstum, Inkubatoren für lebendige Entwicklung. Es benötigt eine ausgeprägte Fehlertoleranz in einem Klima des Vertrauens, im Hinblick auf ein gesundes Vorwärtskommen. Menschliche Reife kennt viele Hochs und Tiefs im Lernprozess. Geistliche Reife entsteht ebenfalls nicht über Nacht. Beide wollen Raum gegeben werden, bei gleichzeitiger Zielführung.

Abgrenzung bei «unheiligem und leerem Geschwätz» kann nötig sein. Ausgrenzung bei problematischer Lebenswandel kann unumgänglich sein. Es ist die bewusste Ausrichtung auf eine Gesundung, damit eine positive Transformation gefördert wird. Bei dieser Transformation hat ein verdammendes «Schwarz-Weiss-Denken» keinen Platz mehr.

Transformation benötigt eine gute Kommunikation. Wie lässt sich besser kommunizieren? Das Gute zu wollen heisst nicht automatisch, dass man dies selbst gut kommuniziert. Am Schluss dieses Beitrages führe ich noch zwei Links zu Einführungen über Transaktionsanalyse auf. Diese Methode, von Eric Berne begründet, hat sich weltweit über viele Jahrzehnte bewährt, um einen Einblick in Kommunikationsstrukturen zu erhalten und diese zu verbessern. Dort kann man die eigene Werkzeugkiste mit wirksamen Werkzeugen erweitern, die eine gesündere Gemeindekultur ermöglichen.

Vom Ziel her leben

Martin Buber beschreibt diese Welt und das Menschsein aus dem Blickwinkel eines Dialogischen Prinzips. Er erkennt darin zwei Arten der Beziehung (in «Ich und Du»). Jede Beziehungsart besteht aus einem Wortpaar. Das erste Wortpaar ist «Ich-Es». Das zweite Wortpaar ist «Ich-Du». Die Beziehung Ich-Es ist die abgrenzende, trennende und beschreibende Art dieser Welt. Die Beziehung Ich-Du ist die unmittelbare Begegnung, die keine Trennung kennt. Es ist die Begegnung, die keine Beschreibung benötigt, sondern stattfindet. Die Beziehungsart Ich-Du ist die wahre belebende und erkennende Begegnung. Wir erleben sie hoffentlich mehrmals im Leben. Bleibend ist das nicht, und bald fallen wir wieder in die Beziehung Ich-Es zurück, die unsere Welt prägt.

Sobald wir «Mann» oder «Frau» sagen, «Freund» oder «Kollege» oder «richtige Lehre» oder etwas anderes, dann beschreiben wir. Das ist eine beschreibende, abgrenzende Ich-Es-Beziehung. Die unmittelbare Ich-Du-Beziehung kennt keine Abgrenzung.

Wenn ich diese Idee einmal auf Gottes Ziel anwende, worüber Paulus schreibt, dass Gott einmal «alles in allen» sein wird (1Kor 15,28), dann kann ich mir das nur als Ich-Du-Beziehung vorstellen. Darin geht es nicht mehr um die richtige Lehre, nicht mehr um Richtig oder Falsch. Diese Dinge gehören dann der Vergangenheit an. Alles wird einerseits durch Gericht und Gerechtigkeit geklärt und andererseits durch Gottes Gnade verklärt. Beides zusammen ist die Vorbedingung dazu, dass wir unmittelbar begegnen und mit Gott Frieden haben können und Er in uns und in allen «alles» ist.

Schwarz-Weiss-Denken ist «out». Gottes Ziel liegt woanders.

Solange wir andere einordnen, ausgrenzen, verketzern, wir uns selbst gelegentlich abgrenzen müssen, bestätigen wir lediglich die aktuelle Welt. Bleiben wir dort hängen, verpassen wir womöglich unsere Berufung. Schwarz-Weiss-Denken ist «out». Gottes Ziel liegt woanders. Können wir, mit Seinem Ziel vor Augen, sehen, wohin der Weg geht? Wie prägen wir, vom Ziel Gottes her betrachtet, unsere Beziehungen und Gespräche? Was ist die Funktion von Gemeindezucht? Welche Qualität und Transformation können wir dort fördern?