Seit einem Jahr angeln wir uns von Lockdown zu Lockdown und von Lockerung zu Lockerung. Das geht gehörig auf die Nerven und es ist für viele Menschen eine grosse Belastung. Das gilt auch für mich. Man würde hoffen, dass der vertraute Alltag einfach auf später vertagt wurde. Keiner kann jedoch sagen, ob der künftige Alltag genau so ist, wie der Alltag, den wir vor einem Jahr hinter uns gelassen haben. Wie gehen wir damit um?

Krisen und die Veränderung

Die aktuelle Pandemie hat für viele Menschen eine nachhaltige Krise ausgelöst. Jeder erfährt das etwas anders. Viele spüren das finanziell, andere werden emotional durchgerüttelt und bei sehr vielen passiert gleich beides. Warum es jedoch geht: Unser Alltag ist bedroht – und damit unser Wohlbefinden. Das hat Folgen.

Radikale Veränderungen in den Lebensumständen werden als Bedrohung empfunden. Die aktuelle Pandemie ist darauf keine Ausnahme. Sie ist ein Jahrhundertereignis, gewiss, aber es gibt natürlich weitere Änderungen, die unser Leben gehörig durcheinanderwerfen können. Veränderung gehört zum Leben – und das ist keine Plattitüde.

Beispiele: Der Verlust eines lieben Menschen kann einen aus der Bahn werfen. Der Verlust des Arbeitsplatzes kann Existenzängste auslösen. Ein Feuer, eine Naturkatastrophe, einen Krieg, eine Scheidung oder ein Unfall bewirken radikale Änderungen im Leben.

Mir sind solche radikalen Einschnitte persönlich sehr vertraut: Gerade verliere ich durch die Pandemie zum dritten Mal innert 20 Jahren meine Existenzgrundlage, zweimal habe ich eine Familie gegründet und verloren, zweimal habe ich aus dem nächsten Familienumfeld jemand viel zu früh an einer terminalen Krankheit verloren. Das sind bereits 7 schwere Ereignisse, jedes genug, mich aus der Bahn zu werfen. Ich rede hier aus wiederholter Erfahrung. Ich bin «geschüttelt, nicht gerührt». Das ist immer wieder mal anstrengend, aber ich umarme dieses anspruchsvolle Leben, denn es ist das einzige Leben, das ich habe.

Ein Merkmal solcher Krisen ist, dass eine unerwünschte neue Situation eingetroffen ist, aus dem es kein Zurück gibt. Etwas hat sich definitiv gewandelt. Die Vergangenheit ist vorbei. Wenn solches geschieht, ist man zuerst verunsichert, desorientiert und findet sich in einem Prozess wieder, dessen Abschluss noch unbekannt ist. Das kann Bestürzung und Angst auslösen.

Zeiten voller Veränderungen sind emotional. Wir reagieren verunsichert, wütend, trauernd, ohnmächtig, verneinen die Realität oder projizieren die Unsicherheit auf Andere.

Paul Tournier, der Schweizer Arzt und Psychologe, hat diese Unsicherheit in Zeiten grosser Veränderungen einmal als «Das Gefühl der Mitte» beschrieben. Er referierte an Trapezkünstler im Zirkus, die in ihrem Akt loslassen müssen und eine kurze Zeit durch die Luft fliegen, bis sie am nächsten Trapez wieder Halt und Sicherheit finden. Dieses Beispiel beschreibt treffend die Emotion beim Übergang vom «vorher» zum «nachher».

Kann man Veränderung bejahen?

Ja und Nein. Viele werden Veränderung zuerst einmal verneinen. Das merkt man gut in der aktuellen Pandemie. Man will wieder zurück zum Alltag. Alles soll wieder sein wie vorher – als sei nichts geschehen, als sei alles nur ein Traum, aus dem man unverzüglich (und erholt) aufwachen will. Verständlich. Erst allmählich setzen sich andere Erkenntnisse und Ideen durch.

Der Prozess der Veränderung ruft Ohnmacht und dadurch Wut hervor (über «die Anderen», «die Massnahmen», «die Politik», «die Schwurbler», «die Panikmacher»). Social Media sind voll davon. Ich bin diese Auseinandersetzungen offen gesagt satt. Es muss möglich sein, anders miteinander umzugehen. Aber wie gelingt das?

Bei den Argumenten trennt man sich, aber bei den Bedürfnissen trifft man sich.

Solange man in diesem Grabenkampf feststeckt, geht es nicht weiter. Diesen muss man loslassen. Was es braucht, sind konkrete Schritte, im Kleinen wie im Grossen, um die aktuelle Situation für sich selbst und den Nächsten zu verbessern. Dafür muss man als Erstes (und vielleicht Schwierigstes) die geänderte Situation akzeptieren. Dann soll man sich auch der eigenen Verletzlichkeit bewusst werden (nicht die Anderen sind das Problem, sondern ich bin verletzlich). Fragen wir einander, was wir wirklich brauchen. Die Bedürfnisse sind wichtiger als die Argumente. Bei den Argumenten trennt man sich, aber bei den Bedürfnissen trifft man sich.

Rückbesinnung ist das Stichwort, das weiterhilft. Eine Rückbesinnung auf die Bedürfnisse als Startpunkt für eine gesunde Weiterentwicklung. Einfach ist das bestimmt nicht, aber es ist wertvoll, weil es dann weitergeht. Dieser Prozess der Veränderung kennt zwar bestimmte Eckpunkte, jeder kommt aber auf eigene Art hindurch. Es gibt Momente der Realitätsverleugnung, auch Momente der Wut. Bei mir hier, bei Dir dort. Genauso wird es aber auch wieder Momente des Aufbruchs geben, bis diese Zeit der Veränderung in eine neue Sicherheit mündet. Woran merken wir das? Wir werten das vermutlich unterschiedlich und kommen deshalb nicht zeitgleich dort an.

Was Du für Deine oder ich für meine Sicherheit benötige, ist unterschiedlich. Ich persönlich habe in vielen Bereichen ein sehr niedriges Sicherheitsbedürfnis. Meine Erfahrung sagt mir, dass es weitergeht. Die beiden Sachen stimmen mich zuversichtlich. Ausserdem: Ich rechne fest damit in Gottes Händen zu sein und zu bleiben, ganz unabhängig meiner aktuellen Situation – dazu aber gleich noch mehr.

Heute will ich Veränderung bejahen. Ich übe das. Sich anpassen zu können, betrachte ich als Stärke. Ich bin gerade dabei, mich neu zu erfinden. Das ist nicht das erste Mal. Auf Anhieb gelingt mir das jedoch meist nicht. Auch ich bin von diesen Prozessen vereinnahmt, von Zeiten der Unsicherheit, der Auflehnung, der Ablehnung. Trotzdem weiss ich, dass durch die Prozesse hindurch eine neue Zeit anbricht.

Veränderung in der Bibel

Berühmt sind positive Veränderungen in der Bibel. Das sind Situationen, worin alles besser wird. Man könnte das als Erfolgserlebnisse sehen (dem aktuellen Zeitgeist entsprechend). Man denke nur an folgende Aussagen:

«Siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da schliesse ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund: nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, an dem Tag, als ich sie bei der Hand fasste, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen.»
Jer 31,31-32

«Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist da eine neue Schöpfung: Das Ehemalige verging, siehe, es ist neu geworden!»
2Kor 5,17

«Wenn aber dieses Vergängliche Unvergänglichkeit anzieht und dieses Sterbliche Unsterblichkeit anzieht, dann wird sich das Wort erfüllen, das geschrieben steht: Verschlungen wurde der Tod im Sieg! Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist Dein Stachel?»
1Kor 15,54-55

«Er wird jede Träne aus ihren Augen wischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Pein – sie werden nicht mehr sein; denn das Vorige ist vergangen. Dann sprach der Auf dem Thron Sitzende: Siehe, ich mache alles neu!»
Offb 21,4-5

Das sind trostreiche Worte, die dem Ausblick des Glaubens Inhalt und Zuversicht schenken. Ist das aber alles? Geht es ausschliesslich um Erfolgsgeschichten oder auch um die Fehlgeschichten? Es gibt genügend negative Entwicklungen, denen Raum gegeben wird. In der Bibel geht es um die Begegnung der Realität dieser Welt mit der Realität Gottes. Die Bibel spricht von der Realität dieser Welt, von der Not in der Welt und von Gottes Antwort darauf. Die Bibel ist lösungsorientiert und deshalb in Konsequenz erlösungsorientiert. Sie ist trostreich, aber nicht nur ein billiges Trostpflaster für die Seele.

Mich interessiert diese Realität der Welt. Spricht die Bibel darüber? Kann ich in den biblischen Geschichten meine Realität zurückfinden? Betrachte ich die Welt aus dem Blickwinkel der persönlichen Lebenskrise oder der gesellschaftlichen Krise, gibt es dann Vergleichbares in der Bibel zu lesen?

Tatsächlich lassen sich viele Beispiele finden. Das Buch Hiob spricht beispielsweise vom Leiden in dieser Welt. Über Hiob brachen unglaubliche Verluste und Leiden herein. Das ist aber nicht das einzige Beispiel. Ein weiteres Beispiel ist der Auszug vom Volk Israel aus Ägypten. In dieser Geschichte finden wir alle Merkmale einer radikalen Veränderung zurück. Ähnlich wie in der aktuellen Pandemie ging es hier nicht um Einzelschicksale, sondern um massive gesellschaftliche Veränderungen. Wie sind die Menschen damals mit den radikalen Änderungen umgegangen?

Der Auszug aus Ägypten

Jakob, einer der Erzväter von Israel, zog wegen einer Hungersnot mit seiner Familie einst aus Israel nach Ägypten. Einige Hunderte Jahre später war diese kleine Sippe zu einem grösseren Volk ausgewachsen. Man liest darüber im 2. Buch Mose. Der ägyptische Herrscher empfand das starke Volk als Bedrohung und fing an, es zu unterdrücken. Bald waren die Israeliten in Sklavenarbeit eingebunden.

Als die Not hoch war, sandte Gott einen Retter: Mose. Dieser führt das Volk aus Ägypten heraus und zum verheissenen Land. Es ist eine umwerfende Geschichte. Es ist auch die Geschichte eines radikalen Umbruchs. Dies war der Plan: Ägypten verlassen – sich auf den Weg durch die Wüste machen – das neue verheissene Land in Besitz nehmen. Was sich einfach anhört, zeigte sich überraschend anspruchsvoll.

Nicht jeder hat sich mit diesem Umbruch angefreundet. Nicht jeder konnte mit dieser Veränderung gut umgehen. Das kann man daran sehen, dass das Volk sich häufig gegen Mose und gegen ihren Gott auflehnte.

«Und die Söhne Israel sagten zu ihnen: Wären wir doch durch die Hand des HERRN im Land Ägypten gestorben, als wir bei den Fleischtöpfen sassen, als wir Brot assen bis zur Sättigung! Denn ihr habt uns in diese Wüste herausgeführt, um diese ganze Versammlung an Hunger sterben zu lassen.»
2Mo 16,3

Das ist keine Fühl-Gut-Geschichte. Es ist eher wie heute in der Pandemie: «Bitte lasst alles schnell wieder sein wie früher». Es gibt weitere solcher Episoden in der Geschichte von Israels Auszug.

Erstaunlich ist, dass Ägypten nicht weit von dem verheissenen Land Kanaan entfernt lag. Man war auch ruckzuck an der Grenze. Dort sendet Mose 12 Späher in das Land, es auszukundschaften. Diesen Bericht lesen wir in 4. Mose 13. Als sie zurückkamen, meinten 10 dieser 12, dass es unmöglich sei, das Land einzunehmen. Nur Josua und Kaleb vertrauten darauf, dass es möglich sei.

«Und Kaleb beschwichtigte das Volk, das gegenüber Mose murrte, und sagte: Lasst uns nur hinaufziehen und es in Besitz nehmen, denn wir werden es gewiss bezwingen! Aber die Männer, die mit ihm hinaufgezogen waren, sagten: Wir können nicht gegen das Volk hinaufziehen, denn es ist stärker als wir.»
4Mo 13,30-31

Glaube spricht von Vertrauen. Josua und Kaleb vertrauten darauf, dass es möglich sei, das Land einzunehmen. Die 10 Übrigen vertrauten nicht. Das führte zu etwas, das wir auch heute wiedererkennen: Es wurde Fake News in Umlauf gebracht:

«Und sie [die 10] brachten unter den Söhnen Israel ein böses Gerücht über das Land auf, das sie ausgekundschaftet hatten, und sagten: Das Land, das wir durchzogen haben, um es zu erkunden, ist ein Land, das seine Bewohner frisst; und alles Volk, das wir darin gesehen haben, sind Leute von hohem Wuchs; auch haben wir dort die Riesen gesehen, die Söhne Enaks von den Riesen; und wir waren in unseren Augen wie Heuschrecken, und so waren wir auch in ihren Augen.»
4Mo 13,32-33

Die Geschichte von Riesen im Land war also glatt gelogen. Mich erinnert dieses Vorgehen an so manche Verschwörungstheorie heute. Die 10 versuchten mithilfe falscher Nachrichten die Meinung des Volkes zu manipulieren, nur weil sie selbst das Vertrauen nicht hatten. Ich kann nur versuchen, mir auszumalen, wie das ausgesehen hätte, hätten sie damals YouTube gehabt. Das Volk, oder zumindest eine Mehrheit, hat diese Fake-News geglaubt. Vermutlich haben ihre Bedürfnisse sie dazu gebracht, statt auf die Verheissung und das Erreichte zu schauen (sichtbar im Alltag!), lieber halbwegs der Reise in der Wüste stecken zu bleiben, weil man nur das Alte, die Ruhe, die Sicherheit herbeisehnte. Das Bedürfnis ist zwar verständlich, aber die Folgen waren katastrophal.

Ich kann mir nur versuchen ausmalen, wie das ausgesehen hätte, hätten sie damals YouTube gehabt.

Mangelndes Vertrauen führte zu Fake News. Fake News stärkte die Verunsicherung bei den Menschen. Verunsicherung führte das Volk zur Ablehnung der Rettung, nachzulesen in 4. Mose 14. Und dann fiel diese Auflehnung auf das Volk zurück:

«Und der HERR redete zu Mose und Aaron und sprach: Wie lange soll es mit dieser bösen Gemeinde weitergehen, dass sie gegen mich murrt? Das Murren der Söhne Israel, womit sie gegen mich murren, habe ich gehört. Sage zu ihnen: So wahr ich lebe, spricht der HERR, wenn ich es nicht so mit euch machen werde, wie ihr vor meinen Ohren geredet habt! In dieser Wüste sollen eure Leichen fallen, ja, alle eure Gemusterten nach eurer ganzen Zahl, von zwanzig Jahren an und darüber, die ihr gegen mich gemurrt habt. Niemals sollt ihr in das Land kommen, in dem euch wohnen zu lassen ich meine Hand zum Schwur erhoben habe, ausser Kaleb, dem Sohn des Jefunne, und Josua, dem Sohn des Nun!»
4Mo 14,26-30

Das ganze Volk, das sich auflehnte, die ganze Generation, sollte also in der Wüste sterben. Erst ihre Nachkommen sollten in das Land einziehen. Ausnahme bildeten Josua und Kaleb, mit ihren Familien.

Wir sehen, wie Menschen dazumal nicht viel anders mit ihren Annahmen, Ängsten und Vorbehalten umgingen als wir heute. Nein, ich denke nicht, dass uns Gott jetzt in die Wüste schickt, sollten wir uns gegen etwas auflehnen. Das ist nicht, was ich hier sagen will. An der Geschichte vom Auszug aus dem Land Ägypten können wir jedoch erkennen, wie es von jeher schwierig war, sich auf Veränderung einzulassen. Wenn’s darauf ankommt, sind wir vielleicht keine so grosse Glaubenshelden.

Was ich Dir und mir wünsche? Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam durch schwere Zeiten hindurchkommen. Ich war immer wieder froh um gute Freunde, Gespräche, gemeinsames Schweigen, eine Tasse Kaffee geteilt, eine Wanderung, um zu mir zu finden. Es sind die kleinen Dinge, die in herausfordernden Situationen zählen. Ich wünsche mir, dass wir uns eingestehen, wie komplett nervig die aktuelle Situation ist, wie stark sie uns belastet. Und ich wünsche uns allen nüchternes Vertrauen, wie es Josua und Kaleb zeigten.