Gott spricht uns als Mensch an. Das geht nicht anders. Trotzdem geht gerade dieser Aspekt immer wieder verloren. Es ist geradezu befreiend, wenn wir entdecken, dass Gott ganz normale Menschen anspricht. Das war schon immer so.

Adam und Eva

Fangen wir bei Adam und Eva an. In der biblischen Geschichte sind die ersten Geschehnisse bedeutsam. Mit den ersten Geschichten wird ein grundlegendes Verständnis dieser Welt skizziert. Wie hat alles angefangen? Was lohnt es sich, einander weiterzuerzählen? Auch geht es um das Verhältnis der Menschen zu Gott. Von all diesen Dingen wird Zeugnis abgelegt.

Im dritten Kapitel vom ersten Buch Mose findet der sogenannte «Sündenfall» statt. Es ist die erste Übertretung mit verheerenden Folgen. Hier wird der Eintritt der Sünde in die Welt beschrieben. Es ist der Moment, worin der Mensch zum Sterblichen wird. Ab hier ist der Tod ein ständiger Begleiter für diese Welt (vgl. Römer 5,12).

Nachdem der Eva und etwas später Adam von der verbotenen Frucht* gegessen hatten, änderten sich einige Dinge. Sie konnten plötzlich Gutes und Böses erkennen. Sie hatten ja vom «Baum der Erkenntnis von Gut und Böse» gegessen (1Mo 2,17, vgl. 1Mo 3,1-6). Die Zeit der Unschuld war vorbei. Sie kannten durch ihre Tat plötzlich sowohl das Gute als auch das Böse.

Man kann länger über diese Geschichte nachdenken. Der Baum ist zuerst der Baum der «Erkenntnis des Guten». Das wird zuerst genannt. Zwar umschliesst die Erkenntnis auch das Böse. Es ist aber nicht so, dass sie das Gute bereits kannten, sondern Adam und Eva kannten weder Gut noch Böse. Beides kam mit dem Essen der verbotenen Frucht. Also nicht nur das Schlechte und Böse wurde bewusst, sondern das Gute zuerst. Wir wüssten heute nicht, dass es so etwas wie «gut» gäbe, hätte dies nicht stattgefunden.

Natürlich kann man das Böse mit diesem Einblick nicht verharmlosen. Das soll auch nicht gemacht werden. Bedeutsam ist allerdings, dass sowohl das Gute wie das Böse beide bewusst wurden. Damit erkannten sie auch ihre Übertretung und die beiden fühlten sich nicht sehr wohl, weshalb sie sich im Gebüsch vor Gott versteckten (1Mo 3,8).

Wo bist du?

In der Geschichte wird beschrieben, wie Adam und Eva die Stimme Gottes hörten, in der Kühle des Tages. Sie versteckten sich zwischen den Bäumen, weil sie sich bewusst wurden, dass sie nackt waren. Es ist eine treffende Beschreibung von Schuld und was diese auswirkt.

Dann aber spricht Gott.

«Und der HERR, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?»
1Mo 3,9

Es ist, als hätte Gott erwartet, dass er den Menschen treffen würde, jedoch der Mensch hatte sich versteckt. Also ruft er in den Wald hinein: Wo bist du? Es ist kein Vorwurf darin enthalten, sondern es ist eine neutrale Frage. Adam und Eva, wo seid ihr? Ich hätte Euch erwartet, aber ihr seid abwesend.

«Da sagte er: Ich hörte deine Stimme [«Geräusch»] im Garten, und ich fürchtete mich, weil ich nackt bin, und ich versteckte mich.»
1Mo 3,10

Erkenntnis führt zu Schuld und Schuld führte zu Angst. Die Übertretung war nicht auf die verlockende Frucht oder den Baum begrenzt, sondern sie betraf sofort die Beziehungen, hauptsächlich die Beziehung zu Gott. Die vorhin ungetrübte Begegnung war jetzt getrübt und von Angst geprägt. Beide versteckten sich vor Gott. Das Weltbild, Menschenbild und Gottesbild hatte sich für Adam und Eva schlagartig geändert.

Die Frage «Wo bist du?» fragt nach dem Menschen. Die Übertretung steht nicht zentral, es geht nicht um Glaube oder Unglaube. In dieser Geschichte aus 1. Mose 3 geht es nicht um Fehlerfreiheit, ob Adam und Eva bestimmte Voraussetzung erfüllen oder nicht. Es geht um das, was gerade ist. Wo bist du?

In der Frage «Wo bist du?» sollte man nicht herauslesen, dass Gott nicht etwa wusste, wo Adam und Eva waren. Vielmehr spricht Er sie direkt an. Es ist der Anfang eines Gespräches. Keine Vorwürfe sind da zu hören. Vielmehr geht es zuerst darum, ein Gespräch anfangen zu können. Dafür eignet sich eine neutrale Frage. Ich sehe Dich nicht – wo bist Du? Das ist umso wichtiger, als Adam und Eva sich bereits versteckt hatten. Man könnte das auch so verstehen, dass Gott den Menschen sehen wollte, wie er ist. «Wo bist du?» ist dann die Frage nach der authentischen und echten Begegnung.

Vielleicht kann man den Kreis noch etwas grösser ziehen. Man kann diese Frage auch so erklären, dass es die Frage aller Fragen ist. Mit einer solchen Frage richtet sich Gott nicht nur an Adam und Eva in dieser einen Geschichte, sondern hier finden wir ein Beispiel davon, wie Gott alle Menschen anspricht. Nicht die Übertretung steht zentral, nicht all das, was Gott vermutlich schon lange weiss. Es ist aber die ausgestreckte Hand, das ausgestreckte Wort, die offene Frage «Wo bist du?».

Der Mensch zentral

In dieser Frage werden die Weichen richtig gesetzt. Ich hatte die Weichen für mein Leben lange ganz anders gesetzt. Es gab Jahre, worin ich Menschen in Schwarz und Weiss, in Gläubige und Ungläubige, in Richtige Lehre und Falsche Lehre aufgeteilt habe. Die Lehre oder die Theologie waren die einzigen Brücken für mich, worüber ich mich mit anderen austauschen wollte und konnte. Ich war so voll von dem Wort, und auch von der Suche nach besseren Auslegungen, dass diese Wünsche jede normale Begegnung im Wege standen. Ich war völlig neben der Spur. Das war zwar mit den besten Absichten passiert, jedoch war es auch Folge bestimmter Lehren und einer wohl sehr engen christlichen Kultur, worin ich «gefangen» war.

Mein Verständnis hat sich mittlerweile geändert. Entscheidend waren so kurze Sätze und Geschichten wie hier in 1. Mose 3 erwähnt. Die Frage «Wo bist du?» richtet sich nicht an Gläubige, oder an Menschen mit bestimmten Überzeugungen. Es war viel einfacher, viel grundlegender. Gott sprach den Menschen als Mensch an. Das ist logisch. Wir wurden als Mensch ins Leben gerufen. Wir sind, wir hören, wir sehen und fühlen als Mensch, nicht als Gläubiger. Oder anders gesagt: Wenn wir nicht zuerst selbst Mensch sind, können wir auch nicht als Mensch glauben. Ich kam aus meiner Parallelwelt, aus diesen selbst inszenierten Vorstellungen, wieder auf der Erde zurück. Mein Glaube habe ich nicht verloren. Ich habe aber mein Menschsein und Christsein wieder zusammengebracht.

Waren Adam und Eva Christen oder Juden? Weder das eine, noch das andere. Sie waren vielleicht nicht einmal «Gläubige», wie wir das heute verstehen. Nichts in der Geschichte spricht von einer besonderen Prägung. Sie waren von Gott erschaffen und pflegten die Beziehung mit ihm, weil es die erfahrene Realität war. Es war selbstverständlich. Eines Tages haben sie sich jedoch versteckt, weil etwas passiert war. Gott antwortet darauf nicht mit Wut und Zorn, nicht mit Gericht und mit Forderungen, sondern Er fragt schlicht «Wo bist du?».

Das ist die beste Frage, die auch wir einander stellen können. Wenn wir einander nicht als Mensch ansprechen können, uns nicht als Mensch begegnen können, fehlt das Wesentliche. Manche sagen, dass der Glaube das Wesentliche ist. Dem halte ich entgegen, dass wir nur als Mensch glauben können. Die Gesinnung von Jesus spricht genau von dem (Phil 2,1-5). Achten wir auch auf die Reihenfolge: Adam wird zuerst als Mensch angesprochen («Wo bist du?»), und erst im weiteren Gespräch geht es um das, was zuvor vorgefallen war.

Wenn ich nun weiss, dass Gott Menschen anspricht, soll ich da nicht auch meinem Nächsten so begegnen? Das heisst: ohne Hintergedanken und geheimer Agenda zur «Bekehrung der Ungläubigen». Die Begegnung darf zuerst und radikal authentisch von Mensch zu Mensch stattfinden. So kann ich meinen muslimischen, jüdischen, buddhistischen, spirituellen, atheistischen Nachbarn, Freunde und Kollegen fragen «Wo bist du?». Schenkt uns Gott nicht allen das Leben, den Atem und alle Dingen (Apg 17,25)?

Die Frage «Wo bist du?» baut Brücken. Es wird nichts verschwiegen. Es darf zuerst um «triviale» Dinge gehen. Doch ist diese Frage danach, wo wir sind, ganz und gar nicht trivial. Adam und Eva hatten sich gerade aus dem Staub gemacht, sie hatten sich versteckt. Die Frage war angebracht. Gott engagierte sich in einem Gespräch. Es hing ein schwieriges Thema in der Luft. Das wurde ebenfalls angesprochen. Nichts wurde verschwiegen, aber es wurde eine Brücke gebaut.

Vertiefung

  • Wie willst Du Brücken bauen? Zu wem? Weshalb?
  • Gibt es eine Brücke, die Du nicht bauen kannst oder willst? Wäre die Frage «Wo bist du?» (oder ähnlich) hilfreich? Warum?
  • Kannst Du allen Menschen gleichwertig als Mensch begegnen? Oder sind Christen etwas besser?
  • Hast Du nicht christliche Freunde?
  • Kannst Du ein Gespräch über nicht theologische Themen führen?

* Die verbotene Frucht war kein Apfel. Es ist einfach die Rede von einer Frucht.