Regelmässig höre ich die Geschichten von Menschen, die auf übelste Weise von religiösen Ansichten, sektenhafte Gruppen, Freikirchen und anderen Glaubensgemeinschaften missbraucht wurden. Sie verdienen es, eine Stimme zu haben, gehört zu werden, Befreiung zu erfahren.

Von der Unmündigkeit zur Mündigkeit

Unser Leben ist komplex. Unser Werdegang ist nicht selten von Abhängigkeiten geprägt. Eine gesunde Abhängigkeit gibt es bereits als Kind, nämlich von den Eltern. In einem gesunden Wachstum werden Kinder aus dieser Abhängigkeit liebevoll aber bestimmt zur Selbstständigkeit erzogen und in ein erwachsenes Leben entlassen. Das ist der Idealfall. Nicht immer entspricht die Realität diesem Idealfall.

Eine ähnliche Entwicklung sollte auch als selbstverständlich für unser Denken, Hoffen und Glauben gelten. Leider entspricht auch das nicht immer der Realität. Das erstaunt, weil die Bibel selbst unmissverständlich auf eine solche Entwicklung hinweist.

«So konnte ich, Brüder, zu euch nicht wie mit geistlich Gesinnten sprechen, sondern nur wie mit fleischlich Gesinnten, wie mit Unmündigen in Christus. Milch gab ich euch zu trinken, nicht feste Speise; denn die konntet Ihr noch nicht aufnehmen.»
1Kor 3,1-2

Hier wird von Unmündigen gesprochen. An dieser Stelle geht es zuerst um den Eindruck «mündig» gegenüber «unmündig». Unmündige sind abhängig. Sie können (bildhaft) nur Milch trinken und noch keine feste Speise aufnehmen (vgl. Heb 5,12-14). Das spricht von ganz jungen Kindern. Das Wort «unmündig» (gr. nepios) ist verwandt mit dem Wort «jung» (gr. neon). Für ein gutes Verständnis: Dies ist eine vorübergehende Situation. Denn gesunde junge Kindern wachsen auf, werden selbstständig und am Ende erwachsen. Das gewählte Bild ist klar und unmissverständlich.

Im gleichen Brief, im Kapitel der Liebe, nutzt Paulus denselben Begriff:

«Wenn aber die Reife kommt, wird das aus dem Bruchteil abgetan werden. Als ich noch unmündig war, sprach ich wie ein Unmündiger; ich war gesonnen wie Unmündiger, und ich schätzte alles so ein wie ein Unmündiger. Als ich aber ein Mann wurde, habe ich die Dinge der Unmündigkeit abgetan.»
1Kor 13,10-11

Die Reife und das Erwachsensein kommen nach der Unmündigkeit. Unmündige sind wesentlich Kinder. In der Sprache des Neuen Testaments liegt der Unterschied zwischen einem Kind und einem Sohn in der Mündigkeit (vgl. Gal 4,1-7). Ob man mündig oder unmündig ist, liegt nicht am Alter, sondern am Denken und Verhalten. So beschrieb es Paulus hier oben. Ihm ist es aber daran gelegen, dass die Gläubige erwachsen werden im Glauben.

«Bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum gereiften Mann, zum Mass des Vollwuchses der Vervollständigung des Christus, damit wir nicht mehr Unmündige seien, von jedem Wind der Lehre wie von brandenden Wogen hin und her geworfen …»
Eph 4,13-14

Unmündige werden auch häufiger durch alle mögliche Lehren aus dem Gleichgewicht gebracht. Deswegen schreibt Paulus, dass wir «nicht mehr Unmündige seien, von jedem Wind der Lehre wie von brandenden Wogen hin und her geworfen». So manche Verführung des Denkens kommt ganz geschickt daher. Nur wer durch Übung gefestigt ist, behält den Durchblick. Deswegen soll die Ausrichtung in Gemeindeentwicklung und im Reden untereinander auf Aufbau ausgerichtet sein. Alles soll darauf ausgerichtet sein, das Wachstum des Nächsten zu fördern. Es nicht nur natürlich, dass Wachstum stattfindet und Mündigkeit erreicht wird, sondern es hilft auch dabei, die Herausforderungen des Alltags zu meistern. Damit wird gemeint: die Herausforderungen des Denkens und des Vertrauens im Alltag. Es beginnt alles im Denken (Röm 12,1-2). Die Ausrichtung in Gemeinden und Gemeinschaften, in Lehre und Verkündigung sollte deshalb auf das Wachstum der Menschen ausgerichtet sein:

«Wenn wir aber wahr sind, sollten wir in Liebe alles zum Wachsen bringen, hinein in Ihn, der das Haupt ist, Christus.»
Eph 4,15

Konkret heisst dies natürlich auch, dass Menschen vom Pastor unabhängig gemacht werden. Das macht das aktuelle System (von Abhängigkeiten bei «geistlichen Berufen») nicht besonders leicht. Zur Aufrechterhaltung des eigenen Unterhalts sind möglich einige Pastoren und Gemeinschaften nicht besonders erpicht darauf, Abhängigkeiten aufzulösen. Paulus geht es jedoch darum, Menschen zu befähigen, sie nicht weiter in Unmündigkeit zu halten.

Im nächsten Vers spricht der Apostel vom «Wachstum des Körpers», womit er die einzelnen Menschen innerhalb der Gemeinde (der Körper Christi) anspricht. Ob jemand wahr ist und in Liebe ist, lässt sich aus diesem Bestreben erkennen, Menschen zum Wachsen zu bringen, hinweg von Abhängigkeiten und Subkulturen, und hin zu Christus.

Die Verhinderung der Selbstständigkeit und des Wachstums

In ungesunden Situationen dagegen werden Menschen in die Abhängigkeit geführt oder dort festgehalten, etwa von Lehrern, Lehren, Organisationen, Kirchen. Es gibt Lehrer, die bestimmen über das Leben und das Glauben anderer Menschen. Sie bestimmen, ob jemand «gut» ist oder «schlecht», «heilig» oder «sündig» und dergleichen mehr. Diese Situationen verhindern ein gesundes Wachstum. Das gilt insbesondere für Sekten, aber eine ähnliche Form habe ich auch an vielen anderen Orten gesehen.

Nicht selten sind es radikale Gemeinschaften, welche meinen, die «einzige echte Wahrheit» zu besitzen. Vielleicht wäre es sogar so, dass, wer immer davon spricht «die Wahrheit» zu besitzen, zu dieser Gruppe der Wachstum-Verhinderer gehört.

Echte Liebe und echte Wahrheit führen in die Selbstständigkeit. Immer. Nur so wird Wachstum gefördert. Das Evangelium bietet dazu die perfekte Grundlage, denn Gott hat Seine Gerechtigkeit bereits lange aufgerichtet. Darum kann es 100% Gnade geben, als Ausdruck von 100% Liebe, womit man das Leben befreit leben darf.

Paulus schreibt aus einer speziellen Situation dies:

«Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht. Stehet nun fest in ihr und lasst euch nicht wieder im Joch der Sklaverei festlegen.»
Gal 5,1

An diesem Vers fällt auf, dass einerseits die Freiheit schon da ist, sie aber andererseits auch bewusst gestaltet werden muss. Freiheit ist nicht «einfach da». Es ist demnach nicht selbstverständlich, dass man Freiheit im eigenen Leben entwickelt. Es benötigt tägliche Entscheidungen dazu, die Freiheit auch leben zu wollen

Wenn Menschen in die Unfreiheit abdriften, hat das nicht nur mit der Manipulation zu tun, die von aussen kommt. Es hat auch mit dem Menschen zu tun, der sich manipulieren lässt. Kinder werden leichter manipuliert, aber auch Erwachsenen sind manipulierbar. Unerfüllte Träume machen Menschen manipulierbar. Dort beginnt Abhängigkeit.

Es ist die Verheissung der Befreiung, des Göttlichen, der Sicherheit, das Gefühl geliebt oder verstanden zu werden, die auf die Schwachheiten der Menschen abzielen. Manipulation ist ein Ersatz für eine Erfüllung. Wer manipuliert und missbraucht, holt Menschen mit falschen Versprechen ab. Es sind jedoch die Menschen selbst, die dafür empfänglich sind und Projektionen machen. So gleitet man in die Abhängigkeit. Das ist eine wichtige Erkenntnis.

Manche möchten aus der Abhängigkeit nicht raus. Man will unbedingt in der Abhängigkeit bleiben, vielleicht, weil es zu schmerzhaft ist, sich von Projektionen zu verabschieden. Wer in Abhängigkeiten bewusst stehen bleibt, der hat in der Abhängigkeit bestimmte Vorteile – oder Ängste, wenn man darauf verzichtet. Deswegen ist es wichtig, sich um alternative Sichtweisen zu kümmern (etwa für Bibelauslegungen) und neue Glaubensräume zu schaffen. Menschen in die Freiheit hinauszuführen ist sowohl eine theologische als auch eine menschliche Aufgabe.

Menschen in die Freiheit hinauszuführen ist sowohl eine theologische als auch eine menschliche Aufgabe.

Tatsächliche Befreiung und ein lebensbejahendes Wachstum hin zum Erwachsensein gibt es nur, wenn man die eigenen Bedürfnisse kennt und versteht, woher die eigenen Projektionen stammen. Dann erst kann man sich um bessere Alternativen kümmern.

Dein Glaube gehört nur Dir

Wer in Abhängigkeiten steht, wird diese Abhängigkeit in von Missbrauch geprägten Gemeinschaften stets vor Augen geführt. Vielleicht hört man regelmässig «du bist schwach», «du bist sündig und verdorben», bis man es selbst glaubt. Gesund ist diese Abhängigkeit nicht. Möchte man aus einer solchen verzwickten Lage aussteigen, muss man beginnen, die Verantwortung für sich selbst übernehmen. Wie das genau auszusehen hat, ist wohl von Person zu Person unterschiedlich. Wie immer die Situation jedoch aussieht, es geht immer darum, zu realisieren, dass man selbst etwas ändern kann.

Paulus schreibt:

«Habe Du den Glauben, den Du hast, für Dich selbst angesichts Gottes! Glückselig, wer nicht sich selbst zu richten braucht in dem, was er für bewährt hält.»
Röm 14,22

Hier kann man ansetzen: Jeder kann nur seinen eigenen Glauben vor Gott bringen. Damit kann man durchaus ausdrücken, dass man dem Glauben der Gemeinschaft nicht mehr beipflichten kann. So ist von Luther überliefert, von seiner Rede auf dem Reichstag 1521, dass er sagte:

«Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.»
Luther, 1521 (überliefert)

Er hat damit die Reformation ausgelöst. Auch Luther musste durch diese Prozesse hindurch und akzeptieren, dass er keinen anderen Weg als seinen eigenen wählen konnte. Luther realisierte, dass er eher vor Gott als vor den Menschen verantwortlich war. In einer gesunden Glaubensgemeinschaft werden Menschen zur Selbstständigkeit des Glaubens erzogen, nicht in der Unmündigkeit festgehalten. Paulus hat das einmal so beschrieben:

«Nicht, dass wir über Euren Glauben herrschen, sondern wir sind Mitarbeiter an Eurer Freude; denn ihr steht durch den Glauben.»
2Kor 1,24

Ich wünsche Dir, wenn nötig, eine kleine Reformation, denn Dein Glaube gehört Dir.