Wer in einem evangelikalen Umfeld gestanden hat, kennt den Ausdruck der «Zehnten». Es ist ein alttestamentlicher Ausdruck für ein Zehntel des Einkommens, das (damals) an die Menschen bezahlt wurde, die den Dienst in dem jüdischen Tempel vollbrachten. Als Ausdruck werden die Zehnten heute regelmässig dafür genutzt, den Betrag zu definieren, der von Christen der eigenen Glaubensgemeinschaft gespendet werden sollte.

Wer fordert 10% des Einkommens? Das ist nicht immer klar. Wohlweislich werden viele Pastoren nicht auf die Zehnten bestehen, weil sie wissen, dass sich das biblisch nicht direkt begründen lässt. Wir leben nicht mehr in alttestamentlichen Zeiten. Der Ausdruck wird auch nicht mit der heutigen Gemeinde verknüpft. Die Grundlage für das Erheben von «Zehnten» ist demnach dürftig, wenn nicht gar inexistent. Dazu gleich mehr.

An dieser Stelle geht es um die Frage «Wer fordert 10% des Einkommens»? Es gibt tatsächlich Gemeinschaften, wo dies als «Regel» gesehen wird. In Gemeinden jedoch, wo der Pastor das nicht direkt formuliert, grassiert die Annahme dennoch unter Gemeinde-Mitgliedern, weil nicht klar Stellung dagegen bezogen wird. Der Grund dürfte einleuchten: Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die von diesen Spenden leben. Sie werden das kaum direkt ablehnen, weil sie damit ihre Existenzgrundlage hinterfragen.

Ich habe mit vielen Christen über dieses Thema gesprochen. Nicht selten gab es dazu Fragen, wie viel man denn der Gemeinde spenden sollte. Nicht das Spenden wurde infrage gestellt, sondern die Grösse des Betrages wurde erfragt. Damit gibt es gleich mehrere Probleme.

  • Es liegt eine Verführung darin, Glaube, Glaubenseinsatz, Spenden, zu quantifizieren. Das ist in etwa so, dass man ein Teil des Lebens «für Gott» abspaltet, der Rest aber von dieser Erwartung nicht berührt ist. Tut man das «Wenige», gehört der Rest mir. Man könnte das auch so formulieren: Wenn ich 10% bezahlte, habe ich 90% als Freibetrag zur Verfügung. Das ist, als ist der Sonntag für Gott und Gottesdienst, und der Rest der Woche kann ich tun und lassen, was ich will. Hier geht der Mensch einen Handel mit Gott ein: Ich gebe Dir etwas, damit Ruhe ist. Eine Art Ablasshandel.
  • Der Fokus auf «was» ich tue, wird höher eingeschätzt als die Haltung, womit ich es tue. Hier gilt wohl auch die Ermahnung, die wir in Hosea lesen können: «Denn an Frömmigkeit habe ich Gefallen und nicht am Schlachtopfer, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern» (Hosea 6,6, vgl. Mt 23,23 und Mk 12,41-44).

Was ist biblisch?

Nicht wenige Christen sind sich unsicher, was sie spenden sollten und halten sich dann gerne an «biblische» Massstäbe. Was das genau ein sollte, ist nicht klar. Man sucht einen Massstab, weil es einfacher ist zwischen «richtig» und «falsch» zu unterscheiden, als selbst für das Mass der Spende Verantwortung zu übernehmen. Der Wunsch nach gesetzlichen Regelungen dient dem religiösen Menschen, auch, wenn es mit «lebendigem Glaube» nichts zu tun hat.

Die Gespräche über dieses Thema drehen sich häufig um die Zehnten. Wenn jemand 10% des Einkommens spenden will und kann, dem steht das selbstverständlich frei. Nicht für jeden ist es jedoch vernünftig. Viele Haushalte leben mit einem grossen finanziellen Druck. Spenden in diesem Ausmass gelingen nicht.

Erstaunlicherweise wird diese Existenzgefährdung mit Bibelzitaten überspielt. Auch das ist eine fromme Verführung. Das geschieht in etwa so:

  • Man zitiert 2. Korinther 9,6-15, worin es unter anderem heisst: «Gott liebt den freudigen Geber». Man nutzt diese Aussage zur Manipulation: «Möchtest Du, dass Gott Dich liebt, dann spende, weil Gott den freudigen Geber liebt.»
  • Diese Aussage scheint im Kontext mehr Gewicht zu bekommen, denn es heisst «Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten» (2Kor 9,6). Das Wohlstandsevangelium geht so vor: Geld ist wie eine Pflanze, die man pflanzen kann, um dann später die Früchte zu ernten. Die Früchte sind mehr als der Samen. Spendest Du Geld, dann betrachte es als Samen. Je mehr Samen Du säst, desto grösser wird die Ernte. Spende das Wenige, das Du hast, und bald bist Du Millionär – oder so ähnlich. Das ist ein Machbarkeitswahn und ein magisches Denken. Geld, welches man so «sähen» soll, landet selbstverständlich bei der Leitung der Glaubensgemeinschaft (Video: Extreme Entgleisungen in den USA).

Bei diesen und ähnlichen Argumenten wird die Bibel zitiert. Damit soll, so manche Argumentation, das Prinzip «biblisch» sein. Das erscheint mir recht naiv. Wer für diese Argumente fällt, in der Annahme, das bedeutet, dass Gott dies so will (wie ich oft erlebt habe), versteht nicht, was hier geschieht. Das Zitieren einer Aussage der Bibel macht eine Annahme «über» die Bibel nicht «biblisch». Keine Aussage der Bibel kommt ohne Kontext aus.

Wie sieht der Kontext in 2Kor 9 aus? Paulus beginnt mit den Worten «Denn euch von der Unterstützung für die Heiligen zu schreiben …». Hier werden zwei Gruppen genannt, nämlich «euch» und «die Heiligen». Das Erste spricht von der Gemeinde in Korinth und die Heiligen sind die Gläubigen einer anderen Gemeinde. Die Unterstützung, worüber Paulus hier spricht, betrifft nicht etwa die Gemeindeleitung, oder den Ausgaben einer Gemeinde allgemein, sondern der Apostel spricht direkt über eine Unterstützung für andere Gläubigen. Es geht um eine andere Gemeinde. Die eine Gemeinschaft (in Korinth) unterstützt eine andere Gemeinschaft.

Im Kapitel zuvor hat Paulus Folgendes geschrieben:

«Also denn nicht so, dass andere Entspannung haben, ihr aber Bedrängnis, sondern zum Ausgleich soll bei der jetzigen Gelegenheit eure Überfülle den Mangel jener ausgleichen, sodass ein andermal die Überfülle jener eine Hilfe für euren Mangel werde, damit ein Ausgleich stattfinde, sowie geschrieben steht; wer viel gesammelt hatte, dessen Teil nahm nicht zu; und wer wenig gesammelt hatte, dessen Teil war nicht geringer (2Mo 16,18).»
2Kor 8,13-15

Die zuvor zitierten Aussagen aus dem 9. Kapitel zielten also nicht auf die ständige Finanzierung einer Gemeinde, oder gar der Gemeindeleitung, sondern auf einen temporären Ausgleich der Notsituation einer anderen Gemeinde.

Dies ist Gemeindelehre. Von den Zehnten ist keine Rede. Von einer ständigen Abgabe von 10% des Einkommens wird mit keinem Wort gesprochen. Woher kommen nun die sogenannten Zehnten?

Die Zehnten in der Bibel

Das erste Mal, dass die Zehnten in der Bibel genannt werden, ist im 1. Buch Mose:

«Und als er zurückgekehrt war, nachdem er Kedorlaomer und die Könige, die mit ihm gewesen, geschlagen hatte, zog der König von Sodom aus, ihm entgegen, in das Tal Schawe, das ist das Königstal. Und Melchisedek, König von Salem, brachte Brot und Wein heraus; und er war Priester Gottes, des Höchsten. Und er segnete ihn und sprach: Gesegnet sei Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt! Und gepriesen sei Gott, der Höchste, der deine Feinde in deine Hand geliefert hat! – Und Abram gab ihm den Zehnten von allem.»
1Mo 14,17-20

Abram – der damals bislang nicht «Abraham» hiess – gab Melchisedek (etym. «König der Gerechtigkeit»), dem König von Salem, den Zehnten von allem. Wie dies beschrieben ist, betraf es eine einmalige und freiwillige Schenkung.

Später sprach Jakob ähnliches als Gelübde zu Gott:

«Und Jakob stand des Morgens früh auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und stellte ihn auf als Denkmal und goss Öl auf seine Spitze. Und er gab selbigem Orte den Namen Bethel; aber im Anfang war Lus der Name der Stadt. Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Wege, den ich gehe, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich in Frieden zurückkehre zum Hause meines Vaters, so soll Jahwe mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Denkmal aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes sein; und von allem, was du mir geben wirst, werde ich dir gewisslich den Zehnten geben.»
1Mo 28,22

Jakobs Gelübde spricht von der Zukunft. Er hat einen Stein aufgerichtet. Dieser Stein soll «Haus Gottes» sein. Von allem, was er künftig erhalten sollte, versprach er 10% an Gott. Auf welche Weise, das wird nicht weiter erklärt.

Später wurden die Zehnten in Israel als Abgabe für die Leviten (4Mo 18,21) und Könige (1Sam 8,15-17) eingesetzt. Die Zehnten (oder: der Zehnte) gab es bereits vor diesen kultischen und staatlichen Anwendungen. Der Zehnte ist ausserdem nicht nur religiös zu verstehen. Es gibt noch eine soziale Anwendung: Einmal in drei Jahren wird der Zehnte für Leviten, sowie für Bedürftigen bereitgestellt (5Mo 14,28-29).

Wer nun sagt, die Spende von den Zehnten des Einkommens sei «biblisch», darf noch erklären, was er damit meint und wie diese Regelungen in der heutigen Zeit zu verstehen seien. Eine «biblische Grundlage» für die Anwendung auf die heutige Gemeinde lässt sich hier nicht finden.

Im Neuen Testament finden wir die Zehnten in den Evangelien und im Hebräerbrief. Diese reden in einem Kontext der jüdischen Geschichte, Erwartung und Usanz. Eine Gemeinde aus allen Nationen wird hier mit keinem Wort erwähnt. Die Verweise sind ausschliesslich an das Alte Testament, wo Israel – und nur Israel – die Zehnten zahlten (4Mo 18,21-24).

Zusammenfassung

Der Grundsatz für eine gesunde Bibelinterpretation ist: Betrachte den Text im Kontext und nach dem Grundtext. Und: Alles ist zwar für uns gegeben (damit wir in übertragenem Sinne daraus lernen), aber nicht alles spricht von uns.

Nicht alles, was in der Bibel erwähnt ist, gilt uns. Nicht alles, was fromm eine Bedeutung erhält, gilt deshalb uns. Das dürfte so manche Spannung lösen. Gott erwartet keine Zehnten von uns. Wir müssen der Gemeinde keine Zehnten bezahlen, weil das «biblisch» sei. Solche Annahmen sind fromme Projektionen, nicht dazu geeignet, Menschen freizusetzen.

Wer nun frei ist, und ein Projekt, eine Gemeinde, eine Person unterstützen möchte, der kann und soll das machen. Das ist tatsächlich wichtig, jedoch ist das eine Auswirkung der Gnade, nicht eine Vorbedingung für Gnade. Es ist freiwillig, weil nur das der Gnade entspricht. Wer Gnade erlebt hat, versteht, dass alles (ohne Ausnahme) aus Gnade ist. Verwalten wir diese Gnade in unserem Leben und unserer Lebensausrichtung.

Reden wir über Geld (1)