Viele Menschen wenden sich von den Kirchen ab. Der Leerlauf der Kirchen begrenzt sich nicht auf die Volkskirchen, sondern trifft auch die Freikirchen, obwohl auf andere Art. Es gibt eine Ratlosigkeit in der Kirche angesichts dieser Änderungen. Die ratlose Kirche: Worum geht es hier wirklich?

Der ratlose Mensch

Vor der Ratlosigkeit der Kirche gegenüber Kirchenaustritten steht der ratlose Mensch. Der Mensch, der ratlos in der Kirche oder Freikirche steht und sich fragt: «Was tue ich hier?».

Vor der Ratlosigkeit der Kirche steht der ratlose Mensch.

Der ratlose Mensch ist ein Spiegel für die Kirchen und Gemeinden. Vielleicht sind es die Gleichgültigen, für den Glauben oder Kirche noch nie etwas bedeutet haben. Vielleicht wurden sie in die Kirche hineingeboren und realisieren nun, dass diese kirchliche oder freikirchliche Struktur nichts mit den eigenen Lebenserkenntnissen zu tun hat. Ich kann das gut verstehen, wenn jemand dann ehrlich für sein Empfinden wählt und austritt. Heute ist das kein Problem. Man kann ohne gesellschaftliche Ächtung aussteigen. Viele tun das.

Der ratlose Mensch kann auch der Enttäuschte sein. Die Enttäuschung ist ein Prozess der Aufdeckung aller Täuschungen. Die Täuschung wird entfernt. Man erkennt, dass die Erwartungen an die Gemeinschaft nicht erfüllt wurden oder vielleicht auch nie erfüllt werden können. Einige entdecken, dass es in der Gemeinde keine Entwicklung gibt, dass neugieriger, lebendiger Glaube und der Wunsch nach ergebnisoffenem Bibellesen, vielleicht sogar das Gespräch über den Glauben nicht erwünscht sind oder nur innerhalb starren dogmatischer Schranken ablaufen dürfen. Die Kirche oder die freikirchliche Gemeinde wird zum Hinderungsgrund für einen lebendigen Glauben. Kann man in solchen rigiden Glaubensgemeinschaften verharren? Natürlich nicht. Es kommt zum Austritt.

In beiden Fällen – ob durch Gleichgültigkeit oder durch erkannte Rigidität – der Austritt ist ein positives und gutes Zeichen. Der ratlose Mensch, der austritt, ist nicht mehr ratlos, sondern entschieden. Vielleicht hat er noch keine Lösung für die ureigenen Fragen, aber er verharrt zumindest nicht mehr in einer ungesunden Struktur. Wer sich in diesem Sinne entscheidet, ist kein notorischer Gemeinde-Wechsler, der sich etwa nicht eingliedern kann (ja, die gibt es auch), sondern ein gesunder Mensch, der in ungesunden Situationen nicht verharren will.

Relevanzverlust der Kirche

Der Leerlauf der Kirche fällt am meisten bei den Landeskirchen auf. Doch kennen auch Freikirchen dieses Phänomen, sogar dann, wenn der Gemeindesaal am Sonntag bis zum Rand gefüllt ist. In Freikirchen ist der Leerlauf vielmehr eine Durchströmung. Enttäuschte Menschen meiden den Gottesdienst und verlassen die Gemeinschaft, was aber nicht so auffällt, weil viele Neuzugänge die Zahlen wieder ausgleichen.

In den Freikirchen ist der Leerlauf vielmehr eine Durchströmung.

Der Leerlauf der Kirchen und der Abschied von Menschen an die organisierte Religion ist ein Merkmal unserer Zeit. Wer von Relevanzverlust spricht, macht eine Beobachtung. Wer dem Relevanzverlust entgegenzuwirken versucht, der verharrt in der Position der Vergangenheit und versucht die Gegenwart dorthin umzubiegen. Das dürfte ein vergebliches Unterfangen sein.

Der ratlose Mensch, der aussteigt, ist das kostbarste Geschenk für die Gemeinschaft. Wer aussteigt, wer umkehrt, der hat erstens etwas erkannt und zweitens den Mut, daran etwas zu ändern (siehe auch «Ausbruch aus starren Glaubensstrukturen»). Für die Gemeinschaft kann der Ausstieg Bestürzung auslösen. Der Leerlauf kann Ratlosigkeit bewirken. Das wäre aber gerade der Punkt, an dem man ansetzen kann. Diese Bestürzung und diese Ratlosigkeit können als Anregung wahrgenommen werden. Es kann die Grundlage für eine Selbstreflexion und Erneuerung bedeuten: Was sagen diese Aussteiger über mich selbst, über meine Kirche und über meine Gemeinde aus?

Vermeidungsstrategien und Heilungsansätze

Vor der Reflexion gibt es häufig Vermeidungsstrategien. Man versucht, «zu retten, was noch zu retten ist». Wie man eine Relevanz zu erreichen versucht, sagt viel über die jeweiligen Glaubenssätze der Gemeinschaft aus. Relevanz versucht man häufig über Engagement zu erreichen. Zwei Themen sind beliebt:

  1. Popularisierung, Events und Aktivismus
  2. Soziales Engagement

Bei der Popularisierung geht es um Events, spezielle Gottesdienste, Disco in der Kirche und dergleichen mehr. Lässt sich damit der Leerlauf oder die Durchströmung verhindern? Solange man versucht, über äussere Massnahmen «Lebendigkeit» herzustellen, wird das nicht funktionieren. Die Kirche als Begegnungsort, als Kuschelecke, als Kindertreff, als Lebensgemeinschaft schafft zwar Berührungspunkte, aber diese Dinge sind nicht der tragende Kern. Von aussen nach innen zu denken, funktioniert auf Dauer nicht.

Wählt man statt Aktivismus eher soziales Engagement? Tatsächlich gibt es hier wertvolle Ansätze, die zu einer lebendigen Gemeinschaft beitragen, wie Diakonie, Seelsorge oder Lebenshilfe. Wenn eine örtliche Kirchgemeinde so etwas wie ein Anker in der Gesellschaft sein kann, finden bereits dadurch Menschen zur Kirche und nicht selten auch zu einem lebendigen Glauben. Wenn es jedoch das Ziel ist, dass «Menschen zur Kirche finden», dann wird daraus klar, dass die Institution das eigentliche Thema ist. Diese Erwartung muss früher oder später enttäuscht werden. Auch hier gilt, dass man das Pferd nicht hinter den Wagen spannen darf. Der Glaube ist nicht die Folge von Diakonie, sondern erst aus dem gelebten Glauben kann wirkliche Diakonie entstehen, die auch als «christlich» erkennbar ist. Nicht die Diakonie rettet die Kirche, sondern eine Gemeinschaft, worin die Menschen zum lebendigen Glauben ermutigt werden, diese rettet die Diakonie. Auf die Reihenfolge kommt es an.

Jede Gemeinschaft kann nur von innen her genährt werden.

Jede Gemeinschaft kann nur von innen her genährt werden (siehe «Woraus Gemeinschaft entsteht») und nur von innen nach aussen eine Wirkung entfalten. Eine Kirche, die ihre Existenzberechtigung an äusserlichen Dingen aufhängen will, verliert zwangsläufig die Merkmale einer Kirche als Glaubensgemeinschaft und damit in Folge ihre Existenzberechtigung. Daran ist an sich nichts falsch, aber man ist eben keine Kirche mehr.

Gefäss und Inhalt

Die Selbstverständlichkeit einer kirchlichen Präsenz oder die Selbstverständlichkeit eines «christlichen» Abendlandes sind vorbei. Wer dem Relevanzverlust entgegenzuwirken versucht, hat bereits verloren. Man versucht dann nur, das aufgedruckte Ablaufdatum mit einem neuen Datumskleber auszutricksen. Das ist Etikettenschwindel. Es geht nämlich nicht um Relevanz. Der Relevanzverlust ist zwar eine Beobachtung, aber er ist nicht das eigentliche Thema. Es mag hart tönen, aber es geht nie um die Kirche oder um die Gemeinde, noch geht es darum, «wie wir mehr Menschen in die Kirche bringen».

Ratlosigkeit gibt es nur aus einer Verwechslung von Gefäss und Inhalt. Die Institution oder die Organisation, sogar die gerade gelebte Kultur oder die traditionelle Ausprägung, sind nie das Wesentliche. Die Gemeinschaft entstand einst aus einem bestimmten Grund. Um diesen Grund geht es, nicht um das historisch gewachsene Gebilde. Wer nur die Kirche oder Freikirche retten will, der will das Gefäss retten, nicht den Inhalt. Es geht jedoch nicht um die Schläuche – es geht um den Wein, der darin aufbewahrt wird (Mt 9,17).

Wenn die Kirche eine Glaubensgemeinschaft ist, also von innen her genährt wird und über einen gemeinsamen Kern verfügt, dann kann sie tatsächlich nach aussen hin wirken. Die Relevanz entsteht aus dem einzigen Kern, aus dem die Kirche jemals ihre Kraft geschöpft hat: die gemeinsame Berufung von Christus her (siehe «Die wahre Grundlage für Gemeinschaft»).

Eine Zeit des Umbruchs

Ratlosigkeit ist ein Zeichen falscher Fokussierung und irreführender Erwartungen. Die Beobachtung kann jedoch zur Selbstreflexion führen. Diese kann den Weg zu einem Paradigmenwechsel frei machen. Worum geht es wirklich? Was ist in dieser Welt und in Bezug auf das Evangelium von Jesus Christus tatsächlich relevant? Viele Menschen sind ratlos angesichts der Irrelevanz der Kirche. Sie steigen aus, weil die alten Schläuche nicht mehr zum neuen Wein passen.

In einem Interview mit Professor Dr. Jürgen Moltmann sagt dieser: «Kirche funktioniert auch ohne Landeskirchenämter und die vielen Referenten. Die Bürokratien behindern und lähmen die Arbeit vor Ort. Karl Barth hat dies auch so verstanden. Er sprach von Christen- und Bürgergemeinde und nicht von Kirche und Staat» (jesus.de, Interview vom 28.11.2013, hier). In einem anderen Beitrag, welcher auf Livenet veröffentlicht wurde, sagt er: «Die evangelische Kirche müsse in Zukunft stark freikirchlich geprägt sein, wenn sie überleben wolle. In einer multireligiösen Gesellschaft können die Kirchen nicht mehr Volkskirchen sein, sondern sie werden auf ihren eigenen Füssen stehen müssen» (Interview vom 23.02.2018, hier). Hier entsteht die Idee einer «Freiwilligkeitskirche» oder «Mitgliedskirche», die von der Basis her aus der Gemeinschaft selbst heraus entsteht und in den Menschen persönlich greifen muss – weil sie selber ergriffen worden sind.

Kirche als Netzwerk?

In den USA wurde der Begriff «Emerging Church» geprägt. Emerging heisst so viel wie «hervorbrechen». Es ist das neue hervorbrechende Glaubensverständnis, das Altes abschält und Neues hervorkommen lässt. Nach dieser Bewegung ist die Kirche nicht mehr hierarchisch geprägt, sondern sie wird ständig neu formuliert, geformt, gedacht, weil dies der aktuellen Zeit entspricht. Darin enthalten ist auch die Ansicht, dass bisherige Kirchenformen überholt sind wie ein Anachronismus und wir den Mut haben sollten, Neues zu denken.

Kirche als Netzwerk einzelner Menschen? So in etwa könnte die Emerging Church funktionieren. Es gibt jedoch nicht eine einzige Form der Emerging Church. Nicht jede Äusserung muss als gut und gesund betrachtet werden. Es ist die Bewegung selbst, das Bewegen, welches zentral steht. Der Bezug zu Christus ist nicht abhängig von einer äusseren Schale, einer Kirche oder Denomination. Das Leben von Christus lässt sich nicht in ein System pressen. Ebenso lässt sich das Leben von Christus gut ausserhalb der traditionellen Kirchen leben. Wenn die Kirche zur Institution, zum System, zum Regelwerk verkommen ist – und das gilt gleichermassen für Volkskirchen wie für freie Gemeinden – dann werden Menschen aussteigen und einen neuen Zugang suchen, die für sie selbst stimmig ist. Das nämlich entspricht der heutigen Zeit. Es ist eine wertfreie Feststellung ohne Pro oder Kontra zur Entwicklung.

Leben wir in einer Zeit des Umbruchs? Zweifellos. Die hier skizzierten Entwicklungen geschehen bereits. Angesichts des Leerlaufs der Kirchen ist die Ratlosigkeit der Kirchen real. Die Kirche ist aber nie das Thema. Ebenso real ist die Enttäuschung vieler Menschen über Freikirchen. Es muss einen anderen Weg geben. Der ratlose Mensch darf sich auf das Wesentliche besinnen. Eine solche Besinnung legt Paulus etwa der Gemeinde in Philippi nahe:

«Und dafür bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr in Erkenntnis und allem Feingefühl dazu überfliesse, dass ihr prüft, was wesentlich ist, damit ihr auf den Tag Christi aufrichtig und unanstössig seid, erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Verherrlichung und zum Lobpreis Gottes.»
Phil 1,9-11

Buchempfehlung

Eine gute Einführung in diese Entwicklung ist das Buch «Der Schrei der Wildgänse. Aufbrechen zu einem freien Leben in Christus jenseits von Religion und Tradition» von Wayne Jacobsen und Dave Coleman (Amazon: hier), das in einer fiktiven Geschichte viele Fragen und Entwicklungen skizziert, die zum Begriff «Emerging Church» passen.