Lange war ich fest verankert in Gemeinschaften, in denen «Glaube» so absolut war wie Gott selbst. Das war natürlich beruhigend. – Bis es das nicht mehr war. In zwei Beiträgen möchte ich dem etwas nachgehen.

Es gibt eine grosse Verwirrung. Es ist die Verwirrung über das, was Glaube ist. Der eine fragt «Was für einen Glauben hast du?» und meint damit vielleicht Abstammung (aus christlichem Hause?) oder Denomination (zu welcher Kirchengemeinschaft gehörst du?). Es kann auch danach fragen, ob man bestimmte religiöse Gefühle hat (das Zauberwort hier heisst «spirituell»). Für viele ist Glaube gleichbedeutend mit einer bestimmten Botschaft (die man «glaubt»). Das Letzte mutiert dann schnell zu einem Mittel zur Abgrenzung und Verketzerung anderer. Glaube ist dann nur noch die Prägung der eigenen Gruppe, der im Kampf mit allen anderen steht. Nochmals andere sehen Glaube als Nationalität. «Du kommst aus dem Westen, also bist du Christ». Da wird man in eine Religion hineingeboren. So funktionieren Schubladen.

Glaube ist unglaublich und kann – wie ein Chamäleon – die Farbe offenbar nach Lust und Laune oder nach der Umgebung anpassen.

Glaube ist unglaublich

Das alles hat aber mit dem, was in der Bibel bezeugt wird, nur wenig zu tun. In diesem Beitrag geht es mir nicht um die ganze Vielfalt des Glaubens in aller Welt, nicht einmal um die Vielfalt des Glaubens innerhalb christlicher Gemeinschaften, sondern speziell um Glaubensannahmen, die bis heute in evangelikalen Kreisen gelebt werden. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Es gibt auch handfeste Probleme mit gerade diesem zentralen Wort «Glauben».

Wie ist es also mit «Glaube»?

Das Wesen von Glaube

Glaube kann man nicht kaufen. Es ist kein Gegenstand, den ich an einem unbekannten Ort abholen kann. Glaube kann ich nicht sehen. Glaube beruht auf das Verb «glauben». Es ist eine Tätigkeit, eine aktive Haltung. Es ist keine Errungenschaft, sondern etwas, das ich jeden Tag «tue».

Glaube ist schlicht «Vertrauen», wie das aus den Sprachen der Bibel hervorgeht und wie das in mehreren Beiträgen hier bereits genannt ist. Wer glaubt, der vertraut. Das ist kein «Fürwahrhalten» irgendwelcher «Fakten». Vertrauen ist viel direkter und persönlicher. Wir können Gott vertrauen, d.h. wir können Ihn vertrauen.

Glaube ist demnach persönlich, weil nur ich selbst «vertrauen» kann. Niemand kann das an meiner Stelle tun. Wir sind Glaubende, aber jeder auf seine Art. Mit dem «Inhalt» des Glaubens, dem Bezugspunkt des Vertrauens, hat das vorerst nichts zu tun. Das ist zwar nicht unwichtig, aber Vertrauen ist ein Verb, kein Ding. Es ist eine Tätigkeit. Wir glauben heisst, dass wir aktiv selbst vertrauen.

Allgemein oder persönlich?

Plötzlich hatte ich zwei Vorstellungen im Kopf. Einerseits die öffentlich vorgetragene Idee, dass Glaube etwas sehr Stabiles und sogar Leistungsfähiges ist, wodurch ich sozusagen «Gott anzapfen» kann. Andererseits die Idee von Vertrauen. Vergleichen wir einmal die beiden Vorstellungen.

1. Anspruch auf Allgemeingültigkeit

Es war der Anspruch auf ein allgemeingültiges Glaubensverständnis, worin es um Inhalt, Stärke und Zuversicht ginge. Typische Äusserungen sind etwa:

  • Religiöse Handlungen
    Tue dies! Tue das! Lasse dies! Lasse das! Wenn du so und so tust, bist du dabei, dann liebt dich Gott! Gute Christen kommen in die Gemeinde und später in den Himmel oder auf die Neue Erde! Halte stille Zeit! Kein Sex vor der Ehe! Unterordnung der Frau! Das steht alles in der Bibel! (Spoiler: nein, das steht da alles nicht.)
  • Machbarkeitswahn
    Alles ist möglich, für den, der glaubt! Bete und dir wird gegeben! Wenn du nur glaubst, wird dich Gott heilen! (Spoiler: das sind Projektionen und Wahnideen, die nicht in der Bibel gelehrt werden.)
  • Tipps aus dem Himmel
    «Der Herr spricht: …!» und «Gott hat mir gesagt …». Solche Aussagen sind eine fromme Verführung, worin vorgegaukelt wird, dass tägliche eine WhatsApp-Nachricht aus dem Himmel kommt, mit Direktiven für das tägliche Leben. Sinngebung durch vermeintliche geistliche Überlegenheit und Special Effects. (Spoiler: Gnade Gottes ist wirksamer als Special Effects.)

2. Glaube ist persönlich

Glaube als «persönlichen Glaube» zu definieren, kann auch gerne missverstanden werden. Viele Menschen, vorwiegend in traditionellen Kirchen, sehen Glaube als Privatsache. Sie möchten nicht darüber reden. Wenn diese Menschen sagen, Glaube sei persönlich, wird damit jeden Austausch abgebrochen.

An dieser Stelle jedoch deute ich das anders. Ich meine hier, dass ein persönlicher Glaube ein Glaube ist, der nur persönlich gelebt werden kann. Dieser Glaube hat Relevanz für Dein Leben und es lässt sich trefflich darüber austauschen, weil Du Dich darüber Gedanken machst.

Die Bibel kennt nur ein einziges Wort für Glaube und Vertrauen. Das gilt für das hebräische Alte Testament und das griechische Neue Testament. In beiden Sprachen gibt es nur ein einziges Wort, wofür wir zwei Wörter haben. Wer glaubt, der vertraut – und umgekehrt. Wer Gott glaubt, hat ein schlichtes Gottvertrauen. Dazu folgende Gedanken:

  • Gottvertrauen
    Gottvertrauen kann pauschal sein. Ich kann Gott vertrauen für alles, was in der Welt ist und für alles, was in meinem Leben passiert. Das heisst keineswegs, dass alles etwa gut ist oder gut sein sollte. Ich kann aber darauf vertrauen, dass Gott es gut macht, auch wenn es gerade nicht gut läuft. Ein solches Vertrauen enthebt mich nicht aus der Eigenverantwortung, aber drückt aus, dass ich Gott als grösser betrachte, als alles, was hier geschieht. Das ist ein allgemeines Gottvertrauen.
  • Gott vertrauen
    Es kann noch einen Schritt weitergehen. «Gottvertrauen» wird mit einem Wortabstand ergänzt, sodass man von «Gott vertrauen» spricht. Man vertraut dann Ihm, oder mehr speziell: Man vertraut Seine Aussagen. Paulus bezeugt das in einer stürmischen Nacht auf hoher See wie folgt: «Darum seid guten Mutes, ihr Männer; denn ich glaube Gott, dass es so geschehen wird, in der Weise, wie es mir verheissen wurde» (Apg 27,25). Paulus hat von Gott eine Zusage erhalten. Dies prägte nun seine Zuversicht. Wir lesen nicht, dass Paulus «Gottes Wort» vertraute, sondern er vertraute Gott, der ihm eine Botschaft hatte ausrichten lassen. Merke: Paulus «hat» keinen Glauben, sondern er «bezeugt» Vertrauen. Sein Gottvertrauen wurde durch Gottes Zusagen genährt.

Kongruenz im Glauben

Zwei Vorstellungen habe ich im Kopf: Einerseits eine allgemeine Vorstellung davon, was Glaube «sein sollte», andererseits ein schlichtes «Vertrauen». Das Erste ist fest zementiert, das Zweite ist lebendig und lässt sich nur leben. Das war ein Gegensatz. Dies war ein Riss im Denken. Es schien allerdings Licht durch diesen Riss. Ich fing an zu verstehen, dass es nicht nur eine einzige Sicht gab, nur schwarz und weiss, nur absolutes Vertrauen oder abgrundtiefe Gottlosigkeit, sondern mein Glauben und Vertrauen sind sehr persönlich. Jeder glaubt und vertraut aus seinem eigenen Menschsein heraus. Das hatte ich bis dahin nicht verstanden oder bewusst ausgeblendet.

Ich habe mich mit diesem «Riss im Denken» näher auseinandergesetzt. Ich habe mich erneut der Bibel zugewandt, geprüft, ob das Schwarzweiss-Denken in der Bibel gelehrt wird. Vielleicht ging es aber auch um etwas anderes, das ich bislang übersehen hatte? Ich spürte, dass ich die Kongruenz zwischen Leben und Glauben bewusst angehen musste.

Die Folgen dieser Auseinandersetzung waren umwerfend. Es ergab alles Sinn. Jeder um mich herum hatte einen persönlichen Glauben. Alle wurden durch dieselbe Verkündigung zum Glauben ermutigt, aber das Resultat war immer «persönlich». Das ist doch logisch? Nein, das war es nicht. Damals war es neu für mich. Deshalb kann ich jeden verstehen, der heute damit ringt. Ich musste lernen, zu differenzieren. Zwar hörte ich in Predigten und Bibelstunden, «wie Glaube war», aber gaukelte man da nicht ein einheitliches Verstehen vor? Das einheitliche Verstehen war in Realität nie da. Jeder glaubte persönlich. Zelebriert wurde das jedoch selten.

Im Laufe der Zeit lernte ich drei Arten von Glaubensgemeinschaften kennen, die alle nicht weiter führen:

  1. Gemeinschaften, in denen die Bibel gar nicht mehr auf den Tisch kam,
  2. Gemeinschaften, die nur noch die Bibel auf dem Tisch hatten und alles Persönliche, Lebendige und auch Zeitgemässe ausblendeten.
  3. Die Mischform, worin die Bibel zwar zitiert wird, aber nur im Rahmen der favorisierten Stellen, Dogmen und Auslegungen. Dann noch etwas Emotionalität dazu, um den Eindruck persönlicher Bezogenheit zu forcieren.

Alle diese Arten von Glaubensgemeinschaften haben ein Identitätsproblem und verlieren unweigerlich ihre christliche Identität. Man verliert entweder den Bezug zur Bibel oder den Bezug zum Leben. Lebendiger Glaube will jedoch beides in Verbindung lassen. Glaube soll mein Leben befruchten. Ich wünsche mir Kongruenz zwischen Leben und Glauben, nicht aufgesetzt, sondern gelebt. Das geht nur mit persönlicher Auseinandersetzung, also mit einer Auseinandersetzung, die auch mich selbst ernst nimmt. Ansonsten verliert man sich in Vorstellungen, Lehrgebäuden und dergleichen mehr.

Ich wünsche mir Kongruenz zwischen Leben und Glauben, nicht aufgesetzt, sondern gelebt.

Man soll einmal genau zuhören, was man in einer Glaubensgemeinschaft (beliebiger Art) über Glaube und Menschsein sagt. In der Regel geht es um eine bestimmte Narrative, ein bestimmtes Glaubenskonzept, mit begrenzten Annahmen. Das ist jedoch kein Glaube. Das ist bloss eine kulturelle Prägung, basierend auf die Geschichte einer Gemeinschaft. Mit diesem vermeintlich einheitlichen Verstehen und dem Druck zur Gleichschaltung setze ich mich kritisch auseinander im Beitrag «Gleichschaltung in der Gemeinde».

Ist Glaube absolut?

Schreibe ich, dass Glaube immer nur persönlich sein kann, begegne ich oftmals eine Gegenreaktion. Das Gegenüber befürchtet, dass ich Glaube relativiere. Man steht dann in einem Verständnis, worin alles absolut fest steht. Mit einem persönlichen und differenzierten Verständnis ginge «Glaube» verloren. Fürchtet man das, ist man immer noch in diesem Schwarzweiss-Denken gefangen. Denn: Es wird nichts relativiert, sondern bloss differenziert. Unterschiede werden erkannt, damit man klarer sehen kann.

Mein persönliches Verständnis ist nicht absolut. Wer das behauptet, stellt sich auf einer Ebene mit Gott, Der allein über allem steht. Kein Mensch ist absolut. Kein Glaube eines Menschen ist absolut. Gott ist absolut, mein Vertrauen aber ist relativ. Es ist relativ zu meinem Menschensein, meinem Werdegang, meinem Verständnis und meinem Fürwahrhalten.

Man muss also dem Wahrheitsbegriff keine Gewalt antun, wenn man merkt, dass man selbst nur ein Bruchteil davon versteht oder mangelhaft «vertraut». Es benötigt lediglich etwas Demut, zu erkennen, dass man ganz und gar von Gott abhängig ist. So ähnlich wie es ein Vater zu Jesus sagt:

«Sogleich rief der Vater des Knäbleins laut unter Tränen aus: Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!»
Mk 9,24

Ganz erstaunlich: Dieser Mann war kein Glaubensheld, sondern ermutigt mit seiner Aussage und Geschichte bis heute Menschen, «die nicht so fest glauben» können. Ihm wurde geholfen, weil er sein Vertrauen (!) auf Christus setzte. Die Kraft lag nicht in ihm selbst, sondern er suchte sie bei Ihm.

Unsicherheit im Glauben

Unsicherheit im Glauben wird gerne mit Unglaube verwechselt. Wenn man in absoluten Kategorien denkt, erzeugt eine solche Sichtweise unglaublichen Druck. Unsicherheit im Glauben ist jedoch kein Unglaube, sondern es geht im persönlichen Glauben auf und ab. Das ist normal. Sich dessen bewusst zu sein, ist ehrlich und nüchtern. Man fühlt nicht jeden Tag gleich, denkt nicht jeden Tag klar, ist nicht an jedem Tag voller Hoffnung und zweifelt mitunter an sich selbst oder gar an Gott. Das ist die Realität in unserem Leben. Bist Du ein Glaubensheld? Nun, ich bin es nicht – und das ist gut so.

Hier ist der Unterschied: Wer sich selbst als schwach erkennt, lernt die Bedeutung von Gnade. Paulus beschreibt dies wie folgt:

«Wer ist schwach, und ich bin nicht schwach mit ihm?»
2Kor 11,29-30

Paulus war kein Glaubensheld. Für mich ist er ein Leitbild von Nüchternheit.

«An mir selbst werde ich nichts rühmen, ausser den Schwachheiten an mir.»
2Kor 12,5

Dasselbe führt er noch weiter aus:

«Doch Er [Gott] hat mir versichert: „Dir genügt Meine Gnade; denn Meine Kraft wird in Schwachheit vollkommen gemacht.“ Sehr gerne werde ich daher eher die Schwachheiten an mir rühmen, damit die Kraft des Christus über mir zelte.»
Aus: 2Kor 12,7-10

Dies ist das Zeugnis und die Erfahrung von Paulus. Er schreibt das der Gemeinde in Korinth, damit sie lernen auf das zu achten, was wichtig ist. Am Beispiel von Paulus können wir ablesen, dass er nicht immer stark und siegreich war. Er war schwach, geplagt, verfolgt und vieles mehr.

Paulus differenzierte. Einerseits erkannte er die eigene Schwachheit. Andererseits erkannte er die Kraft von Christus. Diese Differenzierung erscheint für einen gesunden Glauben unabdingbar. Gerade weil er seine Begrenzungen verstand, vertraute er auf Gott und auf Seinen Christus. Ganz nüchtern legt er den Fokus auf etwas anderes als «Glaubensleistung», wenn er schreibt:

«Falls jemand etwas erkannt zu haben meint, dann hat er noch nicht so erkannt, wie man erkennen muss. Doch wenn jemand Gott liebt, der ist von Ihm erkannt worden.»
1Kor 8,2-3

Glaube ist relativ

Wahrheit, damit sie Wahrheit ist, bleibt absolut. Mein Verständnis jedoch ist nur begrenzt. Wahrheit ist grösser als ich selbst bin. Auch Gott ist grösser als ich selbst bin. Mein Glaube ist nur mein persönlicher Glaube. Dieser Glaube schwankt, kann jedoch ernährt werden. Dadurch kann meine Zuversicht wachsen. Es ist ein Wachstum, hin zum Erwachsen werden im Glauben:

«Bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum gereiften Mann, zum Mass des Vollwuchses der Vervollständigung des Christus, damit wir nicht mehr Unmündige seien, von jedem Wind der Lehre wie von brandenden Wogen hin und her geworfen und umhergetragen durch die Unberechenbarkeit der Menschen, durch die List, die darauf ausgeht, den Irrtum planmässig zu verbreiten.»
Eph 4,13-14

Glaube ist relativ, weil ich selbst erst unterwegs bin. Ich bin lernend. Ich kann mich aber danach ausstrecken, dieses Wachstum des Glaubens in Liebe zu fördern, bei mir selbst wie bei anderen Menschen. Gnade kann so etwas in Dir und mir bewirken.

Vertiefung

  • Worauf willst Du künftig achten?
  • Was war Dir hier neu und was bewirkt das in Dir?
Ist Glaube relativ? Teil 2