Wovon spricht die Bibel? Von Sünde? Was ist das? Viele Menschen sind mit biblischen Begriffen nicht mehr bekannt. Zudem sind viele Wörter mit Bedeutungen aufgeladen, die der Bibel fremd sind. Das macht es schwierig, sich zu verständigen. Diese Feststellung ist jedoch erst die Spitze des Eisbergs. Auch unter Christen gibt es grosse Unterschiede in der Art, wie man sich ausdrückt. Viele bemühen sich irgendwo dazuzugehören und übernehmen dafür bestimmte Ausdrucksweisen. Es gibt «christliche Geheimsprache», die nur innerhalb der eigenen Gruppe «funktioniert».

Alltagssprache

Opa oder Opi? Oma oder Omi? Fast jede Familie hat eigene Bezeichnungen für die Grosseltern. Diese speziellen Ausdrücke gehören zur Familie. Es wird damit Intimität ausgedrückt. Dasselbe gilt für Kosenamen. Wir verbinden Emotionalität mit Wörtern und schliessen mithilfe der Wörter Menschen in unseren Herzen und in einen engeren Kreis ein. Damit wird Gemeinschaft geprägt oder auch Nähe ausgedrückt.

Diese verschiedenen Ausdrücke zeigen auch, dass Identität mit Wörtern verknüpft wird. Was und wer wir sind, ist in Wörtern eingefangen. So kommunizieren wir. Das ist die Aufgabe von Sprache.

Gleichwertig geschieht das natürlich auch in unserem Berufsalltag. Jeder Beruf kennt die eigenen Fachbegriffe. Wer sich in diesem Beruf nicht auskennt, kennt die speziellen Ausdrücke nicht. Stosst man als Aussenstehender dazu, kann man nur raten, was dieses oder jenes heisst – was nicht immer gelingt. Genauso ist es für viele Männer entspannend, mit Kollegen zu «fachsimpeln». Das ist die gemeinsame Sprache. Man hat die gleichen Erfahrungen, spricht über bekannte Dinge und kann Wörter nutzen, die anderswo keine Bedeutung haben. Das schweisst Menschen zusammen, lässt so auch Freundschaften entstehen.

Sprache verbindet.

Sprache und Identität

Ich wohne als Niederländer seit über 30 Jahren in der Schweiz. Meine Muttersprache ist Niederländisch. Deutsch ist eine Fremdsprache für mich. Schweizerdeutsch ist … Dazu kommen wir gleich. Immer wieder habe ich Begegnungen mit Menschen verschiedener Herkunft, in denen man sich gegenseitig vorstellt. Das läuft dann so ab, dass jeder seinen Namen nennt, aus welchem Land man stammt und seit wann (oder für welche Zeit) man hier lebt. Schweizer erwähnen in einer solchen Runde häufig, dass man «aus diesem oder jenem Kanton» stammt, man von dort also «eingewandert» ist. Als ich das zum ersten Mal erlebte, fand ich das sehr witzig – man blieb doch im eigenen Land? Man ist doch einfach Schweizer? Mitnichten!

Ich vermute heute, dass es etwas mit Identität und Sprache zu tun hat. Schweizerdeutsch ist keine eigentliche Sprache, sondern eine Ansammlung von Dialekten, dem alemannischen zugehörig. Jede Stadt, fast jedes Dorf, hat die eigene Prägung. Ich kann durchaus verstehen, dass einige einen Ortswechsel oder den Wechsel vom Kanton als «Auswanderung» und «Einwanderung» sehen – sogar wenn man das Land nicht verlassen hat. Man wechselt die Sprache (den Dialekt) und damit die Kultur und Identität des Umfeldes, auch wenn man vielleicht nur 10 km weiter wohnt.

Daraus lässt sich etwas lernen. Wenn wir Sprachgruppen bilden, dann ist das wegen einer gemeinsamen Identität. Dies zu erkennen kann uns dabei helfen, die christliche «Geheimsprachen» auf Wert zu schätzen und so besser zu verstehen.

Sprache schafft Identität.

Sprache als Abgrenzung

Im Alten Testament gibt es eine interessante Geschichte. Im Buch Richter liest sich Folgendes:

«Und Jeftah versammelte alle Männer von Gilead und kämpfte mit Ephraim. Und die Männer von Gilead schlugen Ephraim; denn die hatten gesagt: Flüchtlinge von Ephraim seid ihr! Gilead liegt doch mitten in Ephraim, mitten in Manasse! Und Gilead nahm Ephraim die Furten des Jordan. Und es geschah, wenn ephraimitische Flüchtlinge sagten: Lass mich hinübergehen!, dann sagten die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Und sagte er: Nein!, so sprachen sie zu ihm: Sag mal: Schibbolet! Und sagte er: Sibbolet!, und brachte es nicht fertig, richtig zu sprechen, dann packten sie ihn und schlachteten ihn an den Furten des Jordan. So fielen in jener Zeit von Ephraim 42’000 Mann
Ri 12,4-6

Hier sehen wir also einen Kampf zwischen den Menschen vom Gebiet Gilead gegen den Menschen aus dem Gebiet Ephraim. Gilead gewann den Kampf und die Ephraimiter flüchteten zurück über den Jordan. An den Furten des Jordan haben die Männer von Gilead die Flüchtlinge aufgewartet. Wie konnte man die Männer von Ephraim erkennen? An der Sprache!

Jemand, der an den Furten kam, musste das Wort «Schibolet» (hb. Strömung) sagen. Gerade das konnten die Männer von Ephraim nicht. Die Aussprache wurde auf «Sibbolet» geändert. Dadurch hatten sie jedoch ihre Herkunft verraten und wurden umgebracht.

Es ist eine heftige Geschichte und man sollte sie unbedingt im Zusammenhang lesen. Einmalig ist jedoch der Sprachtest, der hier beschrieben wird. Sprichst Du wie wir, dann darfst Du leben, sprichst Du nicht wie wir, bringen wir dich um.

Sprache grenzt ab.

Die Sprache Kanaans

In so manchen christlichen Kreisen wird eine eigene Sprache gepflegt. Es geht um bestimmte Wörter, Ausdrücke, Ausdrucksweisen. Das Phänomen wird manchmal auch als «die Sprache Kanaans» beschrieben (vgl. Jes 19,18). Es ist eine Sprache für Eingeweihte. Man ist nur unter seinesgleichen und verwendet eine bestimmte Ausdrucksweise als Merkmal. Spricht man sie, gehört man dazu. Spricht man sie nicht, ist man ein Fremder. Für nicht wenige Menschen weckt diese Sprache Kanaans jedoch schlechte Erinnerungen, denn damit werden rigide und einengende Erfahrungen und Ansichten verknüpft.

Die «Sprache Kanaans» erkannt man daran, dass Ausdrücke benutzt werden, die sonst nirgendwo verstanden werden. Christen reden beispielsweise von «Fleisch und Geist» und vielen Wörtern mehr – und verknüpfen daran Vorstellungen, die Anderen unbekannt sind. Diese Wörter haben zwar innerhalb der eigenen Gruppe eine angebrachte Bedeutung, aber für die meisten Menschen ist das nur wirres Zeug. Wenn ich auf der Strasse jemand mit diesen Worten etwas erklären will, haben die Wörter oft keine oder eine ganz andere Bedeutung. Auf der vorher verlinkten Wikipedia-Seite gibt es eine ganze Reihe mit Ausdrücken, die zu dieser «Sprache Kanaans» gehören.

In dieser Geheimsprache geht es nicht nur etwa um eine bestimmte «Sprache», sondern es gibt verschiedene «Dialekten des fromm-seins». Jemand aus einer streng calvinistischen Kirche in Holland tönt anders als ein Freikirchlicher in Deutschland oder der Schweiz. Jeder «Dialekt» scheint Ausdruck eines religiösen Verständnisses zu sein (siehe auch den Beitrag: «Glaube und Religiosität»). Mit anderen Worten: Die Sprache fokussiert das religiöse Verhalten; Was man sagt, wie man es sagt, wie man sich verhaltet, ausdrückt, welche Hierarchie gilt, und viele dieser Dinge mehr werden über die Sprache abgebildet.

All dies ist ganz ohne Wertung, denn jeder versucht auf eigene Art «fromm zu sein». Es sind die besten Absichten erkennbar. Mir geht es hier nicht um diese oder jene Art, sondern um die Eigenart der jeweiligen Variante. Jede Variante hat ein eigener Dialekt, der für Aussenstehende fast unverständlich ist. Da liegt ein Problem und dessen kann man sich bewusst werden.

Wikipedia schreibt zu «Sprache Kanaans»:

«Sprache Kanaans ist eine selbstkritisch-ironisierende Bezeichnung für eine christliche Gruppensprache (Jargon), die – meist unbewusst – häufig in den Zusammenkünften freikirchlicher und pietistischer Kreise verwendet wird.»
Wikipedia

Wie ich aus meiner Erfahrung in calvinistischen Kirchen in Holland sagen kann: Es sind bei Weitem nicht nur freikirchliche und pietistische Kreise, die eine eigene «Geheimsprache» führen.

Diese Geheimsprache – wie immer sie auch geprägt ist – verwendet häufig Begriffe oder Ideen aus der Bibel. Ein Begriff wie «über den Jordan gehen» hat sogar mehrere Bedeutungen. Einerseits zog einmal das Volk Israel über den Jordan, um das verheissene Land in Besitz zu nehmen. Ob jemand «über den Jordan gegangen ist» heisst in diesem Zusammenhang so etwas wie «bist du schon zum Glauben gekommen?». Andererseits ist «über den Jordan gehen» auch ein Synonym für das Sterben, denn Mose wurde kurz vor dem Sterben gesagt, er könne nicht mehr mit dem Volk über den Jordan ziehen (5Mo 31,2). Er durfte das Land nur von Weitem noch sehen (5Mo 32,48-52). Hier ist der biblische Verweis also durch eine Ungenauigkeit «versimpelt», sollte diese Verknüpfung stimmen. Vielleicht ist es auch einen Verweis auf die Geschichte von Elia und Elisa. Elia wurde «über den Jordan» geschickt, um dort «zu sterben» (2Kön 2). Er fuhr in einem feurigen Wagen in den Himmel und ist damit eines von zwei Menschen in der Bibel, von denen geschrieben ist, dass sie «aus diesem Leben verschwanden, ohne dass explizit gesagt wird, dass sie sterben» (Mose wäre die zweite Person).

Eine gemeinsame Sprache schafft Gemeinschaft.

Weitere christliche Geheimsprachen

Eine «Geheimsprache» gibt es auch unter Theologen. Damit ein Theologe alltagstauglich wird, braucht es häufig eine Sprachumstellung, hinweg von einer Akademiker-Sprache hin zu einer Alltagssprache, denn die Zuhörerschaft kann mit einer rein theologischen Sprache meist wenig anfangen. Dabei darf man bedenken, dass auch Jesus und die 12 Apostel keine Theologen waren. Paulus war zwar ein Rabbiner, jedoch schrieb er keine Theologie, sondern Gemeindebriefe und richtete sich in persönlichen Briefen an Menschen aus seinem Beziehungskreis.

Dann gibt es Gemeinschaften, die sich sehr stark auf die Bibel abstützen und in denen man möglichst nur in Bibelworten spricht. Auch das mutet sich wie eine Geheimsprache an. Das ist zwar weltfremd, aber auch hier geschieht das mit den besten Absichten. Man möchte so nahe wie möglich an den Worten Gottes gelangen. Es ist ein richtiges Verinnerlichen der biblischen Aussagen. Man spricht vielleicht nicht nur ständig von «Brüdern und Schwestern», sondern betet auch etwa die Gebete der Bibel wortwörtlich nach.

Das Letzte habe ich selbst auch gemacht und mache es bis heute immer wieder. Ich empfinde das als grossen Reichtum. Es ist ein gutes Gegenmittel gegen Wortschwall und Oberflächlichkeit. Auch lernt man darauf zu achten, wie in der Bibel gebetet wird. Problematisch bleibt natürlich, dass ein Zitieren biblischer Gebete (beispielsweise von Paulus, Eph 1,15-23) für Menschen ausserhalb des eigenen Kreises kaum noch nachvollziehbar ist. Da bin ich selbstkritisch und wider die Gleichschaltung. Wie kann ich jemand in einen Kreis einladen, der eine Geheimsprache spricht? Das macht es schwierig. Mein Anliegen: Ich möchte mein Denken nahe an der Bibel ausrichten, aber mich nicht in einer Subkultur verheddern.

Was ich sage und wie ich es sage, sollte m.E. weniger mit meiner Erkenntnis, Tradition oder Gepflogenheiten zu tun haben, als mit dem, was meinem Gegenüber am meisten dient, damit er oder sie zu Christus hinwachsen kann (analog Eph 4,15-16). Lebendiger Glaube richtet sich auf Gottes Liebe, wie das Evangelium darüber schreibt, und wie sie das Gegenüber erreicht. Die Sprache Kanaans dagegen ist nur Ausdruck eines (sehr menschlichen) religiösen Verhaltens und dient deshalb lediglich «zur Befriedigung des eigenen Fleisches» (Kol 2,20-23), wie es der Apostel Paulus beschreibt.

Sprache drückt religiöse Gefühle aus.

Dekonstruktion oder Rekonstruktion?

Selbstverständlich wird schon sehr lange versucht, die Bibel in der aktuellen Sprache zu übersetzen, Brücken zur heutigen Kultur zu bauen sowie auf die Sprache von heute zu achten. Einfach ist das jedoch nicht. So mancher Evangelikale befürchtet, dass dadurch die Essenz der Bibel verloren geht (das lässt sich z.B. in diesem Video von Prof. Harald Seubert «Wahrheit ist nicht dekonstruierbar: Kritik am Postevangelikalismus» gut nachzuvollziehen). Wir werden nicht darum herumkommen, die Bibel ernst zu nehmen, die Worte abzuwägen, während gleichzeitig die Wörter für die Zuhörer eine Bedeutung haben müssen. Durch diese Anstrengungen wird die Schrift nicht bedeutungslos, sondern die Bedeutung wird aufgespürt. Floskeln irgendwelcher Ansichten jedoch haben keine Kraft.

Floskeln haben keine Kraft.

Hier ein Beispiel: Wenn Paulus in Athen auf dem Markt ist, spricht er mit vielen Menschen. Paulus erklärte Ihnen «Jesus und die Auferstehung» und verkündigte diese Kombination als Evangelium (Apg 17,18). Paulus wurde darauf als «Schwätzer» bezeichnet. Verschiedene Philosophen laden ihn ein, das Evangelium einmal genauer zu erklären. Paulus macht das beim Areopag. Er erklärt das Evangelium, jedoch bezieht der Apostel sich laufend auf die Welt der Griechen, damit er irgendwo einen Anknüpfungspunkt findet. Wir lesen diese Geschichte in Apostelgeschichte 17,16-34). (Mehr dazu auch im Beitrag: «Kulturverweise».)

Als Resultat seiner Rede lesen wir:

«Als sie jedoch von der Auferstehung der Toten hörten, spöttelten die einen, die anderen sagten: “Über diese Sachen wollen wir dich nochmals hören”. So ging Paulus aus ihrer Mitte fort.»
Apg 17,32-33

Die Rede von einer «Auferstehung der Toten» hat die Stimmung gekippt, wie bereits auf dem Markt. Nicht jeder hat Paulus zugestimmt. Das ist auch heute noch die Realität. Einige aber glaubten:

«Einige Männer, die sich ihm anschlossen, kamen zum Glauben. Unter denen war auch Dionysius, der Areopagite, eine Frau namens Damaris und noch andere mit ihnen.»
Apg 17,34

Entscheidend für das Thema dieses Beitrages ist, dass Paulus sich grosse Mühe gemacht hat, für die Athener verständlich zu sprechen. Dabei hat er Verweise auf die aktuelle Kultur in Athen gemacht, jedoch ebenso klar auf die eigentliche frohe Botschaft zu verweisen. Paulus hat nichts dekonstruiert.

Dekonstruktion betrifft nicht immer die Bibel selbst – wie es viele Evangelikale befürchten –, sondern eher den Annahmen über die Bibel, beispielsweise durch evangelikale Ideologien. Positive Rekonstruktion kann stattfinden, wenn wir die Bibel ernst nehmen, jedoch ebenso der Sprache Kanaans und den darin verankerten ideologischen Ansätzen gebührend kritisch und selbstkritisch gegenüberstehen. Das Ziel ist keine Dekonstruktion, sondern eine Rekonstruktion ohne Floskeln – damit ich wieder das Wort verstehe und mit Dir und mir ins Gespräch komme. Nicht mehr nur in Schwarz und Weiss zu denken, sondern Farben wahrzunehmen ist das Ziel.

Vertiefung

  • Kennst Du Beispiele dieser Sprache Kanaans?
  • Warum verstehen viele Menschen die christliche Geheimsprache nicht?
  • In Broschüren zur Evangelisation wird häufig versucht, die eigene Geheimsprache für andere verständlich zu machen (Sünde ist … Gericht ist … Gnade ist …). Ginge es auch anders?
  • Wie können wir die Sprache Kanaans vermeiden? Das geht nicht ohne Selbstreflexion, wie auch nicht ohne eine Auseinandersetzung mit den eigenen «Floskeln». Ein Beispiel: Anfangs wurde der Begriff «Sünde» genannt. Dieses Wort ist extrem aufgeladen mit allen möglichen Ideen, die der Bibel fremd sind. Insbesondere wurde und wird das Wort mit Sexualität verknüpft. Eine biblische Betrachtung kann beispielsweise herausschälen, dass das Wort am ehesten mit «Zielverfehlung» zu tun hat. Das nun ist eine gute, neutrale und vor allem biblisch begründete Handhabe dafür, neu über den Begriff nachzudenken. So lassen sich Brücken bauen.